Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten. Günter Billy Hollenbach

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach


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berufen, sein bisheriges Leben umzukrempeln, als müssten wir ein Unrecht aufklären.“

      Er starrt auf den Computerbildschirm, oder durch ihn hindurch.

      „Wer weiß; der Kerl war vielleicht krass depressiv, hoffnungslos in Liebeskummer versunken oder litt an einer unheilbaren Krankheit. Also schließt er sich in seiner Bude ein, besäuft sich ordentlich, und schickt sich und sein Unglück auf die Reise ins Jenseits. Tja, was soll man da tun? In Bad Homburg sitzt unsere Kriminalpolizei. Kann nicht schaden, wenn die sich eine Meinung bilden.“

      POM Garster tippt eine Weile in den Computer. Ohne aufzuschauen, bemerkt er:

      „Ich denke, wir sind soweit fertig, Herr Berkamp. Natürlich können sich neue Fragen ergeben, vor allem, falls die Homburger Kollegen auf etwas stoßen, was Zweifel am Hergang des Geschehens weckt. Danke erst mal für Ihre Aussage.“

      Ich stehe bereits neben der Wagentür, als er mir nachruft:

      „Übrigens, ich habe noch eine Bitte, aber auch nur, weil Ihre Frau im Frankfurter K 11 arbeitet. Unsere Art zu denken dürfte Ihnen nicht fremd sein. Falls Sie in nächster Zeit etwas Ungewöhnliches im Zusammenhang mit der Wohnung im achten Stock oder um diesen Herrn Marx herum bemerken, oder wenn Sie im Gespräch mit Nachbarn etwas hören, was interessant sein könnte, ich will damit sagen, man weiß nie, welche Merkwürdigkeiten bei einem solchen Todesfall auftreten können. Rufen Sie ruhig an. Bei mir oder den Kollegen in Bad Homburg.“

      „Ist recht. Übrigens, das Tischtuch, kann einer von Ihnen das bitte in den Müll werfen? Ich nehme es nicht mehr zurück.“

      „Kein Thema. Würde ich auch so machen. Also, wiedersehen, Herr Berkamp.“

      „Tschüss, Herr Garster, und noch einen guten Abend, falls das geht.“

      *

      Marx, Wilfried Marx. Einige Schritte weg von dem Polizei-Kleinbus fällt es mir wieder ein. Das Mädchen auf den Geländefahrrad hat nach ihm gefragt; gestern, nein, vorgestern, Donnerstag.

      Unwillkürlich bleibe ich stehen.

      Ob das wichtig ist für die Polizei?

      Nöh, kann ich mir nicht vorstellen. Zumal ich außer einem Vornamen, Jana oder Janina, nichts über das Mädchen und seine Beziehung zu dem toten Marx weiß.

      Um kurz nach zehn bin ich zurück in meiner Wohnung; Sommerzeit, die Uhr um eine Stunde vorgedreht. Die Dämmerung kommt schnell näher. Dennoch vermeide ich es, das Wohnzimmerlicht einzuschalten.

      Zu alldem bin ich heute allein.

      Na, bestens. Für einen Samstagabend kann ich mir einen angenehmeren Zeitvertreib vorstellen. Ein Mensch, eigentlich nur ein Schatten, fällt draußen an deinem Balkon vorbei. Eine Stunde später stehst du wieder im Wohnzimmer, und das Geschehen spukt dir im Kopf rum. Aus dem achten Stockwerk bis dort unten ist es ziemlich tief.

      Der Vorfall selbst hat mit mir nicht das Geringste zu tun. Doch sein Nachspiel verschafft mir ein graues Druckgefühl in der Magengegend. Und macht nachdenklich. Beziehungen, Vergänglichkeit, Leben und Sterben im Hochhaus.

      Meine „Mond-Göttin“ würde nur mit den Schultern zucken, wäre sie jetzt hier. Und erklären: Das wäre nicht passiert, wenn es keine Hochhäuser gäbe. Also, wer trägt letztlich die Schuld?! Sie und ihre bestechende Logik. Und ihre einmalige Art, trübe Gedanken zu verscheuchen.

      Tatort Hochhaus.

      Ein Mann, allein. Er fällt; einfach so? Wohl eher, weil er sich selbst hinabstürzen ließ. Wenn keiner nachgeholfen hat. Wieso macht der Mann das, vermutlich nicht einmal vierzig Jahre alt? Was könnte mich dazu bringen? ... Nichts und niemand.

      Zufällig siehst du ihn abwärts fliegen, traust erst deinen Augen kaum, stakst erschrocken auf den Balkon. Tatsächlich, da unten liegt ein Mensch, still und reglos, gehört dort nicht hin, schon gar nicht in eine sich ausbreitende dunkelrote Lache. Ohne langes Nachdenken gehst du zum Telefon, schnappst das Tuch vom Küchentisch, eilst das Treppenhaus hinab und denkst „Friede seiner Seele“.

      Der notwendige Rest geht seinen ordnungsgemäßen Gang.

      Beinahe.

      Polizeiobermeister Garster gegenüber habe ich die Dinge etwas gerader gerückt als sie sind. Meinem Ansehen bei ihm dürfte es nützen. Für den Umgang mit dem „Fall“ Marx ist es unerheblich. Corinna Sandner, Kriminalhauptkommissarin im K 11, „Kapitaldelikte“, des Polizeipräsidiums Frankfurt, umgangssprachlich zuständig für Mord und Totschlag, ist nicht mehr meine „Frau“, neuzeitlich Lebenspartnerin. Seit ein paar Wochen nur noch meine liebe Freundin. Nennen wir es eine weiterhin vorzügliche Beziehung. Denn trotz ihrer Vorliebe für das Alleinzubettgehen verbinden Corinna und mich ein schwer zu erschütterndes Vertrauen.

      Und Mona, ihre Tochter.

      Die bestand nach dem Auszug der Mutter darauf, weiterhin bei mir zu wohnen. Alt genug für die Entscheidung ist sie. Fünfundzwanzig Jahre. Ich war darüber mehr als erfreut. Denn vom Augenblick unserer ersten Begegnung an, vor über einem Jahr, mochte ich Mona sehr. Auch dank ihrer attraktiven Erscheinung und patenten Art.

      Grüne Augen, mahagonirote Haare. Reicht das?

      Ihrer Mutter nicht unähnlich; eben die Tochter. Im Aussehen, ja. Im Wesen? Na ja; zum Glück. Die meiste Zeit erlebe ich Mona als gradlinige, umgängliche Frohnatur; was durchaus erstaunlich ist. Denn verglichen mit anderen jungen Frauen wuchs sie mit den Heimsuchungen eines nichtalltäglichen mütterlichen Berufs auf. Dazu zählen die regelmäßige Befassung mit menschlichen Scheußlichkeiten, zu Misstrauen neigendes Denken, nur in Grenzen planbare Dienstzeiten sowie eine höhere Gefahrengeneigtheit.

      *

      Es gibt Erfahrungen, die dauerhaft verbinden.

      Endgültig besiegelt wurde unsere Beziehung vor über zwei Monaten. Als eine fremde Frau bei einem unerwarteten Racheangriff Mona mit einem Messerstich übel am Hals verletzte. Beinahe wäre sie unter meinen Händen verblutet. Dank tragischer Ereignisse kurz zuvor befand ich mich in der Nähe, presste in Panik eher schlecht als recht gegen die blutspeiende, pulsierende Halsschlagader. Bis Notärzte eintrafen und übernahmen. Buchstäblich in letzter Sekunde.

      Seit dem Nachmittag liebe ich Mona grenzenlos, bedingungslos.

      Als Geschenk des Lebens, als Kumpel, Freundin, Tochter, Klassefrau.

      Was auch immer.

      Aus tiefstem Herzen. Ohne Sex.

      Obwohl ihre Mutter das nicht glauben will.

      Mona ist wieder kerngesund – soweit man sieht, jedenfalls –; hat ihre lebensbejahende Heiterkeit weitgehend zurückgewonnen. Ihren Schlag für ältere Männer hat sie schon früher freimütig gestanden. Gelegentlich neckt sie mich mit der Feststellung, ich sei rundum gut in Schuss, eine Frau im besten Alter. Ich höre es gern und winke innerlich ab.

      Passt alles bestens; beinahe kitschig. Oberflächlich betrachtet.

      Von wegen.

      Kesse Sprüche und ein verschmitztes Lächeln sind das eine. Das andere ist, was sie verdecken. Bekanntlich besteht ein feiner, aber entscheidender Unterschied zwischen zusammen und miteinander schlafen. Mona und ich haben dazu ein wetterfestes Einvernehmen. Seit ihrer Rückkehr aus der Klinik nächtigt sie dort, wo wenige Wochen vorher ihre Mutter schlief. Wir kommen gut damit klar, sprechen nur noch selten darüber. Mona nicht, ich von mir aus sowieso nicht.

      Sie mag nachts nicht allein sein. Wir wissen beide bescheid. Noch nach über einem Jahr leidet ihr Innenleben unter einer Beziehung, die als vermeintliches Liebesverhältnis begann. Und mit einer brutalen Vergewaltigung endete.

      Mehrere Monate bevor wir uns erstmals begegnet sind.

      So weit, so – halbwegs


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