Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten. Günter Billy Hollenbach
Grenzen zu diesem Haushalt.
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Für andere mag es abgedroschen klingen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Schicksal uns zusammengeführt hat. Mona und mich sowieso. Und Mahina. Die lebt seit knapp fünf Wochen ebenfalls bei uns. Anrüchig, unmoralisch, verwerflich? Möglich. Na und?
Für uns einfach liebevoll.
Durch ihre Nahtod-Erfahrung nach dem Angriff der „Rache-Hexe“ stieg Monas Interesse an übersinnlichen Erscheinungen beträchtlich. Vor allem deshalb hat sie Mahina kurzentschlossen zu uns eingeladen. Für die war das ein willkommener Anlass, Kalifornien hinter sich zu lassen. Als hätte sie darauf gewartet.
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Mahina ist hawaiisch und bedeutet „Mond“, auch „Mond-Göttin“.
Mit ihren kurzen, pottschwarzen Haaren, einem Hauch von Olivefarbe in der Haut und etwas exotisch anmutenden, dunklen Augen wird sie gelegentlich für eine Spanierin oder Mexikanerin gehalten. Obwohl sie mit gut Einmetersiebzig größer und schlanker als die typischen Vertreterinnen dieser Länder ist.
Amtlich gilt sie als Amerikanerin. Ihr Reisepass mag das behaupten.
Sie selbst weist es entschieden zurück.
Mahina „Mai“ Ling ist mit Leib und Seele Hawaiianerin.
Gelegentlich auch ungefragt klärt sie Gesprächspartner auf. Schließlich wurde ihr Heimatland mit seinen acht Hauptinseln mitten im Pazifik seit etwa 1820 von rücksichtslosen, habgierigen amerikanischen Landräubern und Missionaren bevölkert, ausgeplündert, wenig später rechtswidrig von den USA in Besitz genommen, mit weiträumigen Militärstützpunkten übersät und viele seiner traumhaft schönen Strände durch Hoteltürme für Touristen verschandelt.
Mahina findet, sie hat gute Gründe, daran zu erinnern.
Geboren wurde sie in Lahaina auf Maui, der zweitgrößten Insel. Als was wohl? Als entfernter Spross eines bigotten, puritanischen, deutsch-amerikanischen Missionars und seines eingeborenen Dienstmädchens. Und deren Kindern, die einen Schuss Blut chinesischer Plantagenarbeiter in den Adern hatten.
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Begegnet sind wir zwei uns voriges Jahr im Oktober in San Francisco. Nachdem ich zufällig die fünfjährige Janey Wong davor bewahrt habe, entführt zu werden. Als Dank schenkte mir deren Familie Personenschutz und die Einführung in eine alte, chinesische Nahkampflehre. Die Trainerin hieß Mahina Ling. Bald verband uns mehr als die schüchtern eingestandene Zuneigung auf den, ich gestehe es, meinerseits zweiten Blick. Zunächst konnte ich mein Glück kaum fassen. Eine Frau, immerhin achtzehn Jahre jünger als ich, mit beeindruckenden Fähigkeiten und einem Aussehen, das die Titelseite jeder Frauensportzeitschrift zieren könnte.
Mahina wusste von Anfang an, was sie an mir hatte. Mir fiel schwer zu glauben, dass sie allein lebt. Bis sie mir am dritten Tag offenbarte, was uns verbindet. Es war wie ein Blitzschlag, nur ohne Donner. Und hat mich erschüttert, gerührt, beglückt und ernüchtert. Ungefähr in der Reihenfolge, verteilt über zwei, drei Tage.
Mahina und ich teilen – in unterschiedlicher Stärke – das Schicksal „höherer“ sinnlicher Empfindsamkeit; landläufig als Hellsichtigkeit bezeichnet. Ihre Sinneskanäle sind weiter offen als meine. Sie ist, einfach gesagt, nahezu dauerhellsichtig, obendrein mit einem Intelligenzquotient von 160 geschlagen.
Toll? Nein. Wirklich kein Grund, neidisch zu werden.
Das Leben mit diesen Fähigkeiten ist alles andere als ein Vergnügen. Nur wer die uns vorbehaltenen Fegefeuer aus eigenem Erleben kennt und oder den Alltag mit einem solchen Menschen teilt, vermag zu ermessen, welche Seelenpein diese „Gabe“ bereiten kann. Ungezählte Menschen empfinden den Bummel durch ein belebtes Einkaufszentrum als überwiegend vergnügliches Erlebnis. Für Mahina grenzt er an Spießrutenlaufen. Zumal wenn sie müde oder hungrig ist, ihre Aufmerksamkeit nicht voll im Griff hat. Ungewollt hört sie die Gedanken der Menschen um sich herum. Die schlechten und traurigen deutlicher als die heiteren und glücklichen. Was sie empfängt sind äußere, fremde Signale, kleine Einbildung.
Sie hat sich mehr als einmal testen lassen.
Ähnlich geht es ihr, wenn sie ihren „Röntgenblick“ nutzt, um die Energiezentren, die sogenannten Chakras, fremder Menschen zu betrachten. Selten eine schöne Sache. Ungewollt erkennt Mahina darin Teile von deren Lebensgeschichte sowie gesundheitliche oder seelische Störungen. Folglich meidet sie, wenn möglich, größere Menschenansammlungen.
Was tust du, wenn dir ungewollt Hinweise zuteil werden auf ein großes Missgeschick, das in naher Zukunft einen Menschen treffen wird, der dir viel bedeutet? Warte; denk nach, bevor du leichtfertig antwortest. All das mag dazu beitragen, dass Mahina in der Begegnung mit fremden Menschen zurückhaltend, fast schüchtern wirkt.
Ihren Kampfsport übt sie mit Inbrunst aus. Er hilft ihr, die Sinne zu beruhigen und zu steuern. Manchmal denke ich, sie kämpft dabei auch gegen die Dämonen, die sie in bösartigen Menschen entdeckt.
Mit ihrem Alleinleben hatte Mahina sich in San Francisco einigermaßen eingerichtet. Das konnte ich nachvollziehen. „Normale“ Menschen begegnen der übersinnlichen Gabe mit Unverständnis und Angst. Deshalb sprechen wir mit ihnen höchst selten darüber. Du wirst hinterrücks für unheimlich oder plemplem gehalten. Und bekommst kaum eine zweite Chance, zu erklären, dass viele Kinder und in geringerer Zahl Erwachsene zu höheren, nichtalltäglichen Sinnesleistungen fähig sind. Folglich entwickelst du eigenwillige Maßstäbe für in Frage kommende Beziehungspartner.
Corinna hatte mit meinen „Intuitionen“ ebenfalls ihre liebe Last.
Mahinas privater Umgang beschränkte sich auf wenige Personen, die ihr vertraut waren. Sie hockte gern daheim, las bergeweise Bücher im Schnelldurchlauf oder fuhr auf ihrer Harley-Davidson nachts dem Mond hinterher. Für sie war ich ein Geschenk des Himmels.
Und ich, der sonst Urlaubsflirts entschlossen aus dem Weg geht, fühlte mich unwiderstehlich in Mahinas Bann.
Wenn sie dir gestattet, ihr näher zu kommen, und du dich darauf einlässt, entdeckst du eine einmalig faszinierende Frau. Sie zieht die Blicke nicht auf sich. Vielleicht dank des unsichtbaren Energieschutzrings, den sie um sich herum aufgebaut hat. Denn wer genau hinschaut, entdeckt ihre prima Figur und ihr sehr hübsches Gesicht. Mahina schafft es, regelmäßig unterschätzt zu werden. Ihr ist es recht. Sie setzt sich nicht in Szene, schminkt sich kaum, trägt meist unauffälliges Dunkelgrau; Jeans, Lederblouson. Damit böse Geister es schwerer haben, sie zu finden, hat sie mir anvertraut. Bei älteren Hawaiianer und vielen Indianervölkern lebt diese Überzeugung fort.
Mahina macht nicht einfach Kampfsport. Sie trainiert „Ba-Gua“.
Und „Fa Jin“. Das treibt „Ba-Gua“ auf eine gespenstische Spitze.
Beides beherrscht sie wirklich.
Eine seltene chinesische Kampfsportart, abgeleitet aus der Tai-Chi-Tradition. Sie folgt – anders als Kung-Fu – nicht der Lehre des Feuers; wilde Sprünge, harte Schläge, schnelle Tritte.
Sondern der Lehre des Wassers. Die setzt vor allem auf Atmung, entspannte Haltung und kleine Bewegungen mit Händen und Armen. Äußerlich macht das nicht viel her. Es braucht ausdauerndes, jahrelanges Training. Vor allem für das gefährlichere „Fa Jin“. Man baut mit Willenskraft Energie im Körper auf und schießt sie blitzartig in kleinen, gerichteten Bewegungen auf den Gegner, scharf wie ein Meißel.
Das widerspricht fast allem, was die meisten Leute unter Kampfsport verstehen. Und hinterlässt ratlose Ärzte, die keine vernünftige Erklärung finden für Knochenbrüche oder innere Verletzungen ohne die gewöhnlichen, äußeren Schlagwunden. Beispielsweise bei Leuten, die trotz Warnung nicht glauben wollen, dass es unklug ist, Mahina dumm zu kommen. Also meist bei Männern, die es als ihr natürliches Recht betrachten, eine gut aussehende, einzelne Frau anzumachen. Erst mit anzüglichen Sprüchen, dann –