Domino I. Mario Worm

Domino I - Mario Worm


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beruhigen, fahre ich noch einmal los. Dann aber sollten wir die Sache ein für alle Mal ad acta legen.« Leopold schaut immer noch aus dem Fenster. Nein, beruhigt ist er nicht. Es hat angefangen zu regnen und schwarze Wolken hängen tief über Zürich.

      Nicolas Reimann hatte keine großen Überredungskünste aufbieten müssen, insgeheim war Kiefer froh, dass er seine Begleitung anbot. Zwei Wochen vor dem Beerdigungstermin machten sich die beiden auf den Weg nach Berg am Starnberger See. Der Zug nach München hatte nur wenige Minuten Aufenthalt am Berliner Bahnhof Zoologischer Garten, planmäßige Abfahrt war 4.30 Uhr. Während Thomas das frühe Aufstehen gewohnt war, machte sein Freund einen deutlich unausgeschlafenen Eindruck. Ja, er war neugierig, aber musste der Aufbruch ausgerechnet so früh sein? Es war Sonnabend und anständige Menschen schliefen um diese unchristliche Zeit, oder sie hatten zumindest das Recht darauf, unheimlich müde zu sein, was er mit einem unverkennbaren Gähnen bekräftigte. »Man, was ist denn mit dir los?« Reimann winkte ab: »Lass mich bloß in Ruhe! Wir hätten ja auch wirklich später ...« – er kommt nicht mehr dazu den Satz zu beenden, denn in diesem Moment fährt der Zug, aus Hamburg kommend, ein. »Zu spät!«, grinste Kiefer und hob seinen Koffer an, um das Abteil zu besteigen. In diesem Moment schob sich eine junge Frau mit einem Plastikbecher an ihm vorbei. Er kam nicht mehr dazu, eine Bemerkung über die Vordrängelei zu machen, denn durch die hastige Bewegung schwappte der Inhalt des Bechers über und eine gehörige Portion des heißen Kaffees ergoss sich über sein rechtes Hosenbein. Mehr vor Schreck als vor Schmerz schrie Thomas auf. Die junge Frau wurde kreidebleich und versuchte eine Entschuldigung. »Oh Gott, es tut mir wahnsinnig leid! Ich kann mich nur entschuldigen! Ich glaube, ich hab geträumt!« Reimann, nicht betroffen, grinste: »Kann ich verstehen.« Der Einzige, der darüber nicht lachen konnte, ist Kiefer. Doch als er sah wie peinlich ihr die Situation war, verrauchte auch bei ihm ziemlich schnell die Wut, zumal sie eine wirklich schöne Frau ist. Und schönen Frauen verzeiht man eben schneller. Minuten später stellte sich heraus, dass sie auch noch dasselbe Abteil gebucht hatte wie die Jungs. Mit dem Namen Alexandra Winter stellt sie sich mit einem leichten amerikanischen Akzent vor. Die stundenlange Bahnfahrt verkürzte sich scheinbar, da sich Alexandra als sehr redegewandt und unterhaltsam herausstellte. Eigentlich komme sie aus Miami, studiert zurzeit in Berlin-Dahlem Germanistik, weshalb sie auch so gut Deutsch spreche und wollte nun nach München, wo ihr Großvater auf sie warte. Mit ihm wolle sie sich die Stadt ansehen und dann weiter an den Starnberger See reisen. »Zufälle gibt es«, stellt Kiefer fest. »Wir haben das gleiche Ziel.« »Und ich gieße dir auch noch die Hose voll!« »Schon längst vergessen!« Reimann, der schon mehrere Male in den Staaten war, wärmte Erinnerungen an Miami auf, während Kiefer aus dem Abteilfenster den vorbeieilenden Wiesen und Wäldern nachsieht und sich Gedanken über den bevorstehenden Ausflug macht.

      Das Hotel Neptun liegt nur wenige Kilometer von der Hansestadt Rostock entfernt in dem einstigen Fischerort Warnemünde. Lutz Pietschmann hatte dieses Hotel gewählt, weil bereits zu tiefsten Ostzeiten hier schon »Westniveau« herrschte. Während Westdeutsche für genügend Valuta jederzeit ein Zimmer buchen konnten, hielt der Arbeiter- und Bauernstaat nur einige wenige FDGB-Plätze zur Verfügung. Das Hotel verfügte über eine eigene Fitnessetage, mit Swimmingpool und Sauna, Disco, mehrere Restaurants so wie die Sky-Bar in der obersten Etage. Von hier aus hatte man einen wunderschönen Blick über ganz Warnemünde. Eigentlich brauchte man als Urlauber das Hotel nicht zu verlassen. Ging man dennoch hinunter, am Leuchtturm vorbei, gelangte man an den alten Strom, eine enge Straße mit dem künstlichen Kanal, an dem Fischerboote lagen, die vom Fang zurückgekehrt waren. Frisch geräucherte Ware wurde angeboten. Pietschmann liebte Fischbrötchen, aber noch mehr liebte er es, auf den Terrassen der Gaststätten zu sitzen und den nicht enden wollenden Strom von Menschen zu beobachten, die am Ufer des Kanals flanierten. Besonders jetzt im Frühjahr hatte der alte Strom seine besonderen Reize, alles schien freundlicher, selbst die künstliche Hektik der Touristen. Lautstark boten Schreier Fischwaren und Ausflüge mit dem Boot an. Pietschmann hätte noch stundenlang hier sitzen können, aber ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, dass es Zeit wurde aufzubrechen. In fünf Stunden würde er wieder hier sein, mit seinem Audi auf die Fähre fahren und nach Dänemark übersetzen. Missmutig, weil seiner schönen Ruhe beraubt, ging er zurück ins »Neptun«, bezahlte die Rechnung, besteigt seinen Wagen und macht sich auf den Weg zum Rostocker Hafen. Am Tor drei wurde er bereits von Alfred Schmidt erwartet. »Wie immer pünktlich.« Pietschmann knurrt etwas Unverständliches. Er konnte diesen Typen nicht ausstehen. Soweit war es also gekommen. Nun verließen die Ratten das sinkende Schiff, die Staatssicherheit verhökert ihre Arsenale. Ihm konnte es egal sein. Aber Sympathie konnte er für diesen schleimigen Diener zweier Herren nicht empfinden. Egal, Hauptsache die Ware war da. Schmidt konnte zwar nicht die Gedanken seines Gegenübers erraten, hatte aber eine Ahnung und schwenkte schnell um. »Halle 4/1. Alles bereit zum Anheuern.« Pietschmann rang sich ein Grinsen ab. Jetzt versuchte der auch noch witzig zu sein. Zu Schmidt gewandt, sagt er nur: »Na dann wollen wir mal«, nahm einen schwarzen Aktenkoffer aus dem Auto und folgte dem Stasimann in die Halle. Dreißig Kisten standen penibel übereinander gestapelt vor ihm. Pietschmann deutet auf eine der untersten: »Die da! »Aufmachen!« Frohlockend sah er zu wie Schmidt sich bemühte, die äußerst schweren, oberen Kisten abzutragen, um an die gewünschte Stelle zu kommen. Nach der dritten Kiste verlor er die Lust. Er wusste, dass die Anzahl stimmt, keine der beiden Seiten würde es wagen sich zu verzählen. Gönnerhaft reichte er Schmidt den Koffer, der ihn, ohne zu öffnen, übernahm. »Wann?« »Sie werden heute noch von unserem Zoll verplombt und gehen morgen früh raus!« »Von eurem Zoll verplombt! Wie gut, dass es den noch gibt!«, flappste Pietschmann ironisch. Mit den Worten: »Ich melde mich wieder«, verließ er ohne Gruß die Halle und fuhr davon. Alfred Schmidt, Oberstleutnant der Staatssicherheit in geheimem Auftrag der »KoKo« schaute ihm wütend nach. »Arschloch! So ein gottverfluchtes, arrogantes Arschloch! Aber warte ab, eines Tages wendet sich das Blatt wieder!« Insgeheim dachte er an alte Zeiten. Plötzlich wurde ihm bewusst, welch ein Spielball er doch ist. Er, der Vermittler, ihn würde es treffen, so wie damals mit diesem besonders klugen oder einfach nur dämlichen Politiker des Klassenfeindes. Genial wollte der sein. Hatte seinen Kontrahenten im Wahlkampf abhören lassen. Nur zu blöd, dass er die falschen Frequenzen erwischt hatte, anfing zu schnüffeln. Selbst hier in den Hafen ist er gekommen, hat auf eigene Faust recherchiert. Was daraus wurde, war Schmidt noch sehr gut im Gedächtnis, jagte ihm Schauer über den Rücken. War es Respekt, Furcht? Nein, eher schon Angst. Ob Pietschmann, dessen Hintermänner oder gar unser Ministerium darin verwickelt waren? Vielleicht auch alle zusammen! Dieser Gedanke verunsicherte ihn noch mehr. Erst wurde von irgendeiner Seite eine Rufmordaktion gegen den Politiker losgetreten und wenig später beging er Selbstmord, fuhr extra noch mal in die Schweiz, um sich in einer Hotelbadewanne zu ertränken. Er, Alfred Schmidt, wusste es besser. Die Schweizer Polizei begann zu ermitteln und machte augenscheinliche Fehler, zu viele. Fast wie von Geisterhand. Oder sollte man doch von Vertuschung reden, Vertuschung von ganz oben getragen? Wie viele Zweifel braucht ein Mensch? Wie viele Indizien wurden missachtet, bis sich die schweizerische Staatsanwaltschaft dazu durchrang die Selbstmordthese zu bestätigen und das Verfahren einzustellen. Keinerlei Fingerabdrücke wurden gefunden, an keinem der drei Gläser auf dem Tisch und auch nicht an der geöffneten, halbleeren Flasche. Schließlich ist es ja ziemlich ungewöhnlich, mit Straßenschuhen und Anzug in die Wanne zu steigen, um sich zu ertränken, natürlich ohne Abschiedsbrief. Nein, bei dieser Art von Geschäften hielt man sich lieber an Absprachen und sorgt dafür, dass keinerlei Fehler auftreten. Er, Alfred Schmidt, kannte die Spielregeln und würde sich sehr sorgfältig daranhalten. Morgen um sechs Uhr werden die Makarows und die AK 47 die Deutsche Demokratische Republik für immer verlassen, hier wurden sie sowieso nicht mehr gebraucht. Was die mit den Dingern anstellten, ging ihn nichts an, also wozu sollte er nur einen Gedanken dazu verschwenden. Das Geld im Koffer brauchte er nicht nachzuzählen, es stimmte. Es stimmte immer. Schmidt verließ die Halle, um den Koffer bei seinen Dienstherren abzuliefern und eine nicht unerhebliche Provision einzustreichen. Das war es, was für ihn zählte.

      Am späten Nachmittag fuhr der Zug in den Münchener Hauptbahnhof ein. Trotz der längeren Bahnfahrt war keine Langeweile aufgekommen, was vor allem an der unterhaltsamen Art Alexandras lag. Schon nach einer Stunde verabredete man sich in Berg am Starnberger See. Sie wurde bereits erwartet. Fast schon sehnsuchtsvoll sah ihr Thomas Kiefer nach, als sie von einem alten Mann begrüßt wurde und mit ihm gemeinsam den Bahnsteig hinunterging. »He, träumst


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