Domino I. Mario Worm

Domino I - Mario Worm


Скачать книгу
eher leer. Nur vereinzelt waren Touristen, meist Rentner, die der großen Kälte in ihrem Land entgehen oder einfach nur die billigen Preise der Vorsaison ausnutzen wollten, auf der Insel. Jetzt, Mitte März, war die Zeit, in der man in den Hotels die notwendigen Reparaturen ausführte oder einfach nur Vorbereitungen für die nächste Saison traf. Somit hatten auch die Zimmermädchen weniger zu tun. Erholung für die heiße Phase nannte man so etwas. Mehr Freizeit auch für Miquel, die diese jedoch auf ihre Weise nutzte. Hier im Ort gab es genügend teure Häuser, die meist von betuchten Ausländern bewohnt wurden, sei es zur Miete oder als Eigentümer. Einer von ihnen war ein alter Mann namens Paul Stubbe. Sein Anwesen befand sich knapp einen halben Kilometer vom »Club Es Talaial«, dem Hotel, in dem Miquel arbeitete. Betreten konnte man das Anwesen nur von der Straßenseite, durch das riesige, braune Holztor. Ein Schild wies darauf hin, dass dieses Objekt von der Security überwacht wurde, um Touristen, Vertreter und Hausierer begreiflich zu machen, dass sie hier nicht erwünscht waren. Ein schmaler Weg, eingerahmt von Mangrovenbäumen, führt zu der kleinen Villa, versteckt im Blätterwald, direkt am steilen Abhang der Wasserseite. Weder von der Straße noch vom Wasser aus war das Gelände einsehbar. Stubbe wollte, wenn er hier residierte, seine absolute Ruhe haben. Er verbrachte jedes Jahr den Winter auf Mallorca, kam Ende September und verließ die Insel Ende April, um die Sommermonate in seinem Haus am Starnberger See zu verbringen. Für das Inselhaus existierten zwei Schlüssel, einen hatte Stubbe, den anderen besaß Miquel. Die beiden waren sich vor gut vier Jahren in einem der vielen Restaurants des Ortes begegnet. Stubbe, der einfach nur einen Menschen zum Reden suchte, und Sances, die Zuhörerin, der der einsame alte Mann leidtat. Sie bewunderte, dass er fließend Spanisch sprach und versuchte auf Deutsch zu antworten. Durch das Gespräch über belanglose Dinge erfuhr er, dass sie als Zimmermädchen arbeitete und fragte, ob sie nicht für ein bis zwei Stunden bei ihm als Hausmädchen aushelfen könne. Anfangs zögerte Miquel aus Angst, der Alte könnte mehr von ihr verlangen, doch schließlich willigte sie ein und sie bekam monatlich fünfhundert amerikanische Dollar, genau die gleiche Summe, die sie für acht Stunden täglich im Hotel erhielt. Ihr Verdacht verflog mit der Zeit. Stubbe verhielt sich fair und zahlte meistens mehr Geld, einfach so. Mit der Zeit entwickelte sich eine Freundschaft, so gut es eben im Angestelltenverhältnis ging. Der alte, extrem verschlossene Mann taute in ihrer Gegenwart immer mehr auf und begann im Laufe der Zeit Vertrauen zu fassen. So erfuhr Miquel, dass er 1920 in Berlin geboren worden war, als Soldat den Zweiten Weltkrieg überlebt und später als Elektriker gearbeitet hatte. Angehörige hatte Paul Stubbe anscheinend keine, jedenfalls redete er nie darüber. Fragen ihrerseits danach blockte er immer geschickt ab und schließlich wurde das Thema ganz ausgespart. Ja, sie mochte den Alten und sehnte sich nach ihm, wenn er wieder seine »Sommerflucht« begann. Das alles änderte sich im November des vergangenen Jahres. Als Miquel am zehnten des Monats die Haustür aufschloss, hatte sie natürlich die Mitteilungen der letzten Nacht gehört. Doch was dort in Deutschland gerade geschah, berührte sie nicht, welchen Grund sollte sie auch haben, sich dafür zu interessieren. Der einzige Deutsche, zu dem sie näheren Kontakt hatte, saß auf seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer und stierte auf den flimmernden Bildschirm mit dem deutschen Fernsehprogramm. »Guten Morgen Señor Stubbe«, rief sie froh gelaunt. »Guten Morgen Miquel«, antwortete er eher wortkarg. Während sie sich ihre Schürze anzog, beobachtete sie ihn, wie er still vor sich hinstarrte. Es hatte den Anschein, er schaute über den Fernseher hinweg ins Leere. Miquel entdeckte die halbleere Flasche Cherry und ein Glas vor ihm auf dem Tisch.

      »Nanu Señor, haben sie gefeiert, weil Grenze weg?« Er nickt. »Ja, so kann man das auch nennen. Räum das bitte weg, es sei denn du möchtest auch einen.«

      Miquel lacht: «Nönö, Señor. Davon bekomme ich nur Kopfschmerzen.« Dienstbeflissen fängt sie an den Tisch abzuräumen und den übervollen Aschenbecher zu leeren. Erst jetzt bemerkt sie die vielen Fotos. Schwarzweiß- und Farbfotos, vorwiegend mit Kindermotiven und vereinzelt Fotos mit Männern in Uniform. Neugierig betrachtet sie die Fotos, wagt sich aber nicht zu fragen. Doch der Alte fängt von allein an zu reden, ohne dass er seinen Blick vom Fernseher wendet. »Ja, da liegt nun einfach so ein Leben und teilweise ein verpfuschtes noch dazu auf dem Tisch. Der in Uniform, das bin ich. Die anderen Fotos sind von meinem Sohn, seiner Frau und meinem Enkel.« Miquel ist erstaunt: »Sie haben Familie? Sie haben aber noch nie erzählt ...« »Viel gibt es da auch nicht zu erzählen. Mein Sohn und meine Schwiegertochter sind tot. Und was meinen Enkel betrifft, er kennt mich nicht, weiß noch nicht einmal, dass ich existiere.« »Pardon Señor, ich verstehe nicht.« Stubbe schüttelt den Kopf: »Das kann auch keiner richtig verstehen.« Er wendet sich Miquel zu, wühlt in den Fotos, greift einzelne aus dem Stapel. »Hier, das ist mein Enkel kurz nach der Geburt, hier auf einem Spielplatz, bei einer Schulveranstaltung und so sieht er heute aus, das Foto ist gerade mal ein Jahr alt. Ein ganzes Leben im Schnelldurchlauf, an mir vorbeigelaufen.« »Señor, ich verstehe immer noch nicht.« Der Alte seufzt hörbar: »Ich durfte ihn nicht sehen! Diese zwei Staaten, die Grenze, du kannst das nicht begreifen, du bist zu jung und es ist auch gut so wie es ist.« Umständlich zündet er sich eine Zigarette an, hält für einen Moment inne, bevor er sich wieder an sie wendet. »Bitte Miquel, setz dich zu mir. Du bist vielleicht die Einzige, der ich vertrauen kann. Ich habe eine Bitte. Ich habe ein Alter erreicht, in dem man sich auch mal mit dem Tod auseinandersetzen muss.« »Oh, Señor Stubbe, ist das nicht ein bisschen früh«, unterbricht sie ihn. Er lächelt geheimnisvoll: »Früh? Nein, eher ein wenig spät. Höre zu Miquel. Sollte mir etwas passieren, dann erbt mein Enkel alles, das ist bereits geregelt. Das Einzige worum ich dich bitte ist folgendes. Dort drüben in der Schublade liegen zwei Umschläge. Der versiegelte, trägt seinen Namen und seine derzeitige Adresse. Der zweite Umschlag ist für dich. Du wirst darin eine nicht unbeträchtliche Summe an Bargeld finden. Sorge dafür, dass mein Enkel seinen Umschlag bekommt, ohne dass ein anderer dessen Inhalt zu sehen bekommt. Versprichst du mir das?« »Si Señor«, antwortet sie leise und versucht einen Hauch der Unheimlichkeit zu unterdrücken. Wieder seufzt der Alte, doch diesmal hört es sich wie Erleichterung an. Seit jenem Tag wurde das Thema nie wieder angesprochen, doch der Gedanke ließ Miquel nicht wieder los. Genauer als bisher beobachtete sie »ihren Alten«, registrierte, dass er noch verschlossener wurde und bemerkte, dass die Falten in seinem Gesicht immer tiefer wurden. Es kam ihr vor als magerte ihr Dienstherr immer mehr ab und Miquel machte sich ernsthaft Sorgen. Als sie ihn bat, doch mal zum Arzt zu gehen, winkte er nur müde ab: »Da war ich schon. Alles soweit in Ordnung. Es ist zwar nett von dir, dass du besorgt bist, aber unbegründet. Alles soweit in Ordnung«, versuchte er zu lächeln. Ja, Miquel konnte er vertrauen. Und das gab ein gehöriges Gefühl der Sicherheit.

      Der Morgen an diesem Märztag beginnt wie immer und doch sollte sich von nun an alles ändern. Die Sonne hatte sich bereits früh über die Palmen des Hotels gelegt und man durfte erwarten, dass sich heute die Temperatur den zwanzig Grad nähern würde. Dies war das untrügliche Signal, dass die Ferienflieger wieder mehr Touristen auf die Insel bringen werden, die Zeit der Langweile vorbei war und die Arbeitszeit wieder länger wird. Miquel fühlt sich wie ausgelaugt. Die ganze Nacht hatte sie schlecht geschlafen, immer wieder wirres Zeug geträumt. Dass sich jetzt ihre Laune bessert, war einzig und allein der Sonne am Zenit zu verdanken. Sie liebt die Sonne. Kaum hatte sie die Tür zu Stubbes Haus aufgeschlossen, überkommt sie ein Gefühl der Kälte, die Einbildung oder Ahnung, dass hier etwas nicht stimme. Miquel hatte sich glücklicherweise noch nie mit dem Tod auseinandersetzen müssen, wurde aber in diesem Augenblick mit ihm konfrontiert. Zusammengekauert in seinem Sessel, sitzt der Alte, den Kopf schlaff zur Seite geneigt. »Señor, Señor!«, ruft sie aufgeregt, Antwort bekommt sie keine. Vor ihm auf dem Tisch liegen ein Zettel und ein leeres Tablettenröhrchen. »Liebste Miquel. Denke an unser Gespräch! Nimm diesen Zettel und vernichte ihn. Die Umschläge liegen dort, wo wir es vereinbart haben. Danke für alles. Ich verlasse mich auf dich!« Miquel Sances überkommt ein Panikgefühl und doch versucht sie zu begreifen. Im Schubfach findet sie die beiden Umschläge, nimmt sie und den Brief an sich, verlässt das Haus, um die Unterlagen in ihrem Zimmer zu deponieren. Dann geht sie wieder zurück und alarmiert die Polizei, die später in einem Protokoll feststellen wird, dass Stubbe im Endstadium Lungenkrebs hatte und deshalb einen Suizid begangen hat. Die Akte wird geschlossen und das Haus versiegelt. Spät am Abend sitzt Miquel in ihrem Zimmer. Vor ihr auf dem Tisch liegen die beiden Umschläge. Noch immer steht sie unter dem Schock, den der Anblick des Todes bei ihr verursacht hat. Sollte sie jetzt ihren Umschlag öffnen? Sie hat Angst davor, als wenn


Скачать книгу