Domino I. Mario Worm

Domino I - Mario Worm


Скачать книгу
zur Tradition erklärt worden war. Kurz nach Mitternacht nahm Hitler die Glückwünsche seiner Ordonanz entgegen. Es war sein sechsundfünfzigster Geburtstag. Welch ein Unterschied zu den vorangegangenen. Keine prunkvollen Feierlichkeiten, kein von Goebbels inszeniertes Trara. Stattdessen: trübe Stimmung im Berliner Führerbunker. Beschwört hatten sie ihn: »Mein Führer, Sie müssen Berlin verlassen!« Selbst Bormann vertrat diese Meinung. Martin Bormann, der Vertraute, der alles zu wissen schien, der ihm jeden Wunsch von den Lippen ablas, der Getreueste, quasi die Ersatzmutter. Berlin verlassen? Niemals! Da sitzt er nun, der größte Führer aller Zeiten, allein an seinem großen Eichentisch und sinniert über vergangene Zeiten. Er, Adolf Hitler, er, der die Idee des Nationalsozialismus erst propagierte und dann verwirklichte. Er, dem das deutsche Volk eine glückliche Zeit im Urlaub durch die Organisation »Kraft durch Freude« zu verdanken hatte. Er, der neuen Lebensraum für sein Volk forderte. Er, der den Bauingenieur Fritz Todt zum Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen ernannte und mit dem Bau von 14 000 Kilometer Reichsautobahnen die Leute von der Straße holte. Arbeiten statt Stempeln! Er, der im Dezember 1938 das »Ehrenkreuz der Deutschen Mutter« gestiftet hatte und es am Muttertag, an »arische und verdiente« Mütter durch die Ortsgruppenleiter verleihen ließ. Er, er, er, ja er! Und mit Ihm die Vision des Deutschen Nationalsozialistischen Reichs. Sie hatten Ihm viel zu verdanken! Der neue Lebensraum, die Endlösung, die Vernichtung einer minderwertigen Rasse, alles das schien doch einmal in so greifbarer Nähe. Und heute? Der Russe hatte nach heftigen Kämpfen die Oder überquert, die Seelower Höhen erobert und kurz vor Marzahn Stellung bezogen. Die Deutschen haben versagt! General Wenk mit seiner 12. Armee und SS-General Steiner mit seiner Armee- gruppe, die Berlin entsetzen sollten, hatten jämmerlich versagt. Wo sind sie geblieben? Nur Verrat. Verrat von den feigen Offizieren, Verrat vom eigenen Volk, das ihn und seine Ideen nicht verstanden hat. Häuserkampf. Den Russen wird niemand aufhalten. Kein Außenring, kein Unterwassersetzen der U-Bahn, kein Moltke, niemand. Am Vormittag des darauffolgenden Tages die nächste, vernichtende Meldung. Friedrich Anton Gundelfinger, der erfahrene Pilot, abgestürzt auf dem Weg nach Bayern, auf dem Weg in seine geliebten Berge. Die Junkers 352 abgestürzt, kurz vor Dresden. Beim Versuch einer Notlandung zerschellt die Maschine auf einem Feld nahe dem sächsischen Ort Börnersdorf. Der getreue Pilot tot. Und mit ihm verbrannten die persönlichen Sachen! Bunker, Verstecken, Kapitulation – niemals! Ein letzter Anruf auf dem Berghof. Die Auskunft schmettert ihn endgültig nieder. »Mein Führer, hier gibt es keinen Strom, kein Wasser, selbst keine Toiletten mehr. Der Berghof ist quasi außer Betrieb.« Eine Notlüge aus Angst vor den herannahenden Amerikanern. Aber diese Lüge verfehlt ihre Wirkung nicht. Hektische Vorbereitungen. Er wird Berlin nicht verlassen! Was diese Möchtegernoffiziere im Juli 44 nicht erreicht hatten, wird er nun selbst vollziehen. Das deutsche Volk ist seiner nicht wert. Eva, lange versteckt, nun soll ihr noch einmal Ehre zuteilwerden. Sie wird den Namen Hitler tragen, seinen Namen und sei es auch nur für kurze Zeit. Die Farce der Bunkerhochzeit mit Bormann und Goebbels als Trauzeugen. Entrüstung, als der hastig herbeigeholte, ohnehin schon vor Angst zitternde Standesbeamte pflichtbewusst nach der arischen Abstammung fragt und Goebbels, außer sich, betont: «Was für eine Frage? Das ist der Führer!« Ja, was für eine Frage. Er selbst, Adolf Hitler hatte am 30. Januar 1939 vor dem Reichstag die Vernichtung der »Jüdischen Rasse« in Europa angekündigt. Verwirklichung der Beschlüsse der Wannseekonferenz, die Endlösung der Judenfrage. Und nun muss er getreu den Nürnberger Rassengesetzen dem auf den äußersten, peinlich berührten Beamten seine Reinrassigkeit bekunden. Welch eine Farce beim Gedanken, dass der Russe nur noch wenige Kilometer vor sich hat. Im Angesicht der letzten Stunden ist alles geregelt. Das politische Testament ist vorbereitet, Goebbels als Nachfolger ernannt. Er wird dieses Amt nur Stunden ausführen und danach die Befehlsgewalt an Dönitz weitergeben. Die Geschehnisse überschlagen sich in den letzten Stunden des Dritten Reichs! Eingeschlossen in seinem Privatgemach stiehlt sich der größte Führer aller Zeiten aus der Verantwortung. Ein Schuss fällt an diesem 30. April 1945. »Der Führer ist im aufopferungsvollen Kampf fürs deutsche Vaterland gefallen ...«, tönt der »Großdeutsche Rundfunk«. Die Wirklichkeit sah anders aus, wie der persönliche Adjutant Günsche und der Kammerdiener Linge in Vernehmungen durch den russischen Geheimdienst wussten. Waren beide doch diejenigen, die nach dem Schuss das Zimmer des Führers betraten. Hitler im Sessel, die Stirn blutig, Eva liegend, vollendet, was an der Schäferhündin Blondi getestet wurde. »Meine Herren, der Führer ist tot!«, verkündet der Adjutant. Kurz darauf werden die Leichen in den Garten der Reichskanzlei geschleppt, mit Benzin übergossen, so gut es geht verbrannt und oberflächlich verscharrt. Dann kommt der Russe. Die rote Fahne wird auf dem Reichstag gehisst, der Krieg ist vorbei. Doch Stalin ist damit nicht zufrieden. Er will Hitler, tot oder lebendig! Ein Suchtrupp der Rotarmisten fand im Garten der Reichskanzlei verbrannte Kinderleichen, einen männlichen und einen weiblichen Kadaver, entstellt durch Verbrennungen. Schnell stellte sich heraus, dass es sich um die Familie Goebbels handelt. Wo aber war Hitler? Stalin tobt. Er will den Beleg seines Erfolgs, noch bevor die Alliierten ihm das streitig machen. Fieberhaft wird gesucht, bis ein Soldat mehr durch Zufall die beiden verscharrten Leichen findet und anfangs noch dafür verspottet wird. »Ja, ja Towaritsch, der Führer!« Doch Anfang Mai 1945 identifizieren russische Spezialagenten die Leichen als echt. Zum einen liegen die Zeugenaussagen von Günsche und Linge vor, zum anderen hat man die Zähne der Leiche mit einer Zeichnung des »Führergebisses« verglichen, das ein Zahnarzthelfer aus dem Gedächtnis gezeichnet hatte. Der Erfolg wird Stalin sofort gemeldet, der aber genießt und schweigt. Sollen sich die anderen doch kaputtsuchen! Ohne Leiche keine Gewissheit, ohne Gewissheit gesundes Misstrauen. Sein Triumph, der Heilige Gral, ein Teil des »Führerschädels«, verschwindet in den Archiven des russischen Geheimdienstes. Also lasst die Alliierten suchen! Im Juni desselben Jahres vergrub man die Gebeine des »Führerehepaars« zusammen mit den Leichen der Familie Goebbels in einem Waldstück bei Rathenow in Brandenburg. Doch die russische Spionageabwehr SMERSH meldet Bedenken an. Stalin wird überzeugt, dass die Gefahr der zufälligen Entdeckung in diesem Waldstück sehr hoch ist. Holzsammler, Heimkehrer oder einfach nur Kinder – die Liste der potenziellen Finder ist lang. Also lässt man die Leichen exhumieren und in der Kommandantur in Magdeburg noch einmal bestatten. 1970 wird die Kommandantur geschlossen und das Gelände der »Nationalen Volksarmee« übergeben. Der damalige KGB- Chef und späteres Staatsoberhaupt der Sowjetunion, Jurij Andropow, bekam es mit der nicht unbegründeten Angst zu tun, die Wahrheit könnte ans Tageslicht kommen und Magdeburg eine Kultstätte für Neonazis werden. Also machte sich ein Spezialtrupp des KGB im Frühjahr kurz vor der Übergabe an die DDR auf den Weg. Noch einmal werden die unliebsamen Überreste ausgebuddelt, etwa zehn Kilometer elbaufwärts von Magdeburg in einem Waldstück endgültig verbrannt und die Asche in den Fluss Ehle gestreut. Erst als die KGB-Archive im Jahr 2008 geöffnet wurden, bekommen Wissenschaftler die Möglichkeit, Untersuchungen an dem Schädelfragment vorzunehmen. Sie stellen fest, das Schädelteil stammt vermutlich von einer Frau um die zwanzig Jahre. Der Chef des neuen russischen Geheimdienst FSB bemerkt dazu, dass die Amis angeblich eine DNA-Untersuchung vorgenommen hätten. Aber selbst, wenn tatsächlich eine DNA Substanz gewonnen werden konnte, mit welcher DNA hat man sie dann verglichen? Der stellvertretende Leiter der russischen Staatsarchive, Wladimir Koslow, gibt 2009 zu, dass der von einer Kugel durchlöcherte Schädel selbst in Russland nicht als Hitlerüberbleibsel eingestuft wird, zumal er angeblich erst ein Jahr nach dessen Freitod gefunden wurde! Aber gehen wir noch einmal zurück in das Jahr 1945. Am 20. April begeht der Führer seinen 56. Geburtstag, den letzten. Heftig wird er von seinen Offizieren bedrängt, Berlin zu verlassen. Doch Hitler lehnt ab. Zu tief sitzt der Gedanke, was mit ihm geschehen könne, wenn der Russe sich seiner bemächtigt. Von der Parkinson’schen Krankheit gezeichnet, die Erlebnisse der Wolfsschanze noch vor Augen, schüttelt er den Kopf. Sein Entschluss steht fest. Ein für Ihn bereitgestelltes Flugzeug in Tempelhof wird niemals mit ihm abheben. Kurz vorher ist sein getreuer Pilot Gundelfinger über Börnersdorf in Sachsen abgeschossen worden. Was sich noch in dieser Maschine befand, wird niemals geklärt werden, da alles bis zur Unkenntlichkeit verbrannte. Hitler hat keine Kenntnis von einem dritten Flugzeug, das versteckt bei Strausberg steht. Tage später, am 23. April 1945 hat der Russe Berlin eingeschlossen! Der Schuss ist gefallen und Günsche hat’s bestätigt! Der König ist tot, es lebe der König! Der neue König macht sich sofort ans Werk. Während Magda Goebbels ihre sechs Kinder mit einem Giftcocktail ins Jenseits befördert, diktiert ihr Mann sein politisches Testament. Nur wenige Stunden nach Hitlers Tod folgen ihm die getreuen Eheleute Goebbels. Dies ist die Stunde
Скачать книгу