Domino I. Mario Worm

Domino I - Mario Worm


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über den Schreibtisch. All die privaten Sachen werden hierbleiben. Belangloses Zeug, unverfänglich, das andere ist vernichtet. Er, der Reichsleiter, das geheime Staatsoberhaupt, der engste Vertraute des Führers, der sogar zu dessen Lebzeiten Zugriff auf dessen Konten hatte, er muss jetzt nicht mehr bleiben, sein Dienstherr ist tot. Sorgfältig klemmt er sich ein dickes braunes Buch unter den Arm. Einst hatte es drei dieser Bücher gegeben. Eins ist verbrannt in Börnersdorf, eins hatte er zu seiner Sicherheit behalten und den Verwahrungsort des dritten kennt nur er. Bormann verlässt den Raum, zwängt sich durch einen langen, geheimen Tunnel ans Tageslicht. Es ist sein Ziel, sich durch die russischen Linien zu schlagen und irgendwie wegzukommen. Weit führt ihn sein Weg nicht. Nur wenige Sekunden, nachdem er die verbrannte Luft der vermeintlichen Freiheit geatmet hat, trifft ihn ein Querschläger der russischen Artillerie. Martin Bormann ist auf der Stelle tot, er liegt in einem Bombenkrater, Zentimeter entfernt verbrennt allmählich sein braunes Buch. Lange wird um seinen Verbleib gerätselt. 1946 wird er in Abwesenheit vom internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg zum Tode verurteilt. Erst 1973 wird bei Bauarbeiten am Lehrter Bahnhof eine Leiche gefunden und zweifelsfrei als die von Martin Bormann identifiziert. Genau an dieser Stelle, an der in der Nacht vom neunten zum zehnten November 1989 die Mauer fällt und hunderte von DDR- Bürgern zum ersten Mal ihre Schritte in den Westen lenken. Und genau hier beginnt die Geschichte.

      1. Kapitel

      

      Obwohl im gleichen Alter, konnten ihre Charaktere, ihre Herkunft und ihre bisherige Entwicklung nicht gegensätzlicher sein. Thomas Kiefer, der Ossi, geboren im Januar 1960, hatte schon frühzeitig seine Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren und wuchs ab seinem vierten Lebensjahr in einem Ostberliner Kinderheim auf. Versuche, ihn zu adoptieren waren aus den unterschiedlichsten Gründen fehlgeschlagen. Ohne richtige Wärme und Geborgenheit, die eben nur Eltern ihrem Kind geben können, entwickelte er schon frühzeitig einen Sinn für Realität und Selbstständigkeit. Seine schulischen Leistungen lagen im gesunden Mittelfeld, hätten jedoch weitaus besser sein können, was hauptsächlich daran lag, dass er bestimmten Fächern sehr bequem gegenüberstand. Er liebte Musik und das Fach Geschichte, speziell die deutsche. Warum er als Mitglied der »Freien Deutschen Jugend« mit dem Fach Staatsbürgerkunde auf Kriegsfuß stand, war nicht etwa seiner politischen Einstellung, sondern eher dem Lehrer zuzuordnen, der keinerlei Auseinandersetzung zuließ, die über die staatlich definierten Festlegungen hinausgingen. Kiefer war kein Revoluzzer oder Widerständler, er war ein durchschnittlicher, braver DDR-Bürger, der seinen Anteil, wenn auch widerstrebend, an gesellschaftlicher Arbeit leistete, der seine Nische im Leben und einen Umgang mit dem Arbeiter- und Bauernstaat gefunden oder besser gesagt sich in diesen hineingelebt hatte. Noch im Heim begann er eine Lehre als Werkzeugmacher und bekam nach seiner Entlassung aus dem Heim eine Altbauwohnung im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg zugewiesen. Zweiter Hof, Ofenheizung, Toilette eine halbe Treppe tiefer, nicht sehr komfortabel, aber ein gehüteter Zufluchtsort, wenn man seine Ruhe haben wollte. Über die sporadische Einrichtung einer Junggesellenbude war die Einzimmerwohnung nie hinausgekommen. Thomas legte auch keinerlei Wert darauf, obwohl er für DDR-Verhältnisse nicht schlecht verdiente. Seine Einnahmen flossen zum größten Teil auf sein Sparbuch, wenn er sie nicht für Urlaubsreisen ausgab. Thomas Kiefer litt unter notorischem Fernweh. Soweit es Geld, Zeit und die Reisebestimmungen der DDR zuließen, setzte er sich in den Zug oder auch in seinen fünfzehn Jahre alten, gebraucht gekauften Trabant und fuhr in seiner arg beschränkten Reisewelt hin und her. Zu Frauen hielt er einen »gesunden Abstand«. Sicherlich gab es vereinzelte Beziehungen, die aber dank seiner Eigenbrötelei schnell im Sande verliefen.

      Die Lebensgeschichte des Wessis Nicolas verlief in völlig anderen Bahnen. Er wurde ebenfalls im Januar 1960 als einziger Sohn des Unternehmerehepaars Reimann in Berlin-Zehlendorf geboren. Die Eltern betrieben schon in der dritten Generation eine kleine, bescheidene Lebensmittelkette, gegründet und vererbt vom Urgroßvater mütterlicherseits. Mit beschaulichem Fleiß und Engagement hatte man es geschafft, eine höhere Kapitalrücklage zu bilden und sich so im gehobenen Mittelstand einzurichten. Das Geschäft war liquid, warf keine Millionen ab, aber es reichte, um damit besser leben zu können als so manch anderer. Hinzu kam der geerbte Grundbesitz mit dem nicht so bescheidenen »Häuschen«, dass man durchaus auch als kleine Villa bezeichnen könnte, und in dem Nicolas Reimann seine Kindheit verbrachte. Als Kronprinz behütet, erfüllten seine Eltern ihm jeden Wunsch, achteten darauf, dass ihr Sohn die gehörige Bildung bekam und planten im wesentlichsten seinen Lebenslauf. Schließlich lag es auf der Hand, dass Sohnemann die Firma übernimmt und damit die Weiterführung gesichert sei, eben ein Generationsbetrieb. Ob es an der Affenliebe der Eltern, Undank des Sohnes oder einfach nur an Generationsproblemen lag, der Junior verfolgte ganz andere Ziele. Nicolas Reimann fand überhaupt kein Interesse an dem »Krämerleben« und dachte nicht daran, die Firma zu übernehmen. Stattdessen entdeckte er seine Liebe zur Germanistik und begann kurzerhand Journalismus zu studieren.

      Natürlich ebneten seine Eltern nach anfänglichem Zögern und Vorwürfen auch hier seinen Weg, insgeheim hoffend, dass diese »brotlose Kunst« ihn eines Tages doch dazu treiben würde, den Familienbetrieb zu übernehmen. Und so abwegig schien der Gedanke nicht zu sein. Über eine Volontärstelle war Nicolas Reimann bis jetzt nicht hinausgekommen. Um dem konservativen Elternhaus zu entfliehen, äußerte er zum Beginn seiner Studienzeit den Wunsch nach Eigenständigkeit, worauf man ihm ein Penthouse im Grunewald kaufte. Hier nun konnte er seine Vorstellungen vom Leben verwirklichen, das zum größten Teil aus Partys, Mädchen und Schreiben bestand. Er nannte diesen Zustand Selbstfindung und machte sich kaum Gedanken darüber. Solange am Monatsanfang eine bestimmte Geldsumme von seinem Vater überwiesen wurde, brauchte er das auch nicht. Momentan war er eben von Beruf Sohn. Dieser Zustand gefiel ihm zwar nicht, aber er störte ihn auch nicht sonderlich. Irgendwann, davon war Nicolas überzeugt, würde schon jemand seine Fähigkeiten zu schätzen wissen.

      Die beiden Jungen, Thomas und Nicolas, lebten in zwei Parallelwelten, ohne voneinander zu wissen. Und ausgerechnet der »1. Parteibezirkssekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands von Berlin« sorgte dafür, dass die beiden aufeinandertrafen. Ironie beider Schicksale. Den ganzen Abend hatte Kiefer, faul auf seiner Couch liegend, vor dem Fernseher verbracht. Aufmerksam verfolgte er Schabowskis Pressekonferenz und erfuhr von der neuen Reiseregelung. Ja, es wurde viel geredet in den letzten Tagen und irgendwie zeichneten sich Veränderungen ab. Es wurde ja auch Zeit. Und er würde von einer neuen Reiseregelung profitieren, könnte endlich auch mal in die Gegenden reisen, die ihm aus Mangel an Westverwandtschaft bisher verwehrt geblieben waren. Ja, es wurde Zeit. Die Bemerkung, dass die neue Reisereglung ab sofort gelten solle, überhörte er und schaltete gelangweilt von dem weitschweifenden Parteigelaber ins West- fernsehen. Erst als er die ersten Trabbis über die Bornholmer Brücke fahren sah, sprang er von seinem Sofa auf. Nichts hielt ihn jetzt mehr, er wollte rüber und sehen, wie es dort ist. Weit kommt er mit seinem Trabant nicht. An diesem späten Abend des neunten Novembers sind die Straßen voll. Alles Schwarztaxen? Wohl kaum. Entnervt stellt er sein Gefährt an den Straßenrand und macht sich auf den Weg. Weniger einem Kalkül als dem Zufall geschuldet – der Grenzübergang Invalidenstraße liegt näher an seiner Wohnung als die im Fernsehen gesehene Bornholmer Brücke –, steht er nur wenige Minuten später vor der noch verschlossenen Schranke. Alles doch, nicht wahr? Verfälschte Bilder? Die Massen vor dem Übergang brüllen: »Tor auf, Tor auf!« Es wird geschoben und gedrängelt, jeder will der Erste sein, die neue Reisefreiheit auskosten. Schließlich geben die entnervten Grenzposten ihre Gegenwehr auf, vernünftige Befehle erhalten sie in dieser Nacht ohnehin nicht. Langsam und behutsam öffnen sie den Schlagbaum. Die Massen rennen schubsend und doch irgendwie geordnet über den Asphalt. Wann hatte man sich schon so gesittet angestellt, außer es gab im Konsum Bananen? Thomas Kiefer atmet tief durch. »So, nun bin ich also im Westen!« Wie aber nun weiter? Wo nun hin? Zum Kudamm wäre nicht schlecht. Aber wie? Einfach den Massen nach? Er kommt nicht dazu, seine Gedanken zu vollenden. Jemand drückt ihm ein Glas Sekt in die Hand. »Herzlich willkommen in der Freiheit!« Kiefer blickt dem Spender ins Gesicht. Der Typ meint das tatsächlich ernst. »Danke.« »Zum Wohl! Die Mauer ist weg. Prost!« Na schön. Und wie komme ich nun zum Kudamm? will er fragen. Doch er kommt nicht dazu, sein Gegenüber scheint Gedanken lesen zu können. »Und nun zum Kurfürstendamm!« Thomas schmunzelt. Scheint in zu


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