Wächterin. Ana Marna

Wächterin - Ana Marna


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das habe ich. Sie haben so gelitten. Ich habe das Kleid verbrannt, das ich Mara gekauft habe.“

      „Das dunkelrote Kleid, welches Sie ihr zum Geburtstag schenken wollten?“

      Sie nickte. Dr. Alexander Schönfeld lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aufeinander.

      „Dann haben Sie bereits die ersten Schritte zu den Lebenden getan, Frau Noack. Das freut mich sehr.“

      „Aber es tut noch so weh. Und ich fühle mich innerlich so zerrissen. Die Zeit zerfließt und ich kann nichts halten. Meine Gedanken sind wie Blätter im Wind. Ich weiß nicht mehr, wie ich sie fassen kann.“

      „Hm, haben Sie es schon einmal mit Meditation versucht?“

      „Sie meinen, sowas wie autogenes Training?“

      „Ja, etwas in der Art. Es gibt da die verschiedensten Möglichkeiten. Vielleicht sollten Sie es tatsächlich mal probieren. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen ein paar Adressen.“

      Valea Noack hob die Schultern kurz an.

      „Sie sind mein Therapeut. Wenn Sie es für richtig halten, werde ich es versuchen.“

      „Gut. Aber dann hätte ich noch eine andere Aufgabe für Sie. Die wird etwas schwieriger sein und möglicherweise auch länger dauern.“

      Er beobachtete ihre Reaktion. Doch Valea Noack sah ihn nur aus ihren traurigen, grauen Augen an. War es vielleicht doch zu früh? Er betreute sie jetzt seit einem Dreivierteljahr, und heute war das erste Mal, dass sie mehr als zwei Sätze geredet hatte. Vor ihm saß ein anderer Mensch. Aus einer starren, sprachlosen Frau war eine traurige Person geworden, die es von sich aus geschafft hatte, den ersten Schritt nach vorne zu gehen. Und zwar einen bemerkenswert Großen. Es war wohl nicht zu früh.

      „Ich möchte, dass Sie sich ein Ziel suchen. Etwas, von dem Sie glauben, dass Sie es erreichen wollen. Das kann eine handwerkliche Tätigkeit sein, ein Beruf, ein Hobby, eine Sportart. Bedingung ist, dass es etwas ist, das Sie nicht in zwei Tagen erledigen können.“

      Sie überlegte kurz. „Beschäftigungstherapie?“

      Er lächelte zufrieden. „Genau.“

      „Habe ich eine Frist, bis ich mich entschieden haben muss?“

      „Nein. Aber ich werde in bestimmten Abständen nachfragen.“

       *

      „Ihr seid völlig entspannt und eure Arme und Beine liegen schwer auf dem Boden. - Stellt euch vor, wie die Fingerspitzen der rechten Hand anfangen zu kribbeln. Sie werden langsam warm. - Und jetzt wandert die Wärme über die Handfläche und den Handrücken langsam bis zum Handgelenk.“

      Valea lag mit geschlossenen Augen auf der Gummimatte und lauschte auf die sanfte Stimme. Es war angenehm, entspannt auf dem Rücken zu liegen. Schwieriger war es, die Gedanken nach den Anweisungen auf ihren Körper zu richten. Sie war erst skeptisch gewesen, doch jetzt, wo sie in sich hineinhorchte, spürte sie tatsächlich eine gewisse Ruhe in sich einkehren. Langsam breitete sich die erdachte Wärme in ihrem Körper aus und ließ sie noch mehr entspannen.

      „Stellt euch vor, ihr liegt an einem Strand, unter euch den warmen Sand. Ihr könnt die Sandkörner unter eurer Haut fühlen. Ihr hört das beruhigende Plätschern der Wellen und richtet euren Blick auf das Meer. Ihr seht das blutrote Wasser, wie es sanft über den Sand fließt, rote Schlieren hinterlassend, wie es steigt und auf euch zufließt. Rot und dick, und es wird immer mehr. Ich liege auf dem Rücken und kann mich nicht bewegen. Das rote Meer umfließt mich und hält mich gefangen. Es will nicht weichen. Es fließt über mich hinweg, es lässt mich nicht los. Die Welt ist rot. Blutrot.“

      „Valea, bitte wachen Sie auf. Um Himmels willen! Valea! Gott sei Dank, sie kommt wieder zu sich.“

      Valea sah das ängstliche Gesicht der Kursleiterin vor sich. Monika, erinnerte sie sich.

      „Was ist passiert“, fragte sie leise.

      „Sie - sie waren nicht mehr bei sich. - Himmel, Sie haben mir wirklich einen Schrecken eingejagt.“

      Valea richtete sich auf und sah um sich die anderen Teilnehmer stehen. Sie blickte in lauter verstörte, teils ängstliche Gesichter.

      „Was habe ich getan?“

      „Nichts, aber“, Monika holte tief Luft. „Sie waren wie hypnotisiert. Normalerweise schlafen die Leute eher ein, aber Sie - ich habe noch nie erlebt, dass jemand beim ersten Mal in eine so tiefe Trance gefallen ist. Geht es ihnen gut?“

      Valea spürte in sich hinein. Blutrote Gedanken.

      Nein, gut fühlte sie sich nicht.

      „Ich glaube schon“, log sie und setzte ein zaghaftes Lächeln auf. Die Leute um sie herum wirkten erleichtert, einige ein wenig verärgert. Aber das konnte Valea ertragen. Sie hatte auf den Rat ihres Therapeuten gehört, und dieser Rat war leider nicht der Beste gewesen. Blutrote Träume waren sicher nicht das Therapieziel. Sie würde darüber nachdenken müssen.

       *

      Die Bilder waren verstörend, so wie sie es in Erinnerung hatte. Fernsehnachrichten hatten Valea schon immer abgeschreckt. So viel Gewalt, Krieg und Verzweiflung in dieser komprimierten Fassung konnte einen nur depressiv werden lassen. Darin waren sich Daniel und sie immer einig gewesen.

      Und auch seit Daniels Tod war die Bildröhre still geblieben.

      Doch sie sollte sich ja auf die Welt der Lebenden zubewegen und dazu zählte wohl auch, dass sie wieder anfing wahrzunehmen, was um sie herum geschah.

      Dr. Schönfeld hatte ihr empfohlen, jeden Abend einen Nachrichtensender anzusehen. Heute hatte sie entschieden, es zu versuchen.

      Krieg, Gewalt, Mord. Eine blutrote Welt. Anscheinend unterschied sie sich nicht wesentlich von ihrer Eigenen.

      War das gut? Oder schlecht? Es war traurig.

      Wo waren die schönen Bilder? Lachende Kinder, liebende Hände, freundliche Gesichter? Gab es sie nicht mehr?

      Die anschließende Reportage: Ein Bericht über ein Kriegsgebiet in Afrika. Zerschossene Körper, weinende Kinder, fiebernde Gesichter, offene Wunden und verzweifelte Menschen.

      Valea saß wie gebannt vor dem Bildschirm und spürte nicht die Tränen, die in dicken Bahnen über ihre Wangen tropften.

      So viel Elend, so viel Traurigkeit. Eine blutrote Welt.

      Nur langsam gewahrte sie die andere Seite. Freundliche Gesichter, die Verbände wechselten, weinende Mütter trösteten und traurige Kindergesichter zum Lachen brachten.

      Schmerz brach sich in ihr Bahn. Der Schmerz, nicht selbst helfen zu können. Hilflos zuzusehen, wie das Blut in Strömen floss und die Welt in ein tiefes Rot tauchte.

       *

      Am zehnten Februar 1998 bewarb sich Valea Noack an der Universität Heidelberg für ein Medizinstudium. Aufgrund ihres ausgezeichneten Abiturs wurde sie sofort zugelassen und begann ihr erstes Semester im Herbst des gleichen Jahres.

      Dr. Alexander Schönfeld beendete die Therapie.

      Seine Patientin hatte die Welt der Lebenden endgültig betreten.

      April bis Dezember 1999

       Heidelberg, Deutschland

      „Valea, kommst du heute Abend mit in die Altstadt? Das Wetter ist fantastisch und einige Biergärten haben schon auf.“

      Valea zögerte. Wenn sie sich ihren Kommilitonen anschloss, würde sie erst spät in ihre Wohnung kommen. Dann wäre nur wenig Zeit zum Lernen übrig.

      „Ich überlege es mir“, antwortete sie mit einem freundlichen Lächeln. Der junge Mann verzog das Gesicht.

      „Das


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