Domino I. Mario Worm

Domino I - Mario Worm


Скачать книгу
was, du Danksager, ich komme mit. Da ist jetzt unter Garantie noch mehr los als hier. Da tobt jetzt unter Garantie die Hölle, oder der blanke Wahnsinn.« Mit seinem Spruch: «Herzlich willkommen in der Freiheit«, drückt er dem nächsten Ankömmling die geöffnete Sektflasche in die Hand, greift in eine Plastiktüte und holt eine neue Flasche hervor. Grinsend hält er sie Kiefer vor das Gesicht. »Eine haben wir noch! Nun los, komm! Wirst sehen, da steppt der Bär!« Zur selben Zeit sitzt auf Mallorca, der Lieblingsinsel der Deutschen, ein alter, gebrochener Mann vor seinem Fernsehgerät und schüttelt fassungslos den Kopf. Jede nur erdenkliche Kleinigkeit in der Berichterstattung über den Mauerfall saugt er buchstäblich in sich auf. »Nun ist es also soweit«, sagt er vor sich hin. Am liebsten würde er das nächste Flugzeug nehmen und ab nach Berlin, rüber in den Osten. Er weiß, dass das nicht geht. Man muss abwarten wie sich die Lage entwickelt. Es könnte ja nur ein vorübergehendes Phänomen sein. Vielleicht machen die Kommunisten das Tor auch wieder zu. Aber der Gedanke! Er ist sich aber auch sicher, dass er die Insel und den Ort Cala d’Or auf Dauer nicht mehr verlassen wird. Vorbei sind die regelmäßigen Sommerausflüge in das Heimatland. Aber der Gedanke! Mit zittriger Hand gießt er sich einen Cherry ein, geht zum Schreibtisch und kramt einen großen Umschlag mit Fotos heraus. Ja, der Gedanke! Wie oft hatte er sich vorgestellt, aktiv zu werden, ihm alles zu erklären, wie oft. Das Volk der Deutschen kann man nicht teilen, jedenfalls nicht auf Dauer, wie man nun sieht. Abwechselnd blickt er auf die Fotos und das Fernsehbild. »Ja, es ist so weit.« Noch einen Cherry, obwohl ihm sein Arzt jeglichen Alkohol verboten hat. Man bräuchte noch ein, zwei Jahre, sinniert er. Aber die Zeit hat er nicht. Aber der Gedanke! Er nimmt noch einen Schluck, greift nach einem Schreiblock. Erst zögernd, dann fügt er immer schneller Wort an Wort. Aber der Gedanke! Schließlich hat er niedergeschrieben, was ihn jahrzehntelang bewegte. Der Zeitpunkt ist erreicht. Er nimmt das nächste Flugzeug, um den Umschlag nach Deutschland zu bringen, hinterlegt ihn in seinem Bankschließfach in Starnberg, fliegt sofort wieder nach Mallorca. Ja, der Gedanke! Irgendwie fühlt er sich erleichtert!

      Die Fahrt zum Zoologischen Garten erweist sich schwieriger als geplant. Zwar fahren die S-Bahnen im Minutentakt, sind aber dennoch restlos überfüllt. Bei der dritten haben sie Glück, zwängen sich mit aller Macht hinein. Es ist schon eine sonderbare Atmosphäre, ein lautstarkes Gemisch aus Lachen, Freudentränen und dem immer wiederkehrenden: »Wahnsinn, einfach Wahnsinn!« Die Sektflasche überlebt die drei Stationen nicht. Gibt es irgendjemand in diesem Waggon, der nicht dran genippelt hat? »Wie viele seid ihr im Osten? Sechzehn Millionen? Na prima! Dann sind ja alle hier!«, grinst Reimann, als sie sich schubsend zum Kurfürstendamm vorarbeiten. Thomas Kiefer muss das alles erstmal verarbeiten. Der nächtliche Trubel, die überfüllten Schaufenster, die Farbenvielfalt der flackernden Leuchtreklamen, all das ist neu, so hatte er sich das nicht vorgestellt. Plötzlich drückt ihm jemand eine Zeitung in die Hand. Mensch, eine West-BZ! Im Osten ein Vermögen wert. Je älter und ausgelesener die Zeitung, desto wertvoller – illegal, mit dem Siegel der Verschwiegenheit von einem zum anderen weitergereicht. Und jetzt bekommt man so ein Ding druckfrisch einfach so in die Hand gedrückt. »Die Mauer ist weg!« prangt es in großen Lettern von der Titelseite. Bis zum Morgengrauen wird gefeiert, dann ist es auch offiziell, die Grenze bleibt offen. Allmählich wird es ruhiger am Kurfürstendamm, wenigstens stundenweise. Der Sozialismus trägt noch einmal, allerdings zum letzten Mal, einen Sieg davon. Diszipliniert gehen die meisten »Ossis« wieder rüber und sind pünktlich an ihren Arbeitsplätzen, was Reimann überhaupt nicht versteht. Er wird sich an die neue Mentalität gewöhnen müssen, genau wie Thomas Kiefer. Zusammen erkunden sie in den nächsten Tagen das jeweils andere Berlin, feiern Silvester am Brandenburger Tor und entwickeln allmählich, trotz der Unterschiede, Verständnis, Akzeptanz und schließlich Freundschaft.

      Es war schon immer so, dass zur Grünen Woche alle Hotelzimmer in Berlin belegt sind, besonders die preiswerten. Ihn störte das nicht, Geld spielte keine und wenn dann nur eine untergeordnete Rolle. Seit Jahren stieg er im »Star« ab, bestand jedes Mal auf sein Zimmer in der achten Etage. Von hier hatte man einen sehr schönen Ausblick auf Berlin, konnte auch über die Mauer hinweg nach Ostberlin gucken. Das »Star« lag nicht gerade im Zentrum, aber auch nicht wesentlich entfernt davon. Man war in der Nähe und hatte trotz allem seinen Ruhepol. Außerdem verfügte das »Star« über ein Restaurant mit vorzüglicher Küche. Als Geschäftsmann, der immer nur ein bis zwei Tage in Berlin verbrachte, wusste er das zu schätzen. Das Leben des Lutz Pietschmann verlief minutiös geplant. Musste es auch, schließlich saßen ihm seine Auftraggeber ständig im Nacken. Wehe, wenn nur ein Deal platzte. Nach dem Warum würde ihn keiner fragen, schon gar nicht kurz vor dem Ziel. Vielleicht zwei, drei Jahre noch! Pietschmann blickt auf seine Armbanduhr, kurz vor zehn Uhr. Er hasste Unpünktlichkeit und forderte das Gegenteil auch pedantisch ein. »Vier Minuten hat er noch!«, stellt er für sich selbst fest und schaut aus dem Fenster, hinüber in den Ostteil. »Jetzt hat diese Mauer endlich Löcher und die Menschen wuseln immer noch!« Nichts in der Welt könnte ihn dazu bringen freiwillig dort hinzugehen. Es reichten schon die drei Besuche in Rostock, um die Lieferungen zu überwachen. Bloß nicht eine Minute länger als gefordert. Es klopft. Pietschmann schaut auf seine Uhr. Punkt Zehn! Geht doch! »Herein!« Alfred Schmidt, ein grau melierter Mann betritt das Zimmer. »Guten Tag«, grüßt er freundlich und fügt dann hinzu: »Der Kontakt wird auch immer schwieriger.« »Ihr habt doch diesen blöden Vorhang aufgerissen! Beschwert euch nicht«, grinst Pietschmann und registriert mit Genugtuung wie verunsichert sein Gegenüber ist. »Das Geld ist da, wie immer amerikanische Dollars.« Pietschmann deutet auf einen schwarzen Attaché-Koffer, der prall mit Geldscheinen gefüllt ist: »Fehlt nur noch der Liefertermin.« »Wie schon gesagt, es wird immer schwieriger« »Schwieriger, schwieriger! Ich verlange nicht, dass es einfach ist. Das Geld zu beschaffen ist auch nicht einfach! Mein Teil des Geschäfts ist erfüllt, tut ihr den eurigen!« Alfred Schmidt schaut in das regungslose Gesicht Pietschmanns und weiß, dass dies nicht nur dahingesagt ist. Er nimmt den Koffer, nachzählen braucht er nicht, die vereinbarte Summe stimmt, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche! »Übergabe wieder in Rostock. Ich melde mich so schnell ich kann.« »Davon gehe ich aus«, grinst Pietschmann unverhohlen und öffnet Schmidt die Tür. Wieder ein Blick auf die Uhr. Das ganze Prozedere hatte keine drei Minuten gedauert. Viel zu lange! Er hat keinerlei Sympathie für diesen Typen, obendrein hatte er ihn vom Frühstück abgehalten und Lutz Pietschmann hasst spätes Frühstück.

      2. Kapitel

      Sie ist eine Schönheit, die Begierde eines jeden Mannes, doch verbietet ihre Bescheidenheit dies in irgendeiner Weise auszunutzen. Ihre langen schwarzen Haare trägt sie meist zu einem Pferdeschwanz gebunden, was nicht etwa einem Modetrend, sondern eher den Temperaturen und ihrer Arbeit entspricht. Miquel Sances wuchs als viertes von fünf Mädchen auf dem spanischen Festland auf. Die Mutter starb schon früh und der Vater frönte lieber dem Alkohol, als sich um seine Kinder zu kümmern. Miquels Persönlichkeit entwickelte sich deshalb schon sehr früh. Gleich nach ihrem Schulbesuch ging sie ihre eigenen Wege, jobbte mal hier, mal da, bis sie mit einundzwanzig das Festland verließ und eine Arbeitsstelle auf der Insel Mallorca fand. Hier nun arbeitet sie schon fünf Jahre als Zimmermädchen in einem größeren Hotel im Urlaubsort Cala d’Or in der Avda Es Forti. Zu behaupten, dass ihr der Job Spaß mache, wäre eine Lüge, schon weil die Entlohnung eher bescheiden ausfällt. Aber die Frauen können zumindest die Trinkgelder für sich behalten. Und da das Hotel in einem Begrüßungsschreiben darauf hinweist, das eine gewisse Erwartungshaltung besteht, halten sich die meisten Touristen auch daran. Jene, die trotzdem knausern, können eben keine extra Leistungen erwarten, deren Zimmer werden zwar sauber gemacht, doch eben auch nicht mehr. Das ist zwar nicht erlaubt, aber gängige Praxis. Zum Leben brauchte Miquel nicht viel, da sie für ein geringes Entgelt ein Personalzimmer bewohnte, das auch die Verpflegung beinhaltete. Trotzdem blieb am Monatsende nicht viel übrig. Diesen kleinen Betrag allerdings versuchte Miquel Sances zu sparen, hatte sie doch vor, sich irgendwann mal eine kleine Wohnung zu kaufen und, vorausgesetzt, ihr lief der richtige Mann über den Weg, was bis heute nicht geschehen war, eine Familie zu gründen. Manchmal schaute sie schon etwas neidisch, wenn sie die jungen Paare sah, die hier ihren Urlaub verbrachten und deren Kinder sich in einem der Swimmingpools amüsierten. Miquel war davon überzeugt, dass sie hier ihrem

      Traumprinzen ganz gewiss nicht begegnen würde. An eine Neuauflage der Pretty-Woman-Story


Скачать книгу