Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten. Günter Billy Hollenbach

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach


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      Tatsächlich malt sie bedächtig bloß ein geschwungenes J links neben den Smiley.

      „Habe ich das richtig gehört, Du heißt Janina?“

      „Ja.“

      „Na schön, Janina. Also war dein Besuch hier nicht ganz vergeblich. Da, Du musst mit in den Flur kommen. Die Briefkästen sind da drin.“

      „Weiß ich.“

      Sie geht zögernd zu den bauchhoch in einer L-Form angeordneten Briefkastenreihen, schaut flüchtig zu mir, wie um sicher zu sein, dass ich ihr nicht zu nahe komme. Ihr Blick streift unruhig über die Klappen mit den Namensschildern.

      „Acht, er wohnt im achten,“ stellt sie halblaut fest.

      Mit dem rechten Zeigefinger tappt sie fahrig von oben nach unten an den Briefkastenklappen unter der Zahl Acht entlang bis hinab zur letzten. Sie wiegt sich verlegen in den schmalen Hüften, dreht den Kopf fahrig in meine Richtung, zieht enttäuscht den Mundwinkel zur Seite.

      „Blöd.“

      Ich tippe auf den richtigen Briefkasten.

      „Hier, Marx.“

      „Stimmt, ist so klein, die Schrift.“

      Sie hebt den Deckel an, schubst den Zettel erleichtert hinein.

      „Okay. Hast Du es weit bis nach Hause?“

      „Nöh.“

      Ich gehe mit ihr zurück bis vor die Tür, warte, während sie langsam die Stufen hinabsteigt.

      „Wohnst Du hier in Steinbach, Janina?“

      „Ne, drüben in Weißkirchen.“

      Ohne hinzusehen schnappt sie den losen Ohrhörstecker und schiebt ihn in ihr rechtes Ohr. Ihre Art, mir anzudeuten, dass ich entlassen bin. Sie ergreift das Fahrrad am Sattel, klappt den Seitenständer ein, dreht mir flüchtig den Kopf zu und schwingt sich in die Pedalen. Ohne zurückzuschauen, zieht sie die Schultern hoch und fährt davon.

      Es gibt Ereignisse, die gehen dir unter die Haut.

      Obwohl du dich, wie ich, bereits sechzig Jahre auf dieser Erde umtust. Du denkst, so leicht haut dich nichts mehr um. Weil du – gerade in letzter Zeit – Dinge erlebt hast, die Nerven kosten, Angst machen, sogar das eigene Leben in Gefahr bringen. Durch Zufall oder mit Absicht. Auch dank einer Kriminalhauptkommissarin als Lebenspartnerin.

      Dank ihres Einflusses bin ich bei manchen Dingen abgebrühter geworden. Abgestumpft hat es mich nicht, glaube ich jedenfalls. Die Bandbreite meiner Gefühle hat zugenommen. Gelegentlich spüre ich, dass ich empfindlicher geworden bin für das Leid von Menschen, zumal wenn ich ihm unmittelbar begegne. Und nachsichtiger bezüglich Irrtümern und Fehlverhalten.

      Früher kamen mir schneller abfällige Bemerkungen, laute Zurechtweisungen oder auch beleidigende Sprüche über die Zunge. Jetzt rede ich mit mehr Bedacht, achte stärker auf meine Intuition. Erfahrung ist ein wertvoller Lehrmeister. Als Organisationsberater einer Consulting-Firma habe ich länger als zwanzig Jahre namhafte Zulieferbetriebe für den Automobilbau im In- und Ausland betreut.

      Seit gut vier Jahren verdiene ich mein Geld als freiberuflicher Verhaltenscoach. Das gestattet mir einen komfortablen Umgang mit der Arbeitszeit. Auch ohne psychoanalytisches Gefasel, das mir stets zuwider war, vermittelt das Coachen mir immer wieder lehrreiche Einblicke in die inneren Befindlichkeiten von Mitmenschen. Eigenen Abstand zu ihren Seelenfalten zu wahren gehört zu meiner Berufsauffassung als bekennender Anhänger des Neurolinguistischen Programmierens in Verbindung mit Energie-Arbeit.

      Mein Verhalten im Alltag hat sich verändert. Rüpeleien oder gar Bösartigkeiten von Mitmenschen nehme ich beinahe sportlich als Denkanstöße; selbstverständlich auch als Aufforderung zum Selbstschutz. Aber erst in zweiter Linie als Anlass zum Einschreiten oder gar Zurückschlagen. Abwarten gilt mir als Zeichen von Umsicht, nicht von Unentschlossenheit. Mit Zögern hat das wenig zu tun. Wenn nötig, entscheide ich sehr schnell. Etwa, wenn jemand mich angreift. Dafür halte ich mich ordentlich fit und beweglich.

      Seit einem Jahr habe ich – ausgelöst durch sehr unschöne Erlebnisse – eine neue Einstellung zum Umgang mit Schusswaffen entwickelt. Auch das gehört für mich zur Lernfähigkeit. Früher war ich Kriegsdienstverweigerer. Heute besitze ich eine amtliche Waffenerlaubnis und bin ziemlich gut im Umgang mit Pistolen.

      Meine Hauptkommissarin kann es bestätigen.

      Wie gesagt, manche Ereignisse gehen mir dennoch unter die Haut.

      Nicht das Geschehen selbst. Die Menschen darin berühren mich. Die mit ihrem Tun immer wieder Rätsel aufgeben. Etwa, wie sie ihr Leben in Verschweigen, Lüge und Täuschung einrichten. Und unbeirrbar darauf vertrauen, damit durchzukommen. Aber fast zwangsläufig scheitern; über kurz oder lang, mal erbärmlich, mal grausam.

      Es braucht Genauigkeit, um zu unterscheiden, ob die Menschen oder die Umstände verantwortlich sind für das, was geschieht. Um Wegmarken zu finden, an denen eine Person hätte anders handeln können. Wo alles zu einem guten Ende hätte führen können.

      Vielleicht.

      Oft kommen solche Gedanken später, manchmal zu spät. Weil du längst Teil des Geschehens bist. Es erfasst dich, lässt dich nicht mehr los. Eine ungewöhnliche Beobachtung, eine überraschende Bitte; du gehst darauf ein, zunächst aus reiner Gefälligkeit. Eh du dich versiehst, stehst du betroffen da; begreifst vor allem, wie wenig du verstehst. Siehst nur Schatten von Menschen, findest Spuren ihrer Taten, die zu Bruchstücken hilfloser Einsicht führen. Und gelegentlich einem gehörigen Maß an Trauer.

      Samstag, 13. Juli

      „Fühlen Sie sich in der Lage, Fragen zu beantworten, Herr Berkamp?“

      „Ja klar, fragen Sie; ich bin Kummer gewöhnt.“

      „Wie darf ich das verstehen?“

      „Meine Frau ist Hauptkommissarin im K 11 im Präsidium in Frankfurt.

      Da bleibt es nicht aus ...“

      „Wie heißt die Dame?“

      „Sandner, Corinna Sandner. Haben Sie schon mit ihr zu tun gehabt?”

      „Nicht dass ich wüsste. Könnte sich jetzt ergeben.“

      „Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Lassen Sie uns mit der Todeszeit beginnen. Die kann ich nämlich ziemlich genau angeben, Herr Garster. Sie sind ... Polizei...Obermeister?“

      „Ja, bin ich. Schön, dann fangen wir damit an.“

      Ein schlanker Beamter von der Dienststelle Oberursel, Polizeidirektion Hochtaunus, in dunkelblauer Uniform mit Schutzweste.

      Der Mann, vielleicht Mitte dreißig, mindestens einmeterfünfundachtzig groß, macht einen freundlichen Eindruck. Sein Ton ist verbindlich, sein Verhalten geschäftsmäßig, unaufgeregt. Angesichts der Umstände finde ich das wohltuend. Wir sitzen uns in einem silbern, blau und hinten giftgrün lackierten Mercedes Viano Polizeikleinbus gegenüber.

      POM Garster hat mich das Einverständnis zur Befragung als Zeuge unterschreiben lassen, meine Personalien aufgenommen, sich mehrere Notizen gemacht. Jetzt tippt er geruhsam in einen Formularbogen auf seinem Laptop-Computer, der zwischen uns auf einem schmalen Klapptisch summt.

      „Wir könnten es auch auf Papier tun; aber ich mag das lieber elektronisch,“ erklärt der Beamte beinahe entschuldigend. Draußen ist es zwar noch taghell. Aber im Schatten der hohen Bäume vor unseren Wohnblocks und hier im Fahrzeug mit den abgedunkelten Seitenscheiben bleibt davon kaum etwas übrig. Das Deckenlicht und eine kleine schwenkbare Arbeitsleuchte verbessern die Sichtverhältnisse nur mäßig. Was soll ’s; solange Garster die Buchstaben


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