Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner

Metastasen eines Verbrechens - Christoph Wagner


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      „Können Sie uns möglichst genau beschreiben, was hier vorgefallen ist?“, fragte Travniczek.

      „Aber das hab ich doch schon am Telefon erzählt.“

      „Natürlich. Aber das war einer unserer Bereitschaftskollegen. Ich würde es gerne von Ihnen direkt hören.“

      „Verstehe.“

      Inzwischen hatte sich hinter Weber eine große Kinderschar zusammengedrängt, die die beiden Beamten neugierig aber auch ängstlich musterte.

      „Also, genau weiß ich das auch nicht. Wie das alles angefangen hat, haben mir nur die Bewohner berichtet. Eine Gruppe von Kindern hat dort auf dem Gelände auf der anderen Straßenseite Ball gespielt. Da sind dann plötzlich zwei junge Männer aufgetaucht, in so schwarzen Lederklamotten, mit Springerstiefeln und kahlrasiertem Schädel. Also Neonazis oder so. Die haben den Kindern den Ball weggenommen und kaputtgemacht. Die Kinder haben versucht wegzurennen. Aber ein kleines Mädchen haben die zwei Kerle erwischt und schwer verletzt. Die Mutter von dem Mädchen wollte ihm mit einer anderen Frau zu Hilfe kommen. Aber die Glatzen haben dann auch die beiden Frauen attackiert. Ich hab dann mitbekommen, dass da etwas passiert ist, und bin mit einigen Männern raus. Als diese Mistkerle gemerkt haben, dass wir mehr waren, haben sie sofort die Flucht ergriffen. Wir hinterher, aber leider konnten wir nicht verhindern, dass sie auf ihren Motorrädern abgehauen sind.“

      „Haben Sie die Nummern der Bikes?“, fragte Grundmann nach.

      „Leider nein, es ging alles viel zu schnell.“

      „Wäre auch zu schön gewesen.“

      „Als wir dann zurückgekommen sind, hab ich gesehen, dass die eine von den Frauen bewusstlos am Boden lag. Ihre Kleidung war ganz zerrissen und sie hat stark aus der Nase geblutet. Ich hab dann sofort den Notarzt verständigt. Der hat sie und das Kind in die Klinik gebracht. … Ich kann das alles noch gar nicht richtig fassen. Die Frau ist erst vor zwei Wochen mit ihren drei Kindern aus Syrien gekommen. Die haben die Hölle von Aleppo durchgemacht. Sie glaubte, endlich in Sicherheit zu sein, und jetzt das.“

      Travniczek merkte, wie auch in ihm die Wut hochstieg. Es fiel ihm sichtlich schwer, weiter ganz sachlich seinen Job zu machen.

      „Hatten Sie schon mal früher Probleme mit diesen Typen?“

      „Nicht wirklich. Seitdem wir hier verstärkt syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen haben, sind zwar immer mal wieder Motorräder hier durchgebrettert, und zwar viel zu schnell. Das waren bestimmt so ähnliche Typen. Wir haben uns daraufhin an die Verkehrspolizei gewandt. Die haben uns zugesagt, dass sie hier Radarfallen aufstellen wollen. Aber passiert ist bis jetzt noch nichts.“

      „Das alte Lied“, brummte Travniczek. „Erst muss das Kind in den Brunnen gefallen sein, dann kommt der Deckel drauf. Aber weiter zur Sache: Würden Sie die Kerle wiedererkennen?“

      „Schwer zu sagen. Die sehen doch alle irgendwie gleich aus.“

      „Ja, alle gleich blöd, da haben Sie recht“, meinte Grundmann sarkastisch. „Ich denke, wir machen jetzt Folgendes: Wir nehmen zuerst die Personalien von allen auf, die irgendetwas beobachtet haben. Die müssten dann heute Nachmittag auf die Direktion kommen. Wir zeigen ihnen dann die Bilder von unserer Kundschaft – vielleicht haben wir Glück und es waren alte Bekannte. Dann versuchen wir auch noch, Phantombilder zu erstellen. Hier wird jetzt das Gelände abgesperrt, auf dem sich der Vorfall ereignet hat, und in Kürze kommt die Spurensicherung. Einverstanden, Kollege?“

      Travniczek nickte.

      Aber Weber wurde unruhig.

      „Ich hätte eine große Bitte. Die Leute hier sind jetzt natürlich sehr verunsichert und verängstigt. Könnte nicht jemand von Ihnen hierher kommen und die Bilder zeigen?“

      „Das können wir machen“, sagte Travniczek sofort, da er merkte, dass sein Kollege widersprechen wollte. „Wenn wir Sie schon nicht schützen konnten, dann können wir Ihnen wenigstens da entgegenkommen.“

      *

      „Wie sieht das denn hier zurzeit mit Neonazis aus?“, fragte Travniczek seinen Kollegen, als sie wieder in ihrem Wagen saßen. „Ich bin seit knapp einem Jahr in Heidelberg. Vorfälle dieser Art hat es in dieser Zeit meines Wissens nicht gegeben.“

      „Wir hatten jetzt auch ziemlich lange einigermaßen Ruhe. Aber die Szene scheint in dem Moment aufgewacht zu sein, als die Bundesregierung bekanntgab, sie würde 5000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland aufnehmen. Das war jetzt aber die erste massive Aktion.“

      „Und wie organisiert ist die Szene?“

      „Dann hoffen wir mal, dass die Spusi was Brauchbares findet. Und zurück in der Direktion knöpf ich mir erst mal den Brehme von der Verkehrspolizei vor. Wenn die die Sache mit den zu schnellen Motorrädern ernst genommen hätten, wäre das heute wahrscheinlich nicht passiert.“

      Dienstag, 12. April 2011

      Es war morgens kurz nach neun. Die Sonne schien vom blauen Himmel, aber weit hinten über der Rheinebene kündigten dicke dunkle Wolken schon den nächsten Regenschauer an. Ein heftiger kalter Westwind blies durch die noch jungen hellgrünen Blätter der umstehenden Bäume.

      Am Parkplatz vor dem Michaelistift, einer Seniorenwohnanlage im Emmertsgrund, hielt ein dunkelroter, nicht mehr ganz neuer VW-Passat. Ein Mann mittleren Alters stieg aus. Er war nicht sehr groß gewachsen, und von seinem früher wohl blonden Haar war nur noch ein schmaler aschgrauer Kranz um eine blank polierte Glatze geblieben, in merkwürdigem Gegensatz zu seinem dichten Vollbart. Mit seinen freundlichen hellblauen Augen hinter kleinen runden Brillengläsern konnte er fast jedermann sofort für sich einnehmen.

      Er warf einen kurzen Blick auf die große Wohnanlage, öffnete dann auf der Fahrerseite die hintere Wagentür und rief nach drinnen: „So, die Damen, jetzt bitte aussteigen. Euer neues Heim erwartet euch schon.“

      Während er die Hecktür des Wagens aufklappte, um einen Rollator herauszuholen, stieg eine kleine alte Dame sehr mühsam aus. Es war seine Schwiegermutter, Hedwig Fahrenkopf. Ihr Rücken war tief gebeugt, das krausgelockte schneeweiße Haar so schütter, dass schon überall die Kopfhaut durchschimmerte. Tiefe Furchen durchzogen ihr Gesicht. Die Augen waren hinter dicken goldgefassten Brillengläsern kaum zu erkennen.

      Auf der anderen Wagenseite war eine zweite alte Dame ausgestiegen, seine Mutter, die emeritierte Mathematikprofessorin Hannah Lewandowski. Sie war schlank und noch ungebeugt, das lange weiße Haar hinten zu einem festen Knoten hochgesteckt, der Blick ihrer glänzenden dunkelbraunen Augen verriet Kraft: eine ehrfurchtgebietende, ja majestätische Erscheinung.

      „Dann wollen wir“, sagte der Mann und sie gingen langsam in Richtung Haupteingang. Der Weg führte vorbei an mehreren bis zu fünfzehnstöckigen Wohngebäuden, über eine breite Terrasse, in deren Steingeländer durchgängig Blumenkästen eingelassen waren. Verschiedenste Pflanzen, liebevoll gepflegt, blühten in allen erdenklichen Farben und verwöhnten das Auge. Kurz vor dem Eingang erregte die bronzene Skulptur eines Elefanten die Aufmerksamkeit der Besucher.

      Sie betraten die weitläufige Eingangshalle. Gleich linker Hand der Empfang, schräg in eine Ecke des Raumes eingelassen. Sie mussten eine Weile warten, ehe ein junger Mann in grauem


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