Wächterin. Ana Marna
erklangen. Sie registrierte nicht, wie kurze Zeit später ein Mann in Handschellen an ihr vorbeigezerrt wurde. Erst als ein Sanitäter neben ihr kniete und behutsam versuchte ihre Hände vom Bauch ihrer Tochter zu lösen, blickte sie hoch und sah ihn flehend an.
„Bitte helfen Sie ihr. Bitte!“
Er legte seinen Arm um sie und zog sie von dem Mädchen fort.
„Kommen Sie“, sagte er leise. „Ich werde alles Nötige in die Wege leiten.“
Valea blickte zurück und sah, wie ein weiterer Mann eine Decke über das weiße Gesicht zog.
Ein weißes Gesicht in einem Meer aus Blut.
Pressemitteilung
Gestern Nachmittag wurde ein gesuchter Mörder in einem Einkaufszentrum in Stuttgart gestellt und verhaftet. Dabei kam es zu einer Schießerei, bei der vier Menschen, darunter ein zweijähriges Kind, zu Tode kamen.
„Es tut mir so leid.“
„Sie sind jetzt in einer besseren Welt!“
„Es ist besser, wenn Sie sie nicht mehr sehen.“
Braune Erde und darunter ein blutroter See, in dem kalte Leiber treiben.
Pressemitteilung
Der mutmaßliche Serienmörder Pierre Leblanc konnte gefasst werden und wird vor Gericht gestellt. Ihm werden sieben ungewöhnlich grausame Morde sowie vier Tote während seiner Verhaftung zur Last gelegt. Die Staatsanwaltschaft hält die Beweislage für erdrückend und rechnet mit einer lebenslangen Haftstrafe.
„Frau Noack, warum wollen Sie nicht aussagen? Er hat doch Ihre Familie auf dem Gewissen.“
„Du musst darüber reden!“
„Wir sind für dich da.“
„Können Sie nicht doch ein Interview geben?“
Kalte Leiber, kalte Messer, Ströme von Blut, die zu einem See fließen. Einem rotkäppchenfarbenen See in dunkelbrauner Erde.
„Frau Noack! Können Sie mich hören? Wir haben Ihren Magen ausgepumpt.“
„Du musst darüber reden!“
„Wir sind für dich da.“
„Warum lässt du dir nicht helfen?“
„Selbstmord ist Todsünde!“
Pressemitteilung
Der Serienmörder Pierre Leblanc wurde rechtskräftig zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherheits-verwahrung verurteilt.
Eine Welt ohne Inhalt.
Verzweiflung, Einsamkeit. Zielloses Dahintreiben. Nichts interessiert. Nichts ist wichtig. Nur ein rotes Kleid auf einem Kinderbett, der Duft eines Aftershaves auf dem Kopfkissen. Erinnerungen, noch mehr Verzweiflung. Unendliche Schmerzen. Herzschmerzen. Kopfschmerzen. Haltloses Schreien. Noch mehr Verzweiflung. Aussichtslosigkeit.
Dezember 1997
Ulm, Deutschland
„Mami? - Mami, ich bin hier. Wir sind hier.“
„Mara, mein Herz. Wo seid ihr?“
„Hier, bei Dir. Vor Dir.“
„Mein Herz, ich kann euch nicht sehen.“
„Wir sind tot, Mami. Wir sind tot und können nicht gehen!“
„Bleibt bei mir, mein Sonnenschein. Mein Held. Bitte verlasst mich nicht. Ich brauche euch. Ich liebe euch so sehr.“
„Es ist kalt hier, Mami. Es ist kalt und macht mir Angst. Bitte lass uns gehen, Mami. Bitte lass uns los.“
„Mein Herz, ich kann nicht. Ich liebe euch so sehr. Ich brauche euch so sehr.“
„Valea!“
„Daniel, Liebster. Bitte lasst mich nicht allein zurück.“
„Das werden wir nicht. Wir sind immer bei dir. In dir und um dich herum. Doch zunächst musst du uns loslassen. Liebste, lass uns ziehen.“
„Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Ohne euch.“
„Du bist eine starke Frau, Valea. Dafür lieben wir dich. Wirf diese Stärke nicht fort. Andere werden sie brauchen. Lass los, damit wir bei dir bleiben können.“
„Mami, mir ist kalt.“
„Mein Herz, mein Liebster!“
Das dunkelrote Kleid lag auf der geblümten Bettdecke und schwieg.
Valea kniete vor dem Kinderbett und konnte den Blick nicht von dem Kleidungsstück wenden.
Wie oft hatte sie schon hier gesessen?
Zehnmal? Zwanzigmal? Hundertmal? Die Zeit war verschwunden. Nicht mehr existent. Nicht relevant.
Ihre Hand berührte zögernd das Kleidungsstück und strich zart darüber. Dann faltete sie es sorgfältig zusammen und erhob sich.
Der Feuerkorb stand schon lange im Garten. Wie lange? Die Zeit war irrelevant. Daniel hatte ihn mit Holz gefüllt. Sie hatten einen gemütlichen Abend geplant mit Feuerschein, Wein und guten Gesprächen.
Vorsichtig legte sie das Kleid in den Feuerkorb und zündete ein Streichholz an.
Es dauerte, bis der Stoff Feuer fing. Schwarzer Rauch stieg nach oben und der scharfe Geruch nach verbranntem Plastik drang ihr in die Nase.
Valea Noack stand still vor dem brennenden Feuerkorb, bis alle Glut erloschen war.
Dann drehte sie sich um und ließ ihr verbranntes Leben zurück.
Januar bis Oktober 1998
Ulm, Deutschland
„Können Sie mir helfen, wieder lebendig zu werden?“
Dr. Alexander Schönfeld betrachtete seine Patientin nachdenklich.
Valea Noack war eine junge Frau, gerade mal zwanzig Jahre alt, mit langen mahagonifarbenen Haaren. Sie war hübsch, aber über ihr lag die Aura einer großen Traurigkeit.
„Frau Noack, Sie sind lebendig.“
Ihre grauen Augen blickten ihn an. Sie waren unstet, verzweifelt.
„Vielleicht körperlich. Aber seelisch nicht. Ich fühle mich wie tot.“
„Glauben Sie mir, Frau Noack“, widersprach Alexander Schönfeld. „Wenn Sie sich wirklich tot fühlen würden, säßen Sie jetzt nicht hier. Sie sind traurig, sie sind verzweifelt, aber sie sind nicht tot.“
„Was soll ich jetzt tun?“
„Was haben Sie bis jetzt getan?“
„Geweint. Versucht, mich umzubringen. Mit Mara und Daniel geredet. - Glauben Sie an Geister, Dr. Schönfeld?“
„Geister? Nein. Innere Stimmen gibt es sicherlich. Vermutlich sind es eigene Gedanken, die sich verselbstständigen. Neuronenspielereien.“
„Vielleicht. - Aber es war nicht nur in meinem Kopf. Es war im ganzen Raum. Ich konnte sie nicht sehen, aber ihre Stimmen waren leise. In jedem Winkel des Zimmers.“
„Worüber haben Sie gesprochen?“
„Sie ... sie haben mich gebeten loszulassen. Sie ziehen zu lassen.“
„Haben Sie es getan?“
Valea Noack schwieg nachdenklich.
„Ja“,