Wächterin. Ana Marna
Leoparden ihre Opfer eher von hinten angriffen. Und sie ließen ihre Beute nicht einfach so herumliegen, sondern versteckten sie auf Bäumen. Aber sicher konnte sie sich natürlich nicht sein. Bisher hatte sie sich noch nie mit so etwas beschäftigt. Ihre Aufgabe war bislang das Heilen gewesen, nicht die Forensik.
Doch je länger sie das Opfer betrachtete, desto seltsamer kam ihr alles vor. Wer oder was auch immer diese Frau umgebracht hatte, war systematisch vorgegangen. Das Gesicht war völlig unversehrt, ebenso die Hände und Füße. Genau wie bei dem Mann von vor zwei Tagen. Dass eine Raubkatze so vorging, kam ihr eher unwahrscheinlich vor. Aber die Fraßspuren waren offensichtlich.
Langsam entfernte sie sich von der Leiche, um sie der trauernden Mutter zu überlassen. Hier konnte sie nicht mehr helfen.
Drei Wochen lang zogen sie von Dorf zu Dorf und halfen, wo es notwendig und möglich war. Nicht immer wurden sie mit offenen Armen empfangen, doch geduldiges Erklären und Abwarten brachten meistens jedes Misstrauen zum Erliegen.
Als sie ins Basiscamp zurückkehrten, waren jegliche Medikamente und Nahrungsvorräte aufgebraucht. Ebenso all ihre Kräfte.
Dr. Valea Noack war für gewöhnlich kein Mensch, der Urlaubstage in Anspruch nahm, doch auch ihr war klar, dass sie zumindest ein paar Tage benötigte, um wieder zu Kräften zu kommen. Dafür war aber Abstand zum Camp nötig. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie sonst doch wieder einspringen würde, wenn es nötig war.
Und eigentlich war es das immer.
Juli 2005
Kinshasa, Kongo
Valea Noack reiste nach Kinshasa und nistete sich für eine Woche in einem Hotel ein, das relativ zentral gelegen war. Zumindest hatte sie hier Internetanschluss und konnte sich Zugang zu den wichtigsten Bibliotheken verschaffen.
Das Hotel war groß und nicht gerade günstig, bot aber einen hygienischen Standard, den sie lange vermisst hatte. Es besaß ein gutes Restaurant und ein großes Schwimmbad, sowie andere Zerstreuungsmöglichkeiten.
Valea nutzte lediglich das Restaurant. In den ersten Monaten ihrer Tätigkeit hier im Kongo hatte sie ihre freie Zeit dazu verwendet, um die Stadt zu erkunden und ein Gespür für die Menschen zu bekommen. Doch mittlerweile war der Reiz des Neuen verflogen und sie minimierte ihre Aktivitäten. Sie benötigte Ruhe, und die fand sie nicht auf den lärmenden Straßen von Kinshasa.
Endlich bekam sie Gelegenheit, ihr Kata-Training wieder aufzunehmen. Im Camp langte die Zeit und natürlich auch der Platz nur für kurze Meditationsphasen. Diese verhalfen ihr immerhin zu mehr Gelassenheit und Ausdauer.
Hier in dem großen Hotelzimmer konnte sie auch mit ihrem Katana Übungen absolvieren.
Die ersten zwei Tage verbrachte sie mit Mugai Ryū, viel Schlaf und regelmäßigen Mahlzeiten im Hotelrestaurant.
Doch dann setzte sie sich an ihren Laptop.
In den letzten Wochen hatte sie häufig an die bedauernswerten Opfer des Leoparden gedacht. Bisher hatte sie zwar schon Tierbisse behandelt, doch eine solch brutale Tierattacke war ihr noch nie untergekommen.
Neugierig durchforstete sie die Literatur zu solchen Fällen und stieß dabei auf Bilder, die noch sehr viel schlimmere Verletzungen zeigten. Die meisten waren tatsächlich durch dokumentierte Tierangriffe entstanden. Doch bei einigen Fällen, in ihren Augen bei viel zu vielen, gab es doch Ungewissheit.
Zu ihrer Überraschung stieß sie auf zwei Fälle, die die gleichen Verletzungen zeigten, wie ihre beiden Opfer hier im Kongo. Neugierig vertiefte sie sich in die Dokumentationen. Eine Leiche war im Busch gefunden worden, doch die zweite vor etwa fünf Jahren hier in Kinshasa! In beiden Fällen gab es keine Zeugen, doch wurde an den Toten fremde menschliche Fremd-DNA gefunden. Das war schon ein wenig rätselhaft.
Wie kam eine von einem Leoparden zerfleischte Leiche mitten in eine Großstadt? Hatte jemand sie dort hingeschafft? Aber warum? Oder war es ein entflohener Zooleopard gewesen? Man hatte beide Opfer identifizieren können und ihren Verwandten mitgeteilt, dass sie wahrscheinlich von einem Raubtier getötet worden waren. Doch Zweifel blieben.
Seufzend schloss Valea die Dateien und stand auf. Es war Zeit für ihre Übungen. Vielleicht klärten sich dann auch ihre Gedanken.
Am nächsten Tag machte sie sich schon früh auf die Suche nach einem ganz bestimmten Mann. Sie hatte seinen Namen mehrfach im Zusammenhang mit diesen seltsamen Leopardenangriffen gelesen. Er war der Rechtsmediziner, der den Toten in Kinshasa untersucht hatte.
Es war hilfreich, dass sie sich selbst als Medizinerin ausweisen konnte, und so stand sie bereits am frühen Nachmittag vor einem älteren Wohnhaus in der besseren Wohngegend von Kinshasa und las den Namen Dr. Marc Moreau auf dem Türschild.
Kurz nach ihrem Klingeln öffnete ein dunkelhäutiges junges Mädchen.
„Sie wünschen?“, fragte sie in exzellentem Französisch.
„Mein Name ist Dr. Valea Noack“, lächelte Valea. „Ich bin zwar nicht angemeldet, aber könnte ich trotzdem mit Dr. Moreau sprechen?“
„Um was geht es?“
„Um ein Fachgespräch bezüglich eines alten Falles.“
Die junge Frau musterte sie von oben bis unten, doch dann nickte sie.
„Kommen Sie herein. Ich werde Dr. Moreau fragen, ob er dafür Zeit hat.“
Sie musste nicht lange warten. Kurze Zeit später wurde sie in ein großes Arbeitszimmer geführt. Das Zimmer war mit dunklen Möbeln aus der Kolonialzeit ausgestattet und Valea kam sich beinahe wie in einem alten Film vor.
Dr. Moreau entpuppte sich als ein kleiner, etwa siebzigjähriger Mann mit Halbglatze und grauem Schnurrbart.
Valea mochte ihn auf Anhieb. Er kam ihr lächelnd entgegen und schüttelte energisch ihre Hand.
„Wie kann ich einer jungen Kollegin behilflich sein?“
„Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mich spontan empfangen“, begann Valea. „Ich weiß gar nicht so recht, wie ich anfangen soll.“
„Dann erzählen Sie mir doch erst einmal, was Sie in den Kongo verschlagen hat. Ihrem Akzent nach stammen Sie aus Deutschland, nicht wahr?“
„Das haben Sie gut erkannt“, nickte Valea. „Ich arbeite zurzeit für Ärzte ohne Grenzen. In Kinshasa bin ich nur für ein paar Tage, um mich ein wenig zu erholen.“
„Und da rennen Sie gleich zu einem Kollegen um fachzusimpeln?“, schmunzelte er. Er führte sie zu einer kleinen Sitzgruppe. „Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee vielleicht? Oder Tee?“
„Ein Tee wäre nett.“
Er klatschte in die Hände.
„Cecilia“, rief er dann. „Sei so freundlich und bringe uns eine Kanne Tee. - Also, Dr. Noack. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich bin draußen im Camp und später dann im Busch auf zwei Todesfälle gestoßen, die - hm - sagen wir mal, ungewöhnlich sind und mich seitdem nicht mehr loslassen.“
Ausführlich berichtete sie von dem Verstorbenen im Camp und von der jungen Frau. Dann erzählte sie von ihrer Suche nach vergleichbaren Fällen, und dass sie dabei unter anderem auf den Toten aus Kinshasa gestoßen war.
„Er und noch ein anderes dokumentiertes Opfer weisen die gleichen Verletzungen auf.“
Dr. Moreau hatte bis jetzt kein Wort gesagt. Aufmerksam hatte er ihrer Erzählung gelauscht, und er wirkte ernst und konzentriert.
„Was kommt Ihnen an den Todesfällen seltsam vor?“, hakte er nach.
Valea überlegte.
„Die Verletzungen waren eindeutig die eines Raubtieres. Es wurde kein Schneidwerkzeug verwendet, und bei unserem Opfer im Camp haben wir bei der Obduktion Krallen- und Bissspuren identifizieren