Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner

Metastasen eines Verbrechens - Christoph Wagner


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Ich bringe die neuen Mieterinnen: Frau Lewandowski, meine Mutter, und ihre langjährige Freundin, Frau Fahrenkopf, meine Schwiegermutter.“

      „Es freut mich ganz besonders, Sie begrüßen zu dürfen, Frau Professor Lewandowski“, sagte Frank Winterhorst. „Es ist uns eine besondere Ehre, dass Sie Ihren Lebensabend in unserem Hause verbringen wollen. – Aber natürlich auch Sie, Frau Fahrenkopf, seien Sie herzlich gegrüßt. Ich werde eine Kollegin rufen, die Sie in Ihre Wohnung geleiten wird. Sie können so lange noch dort drüben Platz nehmen.“

      Er deutete auf eine großzügige, mit hellbraunem Leder bezogene Sitzgruppe.

      Die beiden Damen sahen sich irritiert an. Sicher, Hannah Lewandowski war hier in Heidelberg fast dreißig Jahre Professorin an der Mathematischen Fakultät gewesen und hatte sie fünfzehn Jahre lang geleitet. Sie genoss wegen ihrer vielen vor allem auch populärwissenschaftlichen Bücher immer noch internationales Ansehen. Dennoch, eine solche Begrüßung hatten sie nicht erwartet.

      „Siehst du, Mutter?“, sagte ihr Sohn. „Man kennt dich hier immer noch.“

      „Warte, bis ich gestorben bin“, entgegnete sie mit sarkastischem Unterton. „Dann kräht bald kein Hahn mehr nach mir. Vielleicht benutzen ja noch ein paar Studenten meine Bücher. Aber das ist es dann.“

      „Stell mal dein Licht nicht unter den Scheffel“, entgegnete der Sohn. Die Mutter antwortete darauf nicht mehr und das Gespräch verebbte.

      Besonders sorgte er sich um seine Schwiegermutter. Denn erst vor einem Jahr war seine Frau, ihre einzige Tochter, an Krebs gestorben. Hedwig hatte sich von diesem Schicksalsschlag bis jetzt nicht erholt. Seit langen Jahren war sie es gewesen, die den gemeinsamen Haushalt organisierte, während Hannah wissenschaftlich arbeitete und Bücher schrieb. Aber das konnte sie dann auf einmal nicht mehr. Schweren Herzens mussten die beiden ihre gewohnte Selbständigkeit aufgeben und ins Michaelistift ziehen.

      „Das ist doch prächtig hier!“, versuchte er sie etwas aufzumuntern.

      Sie sahen sich um. Die rötlichen Naturziegelwände schafften eine behaglich warme Atmosphäre. Große Fenster im Dach sorgten für ausreichend Licht. Zahlreiche Grünpflanzen, ein großes Aquarium, viele Bilder an den Wänden und Ankündigungen von Veranstaltungen aller Art zeigten, wie sehr man hier bemüht war, den Bewohnern ihren Lebensabend so angenehm wie möglich zu gestalten.

      Da kam eine junge rothaarige Frau auf sie zu. Der Blick ihrer dunklen Augen wirkte streng.

      „Annette Siegwalt“, stellte sie sich sehr förmlich vor. „Frau Fahrenkopf und Frau Professor Lewandowski?“

      Hedwig nickte, während Hannah etwas mürrisch entgegnete: „Den Professor können Sie ruhig weglassen.“

      „Dann begrüße ich Sie herzlich, auch im Namen der Leitung des Hauses. Ich bringe Sie jetzt in Ihr neues Reich.“

      Langsam und zögernd erhoben sich die beiden alten Damen. Es schien, als ob sie eigentlich gar nicht mitgehen wollten. Benjamin Lewandowski, den Frau Siegwalt irgendwie übersehen zu haben schien, musste ihnen mehrmals aufmunternd zunicken, ehe sie sich in Bewegung setzten.

      „Ich gehe voraus“, sagte sie und führte die Ankömmlinge, ohne sich umzuschauen, durch einen langen breiten Gang zum Lift. Hier mussten sie warten und Frau Siegwalt sagte, nur um die gedrückte Atmosphäre etwas aufzulockern: „Wir müssen jetzt in den dritten Stock.“

      „Das wissen wir doch“, gab Hannah Lewandowski unwirsch zurück.

      Etwas irritiert versuchte Frau Siegwalt, das Gespräch am Laufen zu halten: „Sie werden sehen, wir haben alles nach Ihren Wünschen eingerichtet. Es wird Ihnen sicher sehr gut bei uns gefallen.“

      Niemand antwortete. Benjamin Lewandowski registrierte besorgt, wie die Gesichter seiner beiden Schützlinge immer starrer wurden. Besonders Hedwig schien dem Weinen nahe zu sein. Hoffentlich geht alles gut, dachte er.

      Nachdem sie im dritten Stock angekommen waren, ging Frau Siegwalt wieder voraus und der kleine Trupp bewegte sich langsam wie ein Trauerzug über den Gang, bog um mehrere Ecken, bis er die Wohnung erreichte. Frau Siegwalt schloss auf und ließ die beiden alten Damen vorausgehen.

      Durch einen kurzen Flur traten sie in das Wohnzimmer, dessen große Stirnfenster sehr viel Licht hereinließen und einen traumhaften Blick über die Rheinebene boten. Allerdings wollte das Wetter nicht mitspielen. Der April machte seinem Namen alle Ehre. Die Sonne war nun ganz hinter den tief hängenden Wolken verschwunden. Es begann zu regnen.

      Eine Weile standen die beiden still im Raum, ohne sich umzusehen. Da liefen Hedwig Fahrenkopf mit einem Male dicke Tränen über die Wangen.

      „Hannah, ich kann das nicht!“, rief sie schluchzend und barg ihr Gesicht an der Schulter ihrer Freundin. Der Regen schlug jetzt heftig gegen die Fensterscheiben.

      *

      Benjamin Lewandowski hatte viel Zeit und Kraft aufwenden müssen, seine Schwiegermutter einigermaßen zu beruhigen. Dann ging er hinunter zum Auto, um die Koffer zu holen, während Frau Siegwalt den neuen Bewohnerinnen die verschiedenen Örtlichkeiten zeigte: den Speiseraum, die Bibliothek, das Café, den Andachtsraum und den Veranstaltungssaal. Selbst ein richtiges Theater gab es hier, einen Friseur und auch noch einen kleinen Laden, in dem man alles für den täglichen Bedarf erstehen konnte.

      Gegen zwölf verließ Benjamin Lewandowski die beiden Alten, da er unbedingt einen Geschäftskollegen treffen musste. Hannah und Hedwig saßen nun schweigend auf ihrer neuen, mit hellbeigem Cordstoff bezogenen Wohnzimmercouch und hielten einander die Hände. Sie brauchten schon lange kaum noch Worte, um sich zu verständigen. Hannah war 1923 und Hedwig 1929 in der alten Villa am Graimbergweg geboren worden, und dort hatten sie nahezu ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht. Nur in den Wirren des Zweiten Weltkriegs waren sie getrennt, hatten Furchtbares erlebt, was sie hinterher umso inniger verband.

      Um Viertel nach zwölf klopfte es an der Tür. Hannah rief: „Herein.“

      Die Tür öffnete sich, eine kleine, zierliche Pflegerin asiatischer Herkunft trat ein und sprach sie sehr freundlich an: „Ich bin Fengzhi Zhang. Ich Sie zum Mittagessen bringen.“

      „Na, dann wollen wir“, erwiderte Hannah entschlossen.

      Sie gingen den gewinkelten Flur zum Aufzug zurück, fuhren hinunter ins Erdgeschoss und mussten wieder durch einen langen Gang gehen, ehe sie den Speisesaal erreichten. Fengzhi Zhang ging auf einen Tisch an der langen Fensterfront zu.

      „Hier Sie bitte Platz nehmen. Ich vorstellen Herr Adolf Reimann und Herr Fritjof Fries.“

      Während der Herr Reimann gar nicht reagierte, erhob sich Fries und begrüßte die Neuzugänge überschwänglich.

      „Seien Sie herzlich begrüßt, meine Damen. Ich bin ja so froh, dass wir endlich wieder Gesellschaft bekommen, und noch dazu so charmante. Ich will Sie ja nicht erschrecken, aber die beiden Damen, die früher hier saßen …“

      „Tief ist Deutschland gefallen ... jetzt sind die Chinesen schon hier“, unterbrach ihn sein Tischnachbar mit schnarrender Stimme.

      „Ach, Herr Reimann, das ist doch gar nicht weiter schlimm. Ganz im Gegenteil. Es gibt leider zu wenig Deutsche, die diese Arbeit machen wollen. Deswegen müssen wir doch froh sein, dass Menschen aus fremden Ländern zu uns kommen, um uns zu helfen. Und Fengzhi Zhang ist doch ausgesprochen freundlich und zuvorkommend, eine Bereicherung für das Haus.“

      Adolf Reimann brummte unverständlich vor sich hin, bevor er wieder in Schweigen verfiel und sein Gesicht einen völlig leeren Ausdruck annahm.

      Fries wandte sich wieder den beiden Damen zu. „Entschuldigen Sie, aber er lebt schon seit Jahren in seiner


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