Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner
weitergehen. Die nächste Katastrophe war bereits programmiert, lange bevor sie eintrat.“
„Aber das geht doch dann immer so weiter.“
„Es muss nicht. Es gibt Hoffnung.“
„Jetzt widersprichst du dir aber.“
„Vielleicht. Aber ihr Jungen könnt es ändern.
„Wie soll das gehen?“
„Indem ihr endlich damit anfangt.“
„Womit?“
„Mit dem Nachdenken.“
1 Die Eichendorffstraße liegt im Süden von Heidelberg im Stadtteil Rohrbach
2 DIE ZEIT: Welt – und Kulturgeschichte, Band 12, S. 498ff
3 DIE ZEIT: Welt – und Kulturgeschichte, Band 13, S. 12ff
Mittwoch, 14. August 2013
Es war ein strahlender Sommermorgen, kein Wölkchen am Himmel. Ein leichter Wind wehte von Südosten. Noch war die Luft angenehm. Aber bald würde die Hitze wieder unerträglich werden, die schon seit mehreren Tagen Heidelberg fest im Griff hatte.
Vor dem Asylbewerberheim draußen im Pfaffengrunder Industriegebiet hörte man helles Lachen und freudiges Schreien. Auf einem Brachgelände auf der gegenüberliegenden Straßenseite spielten fünf Kinder, vier Mädchen und ein Junge, mit einem roten Ball. Sie kamen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Sprachen. Dennoch verstanden sie sich spielend und waren glücklich. Für Augenblicke konnten sie die furchtbaren Erlebnisse vergessen, die sie hier in der Fremde zusammengeführt hatten und die sie oft nachts nicht schlafen ließen.
Doch dann standen unversehens zwei junge Männer unter ihnen, kahlgeschoren, in schwarzem Lederzeug und Springerstiefeln. Die Kinder hatten sie nicht kommen sehen. Einer von ihnen fing den Ball auf, warf ihn seinem Kumpel zu, der warf ihn wieder zurück. So ging es eine Weile. Die Kinder waren erst arglos, hielten das für Spaß, wollten mitspielen, versuchten, den Ball zurückzuerobern.
Doch dann hatte der eine plötzlich ein Messer in der Hand, warf den Ball hoch und fing ihn mit dem Messer auf. Die Luft entwich zischend. Entsetzt schauten die Kinder auf den kaputten Ball, begriffen endlich, dass das hier kein Spaß war, und liefen schreiend davon. Eines der Mädchen war zu langsam. Es war die Kleinste, wohl gerade erst vier Jahre alt. Die beiden Kerle fassten sie und schubsten sie ein paarmal zwischen sich hin und her.
Dann griff sie der mit dem Messer bei den langen schwarzen Haaren, hob sie hoch – sie schrie fürchterlich – und durchschnitt ihr schönes Haar, so dass sie auf den Boden fiel. Ehe sie sich aufrappeln konnte, packte sie der andere mit festem Griff an den Händen. Er schlenkerte sie ein paarmal hin und her und sagte dann: „Na, du kleine Araberhure, wie gefällt dir das?“
Das Kind sah ihn völlig erstarrt mit großen Augen an.
„Ich hab eine Idee. Du lernst jetzt fliegen. Pass mal auf.“
Er fasste ihre Arme jetzt auch mit der zweiten Hand, drehte sich mehrmals wie ein Hammerwerfer um die eigene Achse und schleuderte sie dann in die Luft. Das Kind flog einige Meter weit, schlug auf der Straße auf, rutschte weiter, bis es an der Bordsteinkante zum Fußweg leise wimmernd liegenblieb.
In diesem Augenblick kamen wild gestikulierend zwei Frauen aus dem Haus gerannt, um dem Mädchen beizustehen. Die anderen Kinder waren hinter ihnen, aber sie blieben in der Tür stehen. Doch die Skins versperrten den Frauen den Weg und schlugen ihnen heftig ins Gesicht. Die eine konnte fliehen, während die andere niedergerissen wurde. Einer der beiden sprang auf sie, setzte sich auf ihren Bauch und legte ihr das Messer an den Hals. Die Frau zitterte am ganzen Körper.
„So, du Araberfotze, hast wohl gedacht, du kannst hier einfach nach Deutschland kommen und dir auf unsere Kosten ein schönes Leben machen. Nee, nee, is nich. Das werden wir zu verhindern wissen.“
Mit einem schnellen Griff riss er ihr Kopftuch herunter.
„Na, was hast du für schöne schwarze Haare! Die solltest du aber nicht unter dem Lappen da verstecken!“
Er packte eine dicke Strähne und schnitt sie mit seinem Messer ab.
„So, das war erst der Anfang. War wohl deine Tochter, die gerade fliegen gelernt hat. Ja, was mach ich jetzt mit dir? Ich nehm mal an, dein verfickter Alter bringt's nicht mehr so richtig. Ich werd dir‘s jetzt mal richtig besorgen, dass du weißt, was ein deutscher Mann ist.“
Er schob sein Messer unter ihre Kleidung und entblößte mit zwei schnellen Schnitten ihre Brüste.
„Was hast du denn da für schöne Sachen!“
Er krallte seine Hand in ihre linke Brust, so dass die Frau vor Schmerz aufschrie. In diesem Augenblick wurde er von hinten gefasst und nach oben gerissen. Erschrocken drehte er sich um. Es war sein Kumpel.
„Wohl völlig durchgeknallt! Du willst doch nicht dieses arabische Stück Scheiße ficken? Vergisst du, dass du ein Deutscher bist? Kein deutscher Mann treibt es mit einer Araberhure! Das ist Blutschande, kapiert? Na ja, du bist noch nicht lange bei uns. Erste Lektion: So eine muss man ganz anders behandeln. Nämlich so. Pass mal auf!“
Er schob seinen Kumpel beiseite und schrie die am Boden liegende Frau an: „Aufstehen, du Dreckshure!“
Zitternd versuchte die verängstigte Frau, mit der zerschnittenen Kleidung notdürftig ihre Brust zu bedecken, und kam allmählich auf die Knie. In diesem Moment trat sie der Skin mit voller Kraft in die Seite. Laut schreiend überschlug sie sich mehrmals und blieb dann auf dem Bauch liegen. Der Skin sprang hinterher und trat ihr noch ein paarmal heftig gegen den Kopf.
Er hätte sicher noch weitergemacht. Aber da kamen plötzlich fünf Männer aus dem Haus auf die beiden Angreifer zugerannt. Diese merkten, dass sie in der Unterzahl waren, und ergriffen sofort die Flucht. Sie erreichten gerade noch rechtzeitig ihre Motorräder, bevor die Männer sie einholen konnten.
Der größte der Verfolger versuchte noch, eines der davondüsenden Bikes festzuhalten. Dabei wurde er einige Meter mitgeschleift, musste loslassen, rutschte über den Asphalt und blieb benommen liegen. Die anderen wollten ihm wieder auf die Beine helfen. Aber er winkte ab und schrie: „Nummer!“, und zeigte auf die Motorräder. Aber sie verstanden ihn nicht und zuckten nur mit den Achseln.
„Scheiße, ohne die Nummern kriegt die Polizei die nie!“, fluchte er, kam wieder auf die Beine und eilte mit den anderen zurück zum Asylbewerberheim.
*
Eine gute halbe Stunde später fuhr ein dunkler Mercedes vor dem Heim vor. Zwei Männer stiegen aus. Der eine, klein, untersetzt, aber kräftig, trug trotz des sommerlichen Wetters eine hellbraune abgewetzte Lederjacke, der andere, lang, dürr und schlaksig, verwaschene Jeans und ein ausgeleiertes dunkelblaues T-Shirt. Als sie auf den Eingang zu kamen, liefen die Kinder, die sich dort tummelten, schreiend ins Haus.
„Willkommen scheinen wir hier nicht zu sein“, meinte der Lange.
„Kein Wunder, nach dem, was hier wohl gerade passiert ist“, gab der andere zurück.
Sie traten ins Haus. Der Mann, der vorher vergeblich versucht hatte, das eine Motorrad festzuhalten, kam ihnen ganz aufgebracht entgegen.
„Wer sind Sie, was wollen Sie?“
„Hauptkommissar Joseph Travniczek, Mordkommission Heidelberg“, sagte der Kleine mit der Lederjacke und zeigte seinen Dienstausweis. „Mein Kollege, Herbert Grundmann vom Jugenddezernat. Haben Sie uns angerufen?“
„Ja, ja, hab ich. Sie müssen entschuldigen, wir sind hier völlig durch den Wind, wir …“
„Sorry,