Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner

Metastasen eines Verbrechens - Christoph Wagner


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alten Sack getan und einen ausrangierten Besen gefunden. Dann war er nach oben gelaufen, hatte aus der Speisekammer eine Mohrrübe geholt und dann noch aus dem großen Kleiderschrank im Schlafzimmer Papas alten Hut genommen, den der nicht mehr brauchte, weil Mama ihm einen neuen zu Weihnachten geschenkt hatte.

      Die anderen Kinder staunten nicht schlecht, als Fritz mit seinen Schätzen stolz den Abhang hinunter stapfte. Zuerst setzte er dem Schneemann den Hut auf, dann steckte er ihm die Mohrrübe als Nase in den Kopf. Zwei Kohlen waren die Augen, drei weitere der Mund. Und er setzte sie so geschickt, dass der Schneemann jetzt mit lachendem Gesicht auf die Kinder sah. Dann machte er mit vier weiteren Kohlen Knöpfe auf seine Brust und steckte den Besen in die Seite. Er trat zurück und betrachtete sein Werk.

      „Wie soll er heißen? Wir müssen ihm einen Namen geben!“, rief Georg laut.

      „Fritz!“, schlug Hannah vor. „Er hat ihn schließlich so schön hergerichtet.“

      „Das ist unfair!“, beschwerte sich Emanuel. „Die großen Schneeballen hätte er nie aufeinander bekommen. Das hab ich fast alleine gemacht.“

      „Angeber!“, fuhr ihm Marianne über den Mund. „Ohne meine Hilfe hättest du das nie geschafft!“

      „Hört auf zu streiten!“, ging Hannah wieder dazwischen. „Für mich heißt er Fritz. Fritz soll sich auch mal freuen können. Georg, Rachel, wie heißt unser Schneemann?“

      „Fritz! Fritz!“, riefen die Kleinen. Hedwig verstand zwar noch nicht recht, worum es ging, schrie aber freudestrahlend mit.

      „Wir tanzen jetzt um den Schneemann!“, rief da Hannah und nahm Fritz bei der einen Hand, die kleine Hedwig bei der anderen. Georg und Rachel schlossen den Kreis. Hannah improvisierte ein Lied:

      „Wir tanzen um den Schneemann,

      der heißt Fritz.

      Schneemann Fritz, Schneemann Fritz,

      du bist schön.“

      Die anderen Tänzer fielen schnell mit ein, während Marianne mit Emanuel etwas betreten abseitsstand. Der maulte: „Ich hab jetzt keine Lust mehr“ und er ging langsam nach oben. Marianne folgte ihm nach einer Weile, während die anderen Kinder ausgelassen weitertanzten.

      Da kam plötzlich ein Schneeball gegen den Schneemann geflogen und riss ihm den Hut vom Kopf.

      „Kommt alle hoch!“, hörten sie Emanuel rufen. „Wir schießen mit Schneebällen auf Fritz, den Schneemann, das macht Spaß!“

      „O ja, wir kommen!“, riefen Georg und Rachel und stürmten den Abhang hoch. Fritz und Hannah blieben unten. Weitere Schneebälle flogen. Die meisten verfehlten ihr Ziel. Doch dann schoss einer dem Schneemann die Mohrrübennase weg.

      „Hört auf, hört auf, macht ihn nicht kaputt!“, rief Fritz weinerlich. „Bitte, bitte!“

      Aber die anderen kümmerten sich nicht um ihn und warfen weiter. Da stellte sich Fritz tapfer vor seinen Schneemann, konnte einige Bälle abfangen und bekam auch welche ins Gesicht. Aber verhindern, dass der arme Schneemann mehr und mehr ramponiert wurde, konnte er nicht.

      Hannah hätte Fritz gerne geholfen. Aber sie fühlte sich auch für die kleine Hedwig verantwortlich und konnte nicht eingreifen.

      Da rief Emanuel von oben: „Guckt euch mal den Fritz an. Der ist auf einmal mutig geworden und will uns unsern Spaß verderben. Dem zeigen wir es aber!“

      Die Kinder rannten nach unten, Emanuel vorne weg. Er riss Fritz um und hielt ihn rücklings am Boden liegend fest. Marianne formte mit beiden Händen einen großen Schneeball und seifte den hilflos Zappelnden ein. Dann steckte sie ihm auch noch Schnee hinten in den Nacken. Georg und Rachel warfen mit Schnee auf die ganze Gruppe. Aber Hannah schrie: „Ihr seid Feiglinge! Alle gegen einen! Ich hol jetzt die Mama!“

      „Geh nur, alte Petze!“, gab Emanuel zurück und feixte. „Es ist aber niemand da! Die sind einkaufen gegangen!“

      Und dann sah es Georg als Erster. Fritzens hellgraue Wollhose färbte sich im Schritt dunkel.

      „Fritz hat in die Hose gemacht!“

      Die anderen sahen erst ungläubig Georg an und dann auf Fritz. Das Malheur war nicht zu übersehen. Emanuel prustete los: „Fritz ist ein Hosenpisser! Fritz ist ein Hosenpisser!“ Die anderen, bis auf Hannah, fielen im Chor ein. Die kleine Hedwig jedoch fing an zu weinen. Sie merkte instinktiv, dass hier etwas nicht in Ordnung war.

      Fritz war wie zu Eis erstarrt. Er schämte sich furchtbar. Warum passierte ihm das immer wieder, vor allem auch nachts, wenn er schlecht träumte? Und er träumte oft schlecht. Warum konnte er nicht einfach mit den anderen Kindern spielen? Warum war da immer dieses Etwas, das ihn festhielt?

      Da ließ Hannah Hedwigs Hand los und ging, ohne die anderen eines Blickes zu würdigen, auf Fritz zu, der noch immer weinend auf dem Rücken lag. Sie sah ihn mit ihren großen dunklen Augen liebevoll an. Der Spottchor war ganz plötzlich verstummt. Fritzens Miene hellte sich auf. Hannah nahm ihn an den Händen und half ihm auf die Beine.

      „Komm, wir gehen nach drinnen“, flüsterte sie.

      Sie nahm ihn an der linken Hand und griff mit der anderen ein Händchen der kleinen Hedwig. Langsam gingen die drei den Hang hinauf. Die anderen sahen ihnen schweigend nach. Auf halbem Weg drehte sich Hannah noch einmal um und rief nach unten: „Merkt euch eins: Wer Fritz noch einmal etwas tut, bekommt es mit mir zu tun!“

      „Da hab ich aber richtig Angst!“, rief Emanuel und lachte laut.

      Mariannes Gesicht aber war ganz ernst geworden. Sie war als Einzige schon alt genug, um zu begreifen: Sie waren zu weit gegangen. Viel zu weit. Sie hätte es verhindern müssen.

      Dienstag, 20. August 2013 (2)

      Um vierzehn Uhr traf sich das Ermittlerteam mit Spusichef Breithaupt für eine erste Bestandsaufnahme zu dem Mord vom Vormittag. Travniczek wollte gerade beginnen, da platzte Breithaupt heraus: „Kollegen, eine Sekunde, aber das muss jetzt sein, ich hab gestern einen köstlichen neuen Witz gehört!“

      Er ignorierte die abwehrende Handbewegung des Chefs und fuhr ohne Pause fort: „Ein großer Stift und ein kleiner Stift gehen spazieren. Sagt der große Stift zum kleinen Stift: Dann wachs mal, Stift!“

      Wie üblich lachte er über seinen Witz am lautesten, lehnte sich zufrieden zurück, da es ihm diesmal gelungen war, Travniczek zu überrumpeln, sog lustvoll den Duft von Frau Sieberts unschlagbar köstlichem Kaffee ein und sah gierig nach dem Teller mit den Keksen, der aber noch außerhalb seiner Reichweite stand.

      Dann begann Travniczek energisch: „Zuerst: Haben wir endlich etwas Brauchbares zum Überfall auf das Asylbewerberheim?“

      „Nein, nichts“, erwiderte Brombach, „und das frustriert mich maßlos. Wahrscheinlich hat Grundmann recht. Es handelt sich um Neulinge, die möglicherweise sogar irgendwo von außerhalb kommen. Da haben wir schlechte Karten.“

      „Da wird Wurlitzer aber jaulen“, meinte Travniczek. „Der steht mir auf den Füßen. Wir brauchen dringend Fahndungserfolge. Die BILLIG-Zeitung titelt: ‚AUF DEM RECHTEN AUGE BLIND! – So hätte der Überfall auf das Asylbewerberheim verhindert werden können.‘ Die haben herausgefunden, dass die Verkehrspolizei geschlafen hat.“

      „Da haben wir den Salat. Außer Strafzettel schreiben können diese Flaschen doch nichts“, fauchte Brombach. „Wenn die von der BILLIG-Zeitung in die Pfanne gehauen werden, ist mir das grad recht.“

      „Also, solange wir uns nichts vorzuwerfen haben“, meinte Travniczek beschwichtigend, „sehe ich das Geschreibe von diesen Schmierfinken einigermaßen gelassen. Deshalb zuerst zum Fall Lewandowski. Hier handelt es sich schließlich um Mord. Was wissen wir über das Opfer? Martina bitte!“

      „Benjamin Lewandowski, geboren am 26. September 1953 in Heidelberg, also knapp sechzig Jahre alt, freischaffender Architekt, wohnte seit 1977 in der


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