Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner
seiner Zunft als Architekt aufsteigen. Er könnte mit vielen lukrativen Anschlussaufträgen rechnen, mit anderen Worten: Es wäre ein Quantensprung in seiner Karriere.
Aber vielleicht war dieses Projekt für eine Einzelperson doch eine Nummer zu groß. Es gab noch unendlich viel zu tun, und langsam geriet er in Panik. Er wusste, dass sich auch renommierte Kollegen bewerben würden. Aber er wollte unbedingt gewinnen. Ohne Rücksicht auf seine Gesundheit hatte er schon mehrere Nächte hintereinander durchgearbeitet und dabei literweise Kaffee in sich hinein geschüttet. Aber dann ging es einfach nicht mehr. Die Bilder auf dem Monitor begannen plötzlich wild zu tanzen. Aber er wusste sich zu helfen. Schräg gegenüber von seinem Büro in der Friedrichstraße lag das Kurpfälzische Museum*. Schon seit Jahren hatte er dort immer wieder Entspannung gesucht, wenn ihn seine Kraft verließ.
Er pflegte sich dann für eine Stunde oder zwei vor eins seiner Lieblingsbilder zu setzen, etwa das Gemälde eines unbekannten Künstlers vom Hofnarren Perkeo mit einem Mandrill1 oder auch das Porträt eines unbekannten älteren Mannes, in dem er sein Spiegelbild sah, obwohl er gar keine äußere Ähnlichkeit mit ihm hatte. Sehr faszinierten ihn auch die Bilder zweier italienischer Künstler von der grandiosen Architektur Venedigs im hellen Licht der mediterranen Sonne. Im Saal der Kunst des Zwanzigsten Jahrhunderts waren es die Bilder von Carl Hofer2, die Ruhenden Mädchen, deren vollkommene Entspannung immer ansteckend auf ihn wirkte, und die Obststillleben aus den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, in denen er tief verborgen die zunehmend bedrückende Atmosphäre ihrer Entstehungszeit zu erkennen glaubte.
Jedes Detail dieser unvergleichlichen Kunstwerke versuchte er in sich aufzunehmen, die vollendete Harmonie seiner Proportionen zu erfassen, um dann schließlich nichts mehr zu bewerten, zu erkennen, zu bewundern, zu verstehen, sondern einfach nur noch zu schauen. Danach fühlte er seinen Geist so gereinigt, dass er wieder gestärkt an seine Arbeit zurückkehren konnte.
Wenn er besonders erschöpft war, setzte er sich vor das Prunkstück des Museums, den von Tilman Riemenschneider3 geschnitzten Zwölfbotenaltar4.
Dort saß er auch an diesem Dienstag. Er ließ seine Augen, wie schon so oft, über die Gesichter der verschiedenen Figuren schweifen, und wieder gelang es ihm nicht, deren Ausdruck auch nur annähernd in Worte zu fassen. Sie sprachen allein durch ihre Bildkraft zu ihm, und je länger er schaute, umso lebendiger wurden sie für ihn. Es war ihm, als träte er mit ihnen in einen wortlosen Dialog.
Schon lange saß er hier. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ganz weit weg waren die Pläne für die Industrieanlage. Er befand sich in einer Art Zwiegespräch mit der Figur des Petrus: Wie fühlst du dich, direkt neben dem Herrn, fragte er ihn. Und Petrus antwortete ihm:
Ja, ich stehe neben dem Herrn … ich bin eingebunden in das Kollegium der Jünger … aber dennoch fühle ich mich einsam … wage nicht zum Herrn aufzuschauen … will nicht mit dem Blick einem der Brüder begegnen … da ist die Sehnsucht nach etwas Fernem … etwas das tief unter mir liegt … der Himmelsschlüssel in der Hand macht mir Angst … ich habe nicht den Mut, ihn richtig festzuhalten … er droht mir zu entgleiten … ja, ich bewundere den Herrn … aber dennoch habe ich kein Vertrauen in die Zukunft … es wird alles zuschanden werden … der Traum einer besseren Welt wird sich nicht erfüllen …
Da betrat jemand den Raum und blieb hinter ihm stehen. Aber die Petrusfigur hielt ihn so gefangen, dass er es nicht merkte. Er hörte ganz kurz ein pfeifendes Geräusch, spürte noch einen Stich im Hinterkopf und die Gesichter des Altars verschwammen im Nichts.
*
„Wie geht es der Syrerin?“, fragte Hauptkommissar Travniczek in die Runde, als sie in ihrem Büro zur Morgenbesprechung zusammengekommen waren.
„Soweit ich weiß“, begann Melissa Siebert, „liegt sie weiter im Koma. Die Ärzte meinen, man kann nur hoffen. Aber – sie haben fremde DNA-Spuren an ihrem Körper gefunden. Die sind auf dem Weg hierher. Vielleicht gehören die ja zu jemandem, den wir kennen.“
„Schön wär‘s“, entgegnete Travniczek skeptisch, aber auch verärgert. „Ich bin allerdings wenig optimistisch. Breithaupt hat ja auch nichts Brauchbares gefunden. Grundmann meint, wahrscheinlich mussten da irgendwelche Neulinge eine Mutprobe ablegen. Die sind natürlich noch nirgends registriert. Wenn die Verkehrspolizei besser reagiert hätte, ständen wir jetzt anders da.“
„Aber wenigstens wird das Heim jetzt videoüberwacht“, meinte Brombach. „Da wird sich so etwas wohl nicht wiederholen.“
„Immerhin etwas. Aber – habt ihr wenigstens was zu diesem Lewandowski herausgefunden?“, fragte der Chef ungeduldig.
„Ich hab versucht, Näheres über diesen Reiterhof bei Neckargemünd in Erfahrung zu bringen“, sagte Melissa Siebert. „Es ist eigentlich ein kleines Schloss und läuft unter dem Namen ‚Zum deutschen Ross‘. Dort residieren Graf Dr. Baldur und Gräfin Reinhild von Blauwitz. Der Dame des Hauses geht es wohl vor allem darum, Jugendliche mit Pferden zusammenzubringen, im Reiten eine Seeleneinheit zwischen Mensch und Tier herzustellen. So irgendwie stand das jedenfalls auf deren Homepage. Neben ganz normalen Reitstunden werden auch Reiterferien für verschiedene Altersgruppen angeboten. Interessanter für uns ist der Herr Graf. Er ist 1942 geboren, also noch während des Dritten Reichs. Und er ist politisch aktiv als Schatzmeister der DND Baden-Württemberg. Ich hab auch noch in der Verwandtschaft recherchiert. Dabei bin ich auf den Vater des Grafen gestoßen: Graf Ferdinand von Blauwitz. Der war ein hohes Tier in der Waffen-SS: Obergruppenführer, entspricht einem heutigen Drei-Sterne-General. Der hat wohl mehrere schwere Kriegsverbrechen befohlen. Im Juni 1944 ist er gefallen.“
„Haben Sie die derzeitige politische Tätigkeit von Blauwitz genauer recherchiert?“, fragte Travniczek weiter.
„Ja, aber ohne brauchbares Ergebnis. Ich hab eine Bekannte in dem für rechtsradikale Umtriebe zuständigen Kommissariat. Blauwitz und dieser Reiterhof ist denen schon aufgefallen. Aber von Blauwitz gibt es keine politischen Äußerungen in der Öffentlichkeit, die strafbar wären. Und es gäbe zwar Hinweise auf dubiose Treffen in diesem Hof, aber das wär zu wenig, um dagegen vorgehen zu können.“
„Oder da sind mal wieder welche auf dem rechten Auge blind“, meinte Lange. „der NSU lässt grüßen.“
„Dann müssen wir den Hof eben eine Zeitlang selbst beschatten“, schlug Brombach vor.
„Langsam“, bremste Travniczek, „vorher hätte ich gern erst noch andere Informationen. Was habt ihr über Fritjof Fries?“
„Nichts, was einen konkreten Anhaltspunkt für uns ergeben würde“, erklärte Lange. „Nach den vorliegenden Unterlagen wurde er am 3. Februar 1923 in Mannheim geboren. Als Soldat der Wehrmacht an der Westfront eingesetzt, war er am 19. Oktober 1944 auf Heimaturlaub. In dieser Nacht kam es zu einem der schwersten Luftangriffe auf Mannheim. Er hat dabei wohl seine gesamten Papiere verloren. Ab 1. Februar 1946 war er in Hamburg gemeldet. Am 1. April 1950 ist er dann nach Argentinien ausgewandert. Er war dort als Geschäftsmann tätig.
Am 15. Mai 2003 ist er nach Deutschland zurückgekehrt und lebt seitdem hier im Michaelistift. Ich hab keinerlei Hinweise gefunden, dass er an irgendwelchen illegalen Dingen beteiligt war oder ist. Auch hat er keine relevante Nazivergangenheit. Bei der Entnazifizierung wurde er als Mitläufer eingestuft.“
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Frau Siebert ging an den Apparat und kam schnell wieder zurück.
„Es gibt Arbeit für euch. Im Kurpfälzischen Museum wurde eine männliche Leiche gefunden, erschossen.“
„Weiß man, wer es ist?“, fragte der Chef.
„Nein, bis jetzt noch nicht. Der Tote hatte wohl keine Papiere bei sich.“
„Dann machen wir uns auf den Weg.“
*