Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner

Metastasen eines Verbrechens - Christoph Wagner


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mit kahl geschorenem Schädel. Es würde mich gar nicht wundern, wenn sich dort eine Neonazigruppe illegal trifft.“

      „Und wie lange hat diese Veranstaltung gedauert?“

      „Das kann ich leider nicht genau sagen. Ich war bis gegen halb eins vor Ort. Da war noch niemand weggefahren. Und meine Mutter sagte mir später, Fries sei am nächsten Morgen nicht zum Frühstück erschienen.“

      „Haben Sie bei Ihren Recherchen irgendetwas gefunden, was direkt darauf hinweist, dass Fries an Kriegsverbrechen beteiligt war? Sie müssen verstehen, wir brauchen Konkretes. Nur dann könnten wir überhaupt erst Ermittlungen aufnehmen.“

      „Konkretes? Wissen Sie, ich habe versucht, Licht in die Vergangenheit dieses Herrn zu bringen, vor allem seine wahre Identität herauszufinden. Da bin ich leider nicht weitergekommen. Deshalb bin ich ja jetzt hier. Aber ich bin sicher, dass da etwas ist.“

      *

      „Was meint ihr?“, fragte Travniczek seine Kollegen, nachdem Lewandowski gegangen war.

      „Auf jeden Fall absolut vertrauenswürdig“, fand Lange.

      „Denk ich auch“, ergänzte Brombach. „Aber er hat zu wenig Konkretes. Kein Staatsanwalt wird da einen genügend großen Anfangsverdacht sehen, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten.“

      „Das ist leider wahr“, sagte Travniczek, dem seine Kollegen anmerkten, wie stark ihn die Erzählung Lewandowskis aufgewühlt hatte. „Aber trotzdem bin ich sicher, da ist etwas dran. Ich kann da nicht einfach sagen, leider nichts zu machen, und zur Tagesordnung übergehen. Dann ermitteln wir eben erst einmal ohne Staatsanwalt.“

      „Obwohl wir das eigentlich nicht dürfen?“, fragte Brombach.

      „Ich will euch da nicht unbedingt mit reinziehen. Wenn ihr nicht einsteigen wollt, mach ich es halt allein. Ich kann da nicht anders.“

      „Das klingt, als ob du persönlich betroffen wärst“, meinte Lange.

      „Bin ich auch.“

      Travniczek stand auf, ging zum Fenster, starrte eine Weile hinaus und kam schließlich wieder an den Tisch zurück.

      „Also, das sag ich euch jetzt im Vertrauen: Die erste Frau meines Großvaters war Jüdin. Mein Großvater hat sich nach dem Anschluss Österreichs an das Reich von ihr getrennt. Er wollte seine Beamtenkarriere nicht gefährden. Sie ist dann zu Verwandten nach Frankreich emigriert. Dort verlor sich dann ihre Spur. Ich gehe aber davon aus, dass sie nicht überlebt hat. Genau hab ich das nie herausgefunden.“

      Travniczek hatte ganz nüchtern erzählt. Seine beiden Kollegen schwiegen betroffen.

      „Wenn Lewandowski recht hat“, fuhr der Hauptkommissar fort, „und dieser Fries tatsächlich ein Kriegsverbrecher ist, wäre mir die Vorstellung unerträglich, dass der, wie so viele andere, ohne Strafe davonkäme, nur weil man ihm nichts mehr nachweisen kann.“

      Lange und Brombach sahen sich fragend an und nickten sich gegenseitig zu.

      „Natürlich sind wir dabei“, sagte Lange schließlich. „Fragen wir ganz konkret: Welche Ansatzpunkte ergeben sich aus der Aussage von Lewandowski?“

      „Ich denke, erst einmal zwei“, erklärte Brombach. „Wir durchleuchten das Leben dieses Herrn Fries und versuchen herauszubekommen, was es genau mit diesem Reiterhof auf sich hat. Wenn sich dort tatsächlich Neonazis treffen, sind ja vielleicht sogar die Typen dabei, die das Asylbewerberheim überfallen haben.“

      „Na, dann an die Arbeit.“

      Oktober 1930

      „Zwölf mal vierundzwanzig? – Fritz!“

      Der schmächtige blonde Junge, der als einziger Schüler der Klasse 2b ganz hinten allein in der Schulbank saß, bemerkte gar nicht, dass Hauptlehrer Ferdinand Scharff ihn aufgerufen hatte. Wie so oft hatte er verträumt aus dem Fenster gesehen und sich gefreut, dass nach mehreren Regentagen endlich wieder die Sonne schien.

      „Ach, träumt er mal wieder? Was soll denn aus ihm werden, wenn er immerfort träumt?“

      Paul Kammerer, der schräg vor Fritz saß, griff mit einer Hand nach hinten und stieß Fritz leicht an.

      „Paul!“, schrie Hauptlehrer Scharff ihn an. Seine blank polierte Vollglatze begann rot anzulaufen, sein akkurat weit nach oben gezwirbelter Schnurrbart fing an zu zittern und die breite Narbe, die quer über die linke Seite seines Gesichts lief, funkelte dunkelrot. „Du hast dich nicht umzudrehen! Wenn ich mit Fritz fertig bin, wirst du das zu spüren bekommen!“

      Inzwischen hatte Fritz Wiechmann bemerkt, dass er gemeint war, und starrte mit hochrotem Kopf auf Hauptlehrer Scharff.

      „Ja, will er nicht wenigstens aufstehen, wenn ich mit ihm rede? Meint er, er sei etwas Besseres, nur weil sein Vater Universitätsprofessor ist? Diese Flausen werden wir ihm austreiben!“

      Langsam und am ganzen Körper zitternd erhob sich Fritz und trat aus der Bank.

      „Nun – die Antwort?“

      Aber Fritz hatte die Frage gar nicht verstanden, und selbst wenn er sie gehört hätte, es hätte nichts genutzt, denn Zahlen, die aus mehr als einer Ziffer bestanden, waren ihm immer noch ein Rätsel. Er sah beschämt auf seine Füße.

      „Ja, kann er nicht wenigstens geradestehen? Bauch rein, Brust raus! Wir brauchen ganze Kerle, um die Schmach von Versailles zu tilgen! Nicht solche Jammerlappen! – Wann kommt endlich die Antwort? – Ich warte nicht mehr lange.“

      Hauptlehrer Scharff erhob sich langsam von seinem Katheder und nahm seinen Rohrstock, der immer griffbereit vor ihm lag. Ein voluminöser Spitzbauch verlieh diesem kleinen Mann im Verein mit einem nahezu fehlenden Hals ein groteskes Aussehen. Und so war er unter Seinesgleichen oft Ziel von Spott und Hohn. Deswegen unterrichtete er gern die Kleinen. Denen konnte er noch richtig Angst einflößen.

      „Also, dann frage ich eben noch einmal: Wie viel ist zwölf mal vierundzwanzig?“

      Leise und kaum verständlich kam die Antwort: „Weiß nicht.“

      „Habt ihr ihn verstanden?“, fragte er die anderen Schüler, natürlich ohne eine Antwort zu erwarten. „Ich habe ihn nicht verstanden. Und ich habe gute Ohren. Antworte er noch einmal, aber so, dass man’s verstehen kann! Und bilde er einen richtigen Satz!“

      Fritz nahm seine ganze Kraft zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, und sagte etwas lauter als vorher: „Ich weiß nicht.“

      „Es muss heißen: Ich weiß es nicht! Dummkopf! Sprich mir jedes Wort nach – laut und deutlich:

      - Ich“

      - „Ich“

      - „weiß“

      - „weiß“

      - „es“

      - „es“

      - „nicht!“

      - „nicht.“

      Bei jedem Wort ließ Hauptlehrer Scharff den Rohrstock laut pfeifend durch die Luft sausen.

      „So, er weiß es nicht! Dann muss man es ihm eben einbläuen, damit er sich‘s merkt. Komme er zu mir nach vorne!“

      Alle wussten, was das bedeutete.

      Langsam ging Fritz mit gesenktem Kopf nach vorne. Jetzt konnte er sich nicht mehr beherrschen. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Seine Augen starrten den Boden vor ihm an.

      „Will er mich nicht ansehen?“, schrie ihn Scharff an, als er vor ihm stand. „Das will ich ihn lehren!“

      Er griff dem Jungen mit der Linken unter das Kinn, hob ihm den Kopf an und gab ihm mit der Rechten eine schallende Ohrfeige, so dass alle fünf Finger seiner Hand auf der Wange zu sehen waren.

      „Und jetzt will


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