Domino I. Mario Worm

Domino I - Mario Worm


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für ein Flugticket nach Deutschland, ausgestellt auf ihren Namen.

      Was zu viel ist, ist zu viel. Gestern hatte er mehr Alkohol getrunken als er vertragen konnte. Hinzu kamen die Ereignisse, die geballt auf ihn einwirkten. Abgeschlafft erhebt sich Thomas Kiefer aus dem Bett. Sollte er am Ende alles nur geträumt haben? Alkoholische Wahnvorstellungen? Sicherlich! Wenn da nicht die Unterlagen auf seinem Wohnzimmertisch lägen, die ausdrücklich betonen, dass der Traum beendet ist. Alles ist wahr! Wie im Film laufen die Geschehnisse der letzten drei Tage an ihm vorüber. Es begann mit dem Brief der Anwaltskanzlei, in dem man ihn um Kontaktaufnahme bat. Klärung einer Erbschaftsangelegenheit. Hier musste zweifelsohne ein Versehen vorliegen. Er hatte keinerlei Verwandten. Wer also sollte ihm etwas vererben? Die Neugier trieb ihn dazu, in der Kanzlei anzurufen. Man teilte ihm lapidar mit, dass man ihm telefonisch keinerlei Auskünfte erteilen könne, aber alles seine Richtigkeit hätte. Er machte sich auf den Weg. Die Anwaltskanzlei befand sich in bester Lage im Westberliner Stadtteil Zehlendorf. Das vergoldete Schild am Eingang verkündete, dass sich die Rechtsanwälte in Fragen des Steuer- und Erbschaftsrecht gut auskannten. Zaghaft begab sich Kiefer an den Empfangstresen und stellte sich der ihn misstrauisch musternden Kanzleiangestellten vor, die ihn kurzer Hand ins Wartezimmer dirigierte, wo er einige Minuten verbrachte, bis ihn ein älterer Herr, mit einer noch älteren Nickelbrille in sein Zimmer bat. »Herr Kiefer? Bitte nehmen sie Platz! Darf ich ihnen etwas anbieten? Vielleicht einen Kaffee?« Er verneinte und sein Gegenüber fuhr fort: »Herr Kiefer haben sie ein Personaldokument bei sich?« Aufmerksam studierte er den Personalausweis der DDR und es schien, als würde er ihn fünfmal lesen, um zu begreifen, dass hier ein Ossi vor ihm saß und das war hier eher die Seltenheit. Räuspernd nahm der Rechtsanwalt einen Ordner zur Hand und fing an zu lesen: »Mein letzter Wille ...«

      Lange hatte Miquel Sances das Für und Wider abgewogen. Sollte sie wirklich zu einem Unbekannten nach Deutschland fliegen? Wie würde der reagieren? Was, wenn die Adresse nicht mehr stimmte? Aber sie hatte es versprochen! Oder war es vielleicht eine Art von Nötigung? Sie hatte doch nicht gewusst, auf was sie sich da einließ. Im Grunde hatte sie dieses Gespräch nicht so ernst genommen, wie es sich jetzt plötzlich darstellte. Wenn sie nun seinen Umschlag mit der Post schicken würde? Doch sie hatte es versprochen und der Alte hatte ausdrücklich auf persönliche Übergabe gepocht, hatte sie ja auch dafür bezahlt und das nicht unerheblich. Schließlich überwindet sie ihre Bedenken, siegt die Neugier seinen Enkel kennenzulernen und sollte er nur halb so nett sein, wie sein Großvater es war, dürfte alles in Ordnung gehen.

      Die Kanzleiangestellte musterte ihn beim Verlassen des Gebäudes. »Das ist Perlen vor die Säue werfen. Wie der schon aussieht, dieser Ossi!«, denkt sie, grüßt aber dennoch mit einem gelangweilten Kopfnicken. Mit zittrigen Händen zündet Thomas Kiefer die Zigarette an, lehnt sich an die Mauer des Gebäudes und inhaliert tief den Rauch, in der trügerischen Hoffnung, sich damit zu beruhigen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es ist auch schon ziemlich hart, nach jahrelangem Alleinsein, zu erfahren, dass man einen Opa hatte, der nun auch schon wieder nicht mehr war, ihm aber ein kleines Vermögen vermachte: zwei Grundstücke mit Häusern, eins in Deutschland, eins auf Mallorca und vor allem hunderttausend Deutsche Mark. Thomas ertappt sich bei dem Gedanken, dass hunderttausend Westmark, günstig getauscht bis zu fünfhunderttausend Ost bringen könnten. fünfhunderttausend, eine halbe Million! Ihm wird schwindlig. Noch einen Zug von der Zigarette, dann hält er Ausschau nach einer Telefonzelle, wirft ein paar Münzen hinein und wählt Reimanns Nummer. »Hallo, ich bin leider nicht da. Ihr könnt aber mein Band volllabern! Wenn ihr Glück habt, rufe ich auch irgendwann mal zurück«, ertönt die Stimme von Nicolas Anrufbeantworter. »Typisch, wenn man den mal braucht, ist er nicht da«, murmelt Kiefer vor sich hin. Dann fällt ihm plötzlich ein, dass Nicolas irgendwas von einer Hundeausstellung in Wessiland erzählt hatte, zu der er zwei Tage müsse. »Na dann eben nicht«, sagt er zu sich selbst und macht sich auf den Heimweg. Er würde später noch einmal probieren, ihn zu erreichen.

      Viele Reiseerlebnisse hatte Miquel nicht. Natürlich war sie öfter in Palma und jedes Mal von der Größe, dem Flair und den Gegensätzen dieser Stadt mit dem kleinen Ort Cala d’Or fasziniert, doch ließ sich das in keiner Weise mit der Hektik einer Großstadt wie Berlin vergleichen. Den Schock der Unbeholfenheit bekam sie gleich auf dem Flughafen Tegel zu spüren. So, jetzt ist sie in Deutschland, stand vor dem Flughafengebäude. Wie nun weiter. Sie fragt vorübereilende Passagiere nach der aufgeschriebenen Adresse, bekommt nur Achselzucken zur Antwort, bis jemand schließlich sagt: »Ich glaube, das muss irgendwo im Ostteil sein.« Na wenigstens etwas. Nein, so kam sie nicht weiter! Ihr Blick sucht schon das nächste Opfer, als sie den Taxistand registriert. Warum einfach, wenn es auch umständlicher geht! Der Taxifahrer weiß Bescheid: »Kenn ick!« Fast drei Wochen waren seit dem Tod des Alten vergangen und nun steht sie hier in einem Hausflur im Prenzlauer Berg. Zaghaft erklimmt sie die zwei Stockwerke, nimmt das Knarren der Holzstufen wahr, bis sie schließlich vor der Wohnung mit seinem Namensschild steht. So, die letzte Chance umzukehren. Kein Mensch würde was bemerken, keiner wüsste etwas davon. Miquel atmet noch einmal tief durch, dann betätigt sie den Klingelknopf. Als Kiefer die Tür öffnet, blicken ihn zwei scheue, rehbraune Augen an. »Guten Tag. Sind sie Señor Kiefer?« »Ja«, bestätigt er. Die Augen blicken ihn an und es scheint, als wäre sein Gegenüber sehr aufgeregt. »Ja, der bin ich. Was kann ich für sie tun?« »Mein Name ist Sances. Miquel Sances. Ich war Hausdame bei ihrem Großvater auf Mallorca und soll ihnen einen Umschlag überreichen.« Thomas Kiefer hat das Gefühl, als versetze ihm soeben jemand einen Schlag ins Genick. Nicht nur, dass er vor wenigen Stunden seinen Besuch in der Anwaltskanzlei beendet hatte, stand nun jemand hier und konfrontierte ihn erneut mit Nachrichten, die ganz bestimmt neue Fragen aufwerfen würden. »Bitte kommen sie doch herein! Nehmen sie Platz! Möchten sie einen Kaffee? Ich hab ihn gerade frisch gebrüht.« Mehr um ihre Verlegenheit zu überspielen, als aus »Genusssucht«, nickt Miquel und fängt an zu erzählen, wie sie Stubbe kennengelernt hatte, über das Gespräch vor ein paar Monaten und das Ende. Aufmerksam hört er ihr zu, unterbricht sie nicht. Doch schließlich fragt er: »Und warum hat er sich die ganze Zeit nicht bei mir gemeldet?« »Das weiß ich nicht, Señor. Wie schon gesagt, hat er mir auch erst vor ein paar Monaten von ihnen erzählt. Ich weiß nur, dass er sie sehr gemocht haben musste, denn in seiner Stimme war viel Wärme und Stolz, als er mir Bilder von ihnen zeigte. Aber vielleicht gibt ihnen ja der Inhalt des Umschlages Auskunft.« »Was ist da drin?« Miquel schüttelt mit dem Kopf: »Ich weiß nicht, Señor. Ich habe ihn nicht aufgemacht. Ich sollte ihn nur persönlich abgeben und das habe ich gemacht. Damit ist meine Aufgabe erledigt.« »Und jetzt fliegen sie zurück?« »Mein Flug geht morgen früh.« Thomas Kiefer schaut sie interessiert an. Da ist sie also schnell mal hergeflogen, nur um das Ding zu übergeben. Welch eine Loyalität. »Und heute? Wo übernachten sie heute?« »Ich habe ein Zimmer gebucht, weiß aber nicht, wo sich das Hotel befindet«, lächelt sie verschämt und reicht ihm einen Zettel. »Kein Problem, ich bringe sie hin. Wenn sie möchten, würde ich sie heute zum Abendessen einladen. Ich kenne das Hotel, in der Nähe ist ein nettes italienisches Restaurant. Ich würde mich freuen, wenn sie zusagen.« »Gern«, antwortet sie leise. Pizza und Wein, das Ambiente stimmte. Thomas hatte noch viele Fragen, welche sie ihm gerne und geduldig beantwortete. Am nächsten Morgen holt er sie vom Hotel ab und bringt sie zum Flughafen. »Ein Versprechen möchte ich ihnen gerne noch abringen. Oder besser gesagt noch eine Bitte. Könnten sie sich weiter um sein Haus kümmern? Ich versuche so schnell wie möglich hinzukommen.« Bei dem Gedanken noch einmal in das Totenhaus zu müssen, rieselt Miquel ein kalter Schauer über den Rücken und doch antwortet sie: »Gewiss, Señor. Vielleicht könnten sie mir auch Bescheid geben, wann die Beerdigung ist. Sie sagten doch, dass er nach Deutschland überführt worden ist.« Kiefer nickt. »Ja, es hat den Anschein, als hätte er selbst seine Bestattung minutiös geplant. So erwähnte es jedenfalls der Notar. Die Formalitäten sind wohl schon im Gange. Spätestens wenn der Termin feststeht, melde ich mich.« »Muchas gracias.« »Ich habe zu danken für die Mühe, die sie sich gemacht haben.« »Ich habe es gern getan«, schnell fügt sie noch hinzu: »Für ihren Großvater.« Dann geht sie in den Transitraum. Den ganzen Flug über muss sie immer wieder an ihn denken. Er hat so eine leichte Art und Weise, genau wie der Alte, auch seine Gesichtszüge sahen ihm etwas ähnlich. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass er ihr gefiel. Was für ein Quatsch! So einer und sie, das passte nicht zusammen. Aber träumen durfte man ja mal. Nein. Vielleicht würde sie ihn auch nie wiedersehen.


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