Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner
Ich bin jetzt bereits neun lange Jahre in diesem Haus. Ich zähle gar nicht mehr mit, wie viele Tischnachbarn sich in der Zeit schon auf Wolke sieben davongemacht haben. Aber Sie werden mir doch hoffentlich lange erhalten bleiben. Seit wann sind Sie im Haus?“
„Wir sind heute Vormittag angekommen“, antwortete Hedwig und versuchte, ihn freundlich anzusehen. Hannah war überrascht und froh, dass ihre Freundin von sich aus am Tischgespräch teilnahm. Denn sie konnte gar nicht richtig zuhören, so sehr war auch sie noch in dem Schmerz über den endgültigen Verlust ihrer Villa gefangen.
„Ich bin Ihnen gerne behilflich bei der Eingewöhnung. Ich sagte ja schon, ich lebe seit neun Jahren hier und kenne alles genau.“
„Dann haben wir ja wohl großes Glück gehabt, dass wir gerade zu Ihnen an den Tisch gekommen sind“, entgegnete Hedwig und versuchte zu lächeln.
Mittlerweile hatte eine Küchenhilfe die Suppe aufgetragen.
„Mal sehen, was die uns heute zumuten“, meinte Fries lachend. „In diesem Haus kann man sich wirklich sehr wohl fühlen. Aber das Essen – leider oft sehr fad. Ach, Grießklößchensuppe haben die heute mal wieder, die gibt es oft. Und die schmeckt ausnahmsweise richtig gut. Aber vielleicht bin ich auch verwöhnt. Wissen Sie, ich habe lange in …“
„Wer soll die Welt noch verstehen?“, unterbrach ihn wieder die schnarrende Stimme von Adolf Reimann. „Ein Nigger als Präsident in Amerika … und Deutschland von einer Frau regiert … da geht alles bergab … und beim Militär soll’s jetzt auch Frauen geben … dann gute Nacht, wenn der Russe kommt! ...“
Fries sah achselzuckend zu Hannah und Hedwig hinüber. Reimann war ganz rot im Gesicht angelaufen. Er schnaufte heftig. Dieses ungewöhnlich lange Statement hatte ihn offenbar sehr angestrengt. Fries legte ihm begütigend die Hand auf den Arm. „Reimann, beruhigen Sie sich. Alles halb so schlimm. Und uns kann es eh egal sein. Wir haben alles bald hinter uns. Sollen sich die Jungen damit herumschlagen.“
Der Alte drehte seinen Kopf zu ihm hin und wollte noch etwas sagen, hatte aber bereits vergessen, was es war. Sein Gesicht verfiel wieder in Ausdruckslosigkeit. Er wandte sich seinem Teller zu und begann geräuschvoll die Suppe zu löffeln.
„Wo war ich? Ach ja, beim Essen. Ich habe lange in Argentinien gelebt. Die können dort kochen!“
„Was hat Sie denn nach Argentinien geführt?“, unterbrach Hannah plötzlich seinen Monolog. „Argentinien“ hatte sie aufhorchen lassen.
Fries sah sie überrascht an. Die Frage schien ihn zu irritieren. Nach einer Weile antwortete er mit ganz anderer, deutlich leiserer Stimme: „Ach, wissen Sie, da war der Krieg, da habe ich Schlimmes durchgemacht. Und da wollte ich einfach nur noch weg.“
Eine Weile schwiegen alle. Fries sah abwechselnd auf seinen Teller und aus dem Fenster hinaus. Sein Gesicht strahlte jetzt längst nicht mehr so viel joviale Heiterkeit aus. Dann fing er ganz unvermittelt an zu erzählen.
„Wissen Sie, damals, es war Ende Oktober ’44, da war ich auf Heimaturlaub in Mannheim nach furchtbaren Gefechten an der Westfront. Aber ich kam vom Regen in die Traufe, in den schlimmsten Bombenangriff auf Mannheim während des Krieges. Ich war gerade zu Besuch bei einem Freund. Das rettete mir das Leben. Denn nach dem Angriff sah ich, dass unser Haus und alles drum herum zerbombt war, auch die Keller. … Meine ganze Familie ist in dieser Nacht ums Leben gekommen, verbrannt.“
Hier konnte er nicht mehr weitersprechen. Schon bei den letzten Worten war seine Stimme brüchig geworden.
„Ja, der Krieg“, entgegnete Hedwig. „Wie viele Leben hat er ruiniert ...“
Ohne auf Hedwigs Worte zu achten, fuhr Fries kaum verständlich fort: „Es kam noch schlimmer. Ich hatte eine wunderbare Freundin. Wir wollten heiraten, sobald der Krieg zu Ende war. Als ich nach ihr suchte, fand ich das Haus, in dem sie lebte, vollkommen zerstört vor. Ich habe sie nicht wiedergefunden.“
*
Nach dem Essen hatten sich die beiden Frauen zur Mittagsruhe zurückgezogen.
„Wir haben da ja wohl einen Leidensgenossen gefunden. Was meinst du zu ihm?“, fragte Hedwig.
Hannah ließ sich lange Zeit mit der Antwort: „Ja, mag sein.“
„Aber irgendetwas scheint dich an ihm zu stören.“
„Na ja … er hat mich unruhig gemacht. ... Das ist nur so ein Gefühl, ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. … Bevor er seine Geschichte erzählt hat, war er so laut, … als müsste er etwas übertönen …“
„Aber er ist doch auch sehr charmant. Mich macht es froh, dass wir hier gleich Anschluss gefunden haben.“
„Wahrscheinlich tue ich ihm ja Unrecht. Ich bin noch zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Ich will mich einfach noch nicht damit abfinden, dass ich nie mehr aus meinem schönen Turmzimmer auf Heidelberg hinunter sehen kann.“
„Aber vielleicht kann uns da eine neue Bekanntschaft helfen.“
„Ja, vielleicht …“
1 Der Graimbergweg verbindet am Schlossberg die Neue Schlossstraße mit der Klingenteichstraße. Dort wohnte auch die Lyrikerin Hilde Domin.
August 1924
„Fritzchen ist reingefallen!“, schrie die sechsjährige Marianne, „Tante Ruth, Tante Ruth, komm schnell!“
In panischer Angst rannte das Mädchen den Abhang hinauf zu der prächtigen Villa im Graimbergweg, die die Familien Wiechmann und Rosenbaum schon seit mehr als zehn Jahren gemeinsam bewohnten.
Ruth Rosenbaum saß an diesem heißen Augusttag bei offenem Fenster mit einer Strickarbeit in ihrem Wohnzimmer im ersten Stock, das zum Garten lag. Als sie das schreiende Kind auf das Haus zu laufen sah, schreckte sie auf, warf ihr Strickzeug hin und rannte die Treppe hinunter. In der Tür zum Garten stieß sie fast mit Marianne zusammen.
„Kind, was ist passiert?“
„Fritzchen ist – zum Teich – gelaufen – und ist reingefallen“, stieß sie weinend hervor.
„Du solltest doch aufpassen!“, schrie Ruth Rosenbaum, stieß sie zur Seite und hetzte, ohne weiter auf sie zu achten, zwischen den Apfelbäumen hindurch zum Gartenteich in der hinteren Ecke des Grundstücks hinunter. Am Rand kniete ihr kleiner Sohn, der dreijährige Emanuel, und versuchte weinend, mit seinen kleinen Händen Fritzchen zu erreichen. Aber seine Arme waren zu kurz. Die Mutter riss ihn weg, so dass er laut aufschrie.
„Nicht, dass du mir hier auch noch reinfällst!“
Sie sprang in den Teich, dessen Wasser ihr bis zu den Knien reichte, zog das Kind heraus und legte es auf den Rücken neben die Beckenumrandung. Sie schlug leicht auf seine Wangen.
„Fritzchen, aufwachen! Fritzchen, mach schon!“
Aber das Kind atmete nicht mehr. Die gelernte Krankenschwester legte ihren Mund auf den Mund des Kindes, blies heftig Luft in die Lungen und begann dann mit den Handballen in schnellen, rhythmischen Bewegungen den Brustkorb zusammenzudrücken und wieder loszulassen. Marianne und Emanuel standen mit bleichen Gesichtern daneben und sahen ihr angstvoll zu.
„Was steht ihr hier herum? Marianne, du kannst schon telefonieren. Lauf ins Haus und ruf Dr. Milbraadt an. Sag ihm, was passiert ist. Er muss sofort kommen! Sofort!“
Während Marianne loslief, hockte sich Emanuel neben seine Mutter und begann ganz sacht Fritzchens Füße zu streicheln.
Ruth Rosenbaum setzte mit sicheren Handgriffen Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung fort. Es war ein großes Glück, dass sie genau wusste, was zu tun war.
Sie lief im Gesicht rot an und ihr Atem ging hektisch. Mein Gott, mein Gott, lass ihn wieder aufwachen! Ich bin schuld, wenn er stirbt. Ich hätte besser