Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner

Metastasen eines Verbrechens - Christoph Wagner


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hielt Travniczek kurz inne. Er musterte die Mienen der Anwesenden. Konnte einer von ihnen in die Tat verstrickt sein?

      „Das Außergewöhnliche an diesem Fall ist die Dreistigkeit des Täters“, fuhr er dann fort. „Vielleicht sind es ja auch mehrere, das wissen wir noch nicht. Aber gehen wir zunächst einmal von einem Täter aus. Er muss als ganz normaler Museumsbesucher hier hereinspaziert sein, abgewartet haben, bis sein Opfer allein in dem Raum des Riemenschneideraltars saß, und hat ihn dann kaltblütig von hinten erschossen. Danach konnte er das Museum ungehindert verlassen oder sich unauffällig unter die übrigen Museumsbesucher mischen. Niemand hat etwas bemerkt. Wir können aber auch eine andere Möglichkeit nicht ganz ausschließen – ich kann Ihnen das nicht ersparen, auch wenn es für Sie schwer erträglich sein dürfte: Der Täter könnte – rein theoretisch – auch hier unter uns sitzen.“

      Aufgeregtes Murmeln unter den Mitarbeitern. Einer der Jüngsten, sportliche Erscheinung mit kurzen, akkurat gescheitelten schwarzen Haaren und einem sehr kleingehaltenen, ebenso schwarzen Oberlippenbärtchen, sprang auf und schrie den Kommissar an: „Das ist doch unerhört! Sie können uns doch nicht einfach so verdächtigen!“

      „Da muss ich Herrn Pflaumer beipflichten“, schaltete sich Dr. Dr. Semmelroth mit hochrotem Kopf ein. „Was sind denn das für Wildwestmethoden! Wir sind ein seriöses Haus mit langer Tradition. Alle Mitarbeiter sind sorgfältigst ausgesucht. Da lege ich für jeden Einzelnen meine Hand ins Feuer. Ich erwarte, dass Sie sich entschuldigen.“

      Travniczek war sehr verblüfft über diese heftige Reaktion, fuhr aber ganz bedächtig fort: „Bitte beruhigen Sie sich. Es liegt mir fern, irgendeinen von Ihnen des Mordes zu verdächtigen. So kurz nach einer Tat habe ich überhaupt noch keinen Verdacht gegen jemand Bestimmtes. Ich frage jetzt nur danach, welche Möglichkeiten überhaupt bestehen. Und dabei darf es natürlich keine Denkverbote geben.“

      In diesem Moment öffnete sich die Tür. Brombach, der am Tatort geblieben war, sah herein und rief: „Chef, kommst du mal einen Moment? Es ist wichtig.“

      Etwas unwirsch wegen dieser Störung sagte Travniczek zu den Anwesenden: „Entschuldigen Sie mich bitte“, und ging nach draußen.

      „Michael, das kommt sehr ungelegen, was ist los?“

      „Sorry, aber es ist wirklich wichtig. Wir wissen jetzt, wer der Tote ist.“

      „Und?“

      „Sein Gesicht ist zwar durch den Austritt der Kugel sehr verunstaltet, aber ich hab ihn trotzdem sofort erkannt. Es ist Benjamin Lewandowski.“

      Travniczek war einen Moment sprachlos und knurrte dann: „Verdammt, das kann kein Zufall sein. Ich fürchte, das hat mit seinem Besuch bei uns letzte Woche zu tun. Wir haben seine Aussage nicht ernst genug genommen.“

      Januar 1932

      Über Nacht waren mehr als zwanzig Zentimeter Schnee gefallen. Die Kinder der Familien Wiechmann und Rosenbaum waren glücklich und aufgeregt und nur schwer am gemeinsamen Frühstückstisch zu halten, bis alle fertig waren. Die neuen Schlitten, die sie zu Weihnachten bekommen hatten, standen noch unbenutzt im Flur. Die Kinder hatten schon Angst gehabt, sie dieses Jahr gar nicht einweihen zu können, war es doch an Heiligabend noch mehr als zehn Grad warm gewesen. Aber jetzt, am Tag nach Neujahr, war der Winter doch gekommen. Und noch waren Ferien.

      Dann endlich: Vater Wiechmann erklärte das Frühstück für beendet. Die Kinder schossen los, zogen hastig ihre Gummistiefel an und die Mütter hatten es schwer, alle sieben davon zu überzeugen, auch Pudelmützen, Schals und Handschuhe anzuziehen.

      Die beiden Ältesten, Marianne und Emanuel, waren als erste im abschüssigen Garten und steckten zwischen den Apfelbäumen eine geeignete Rodelbahn ab. Dann sausten die Kinder lange immer wieder den Abhang hinunter, allein auf einem Schlitten sitzend, auf dem Bauch liegend oder zu zweit. Manchmal kam es zu Kollisionen und die Kinder purzelten quietschend in den Schnee. Und auch das Nesthäkchen, die kleine Hedwig, die erst drei Jahre alt war, wurde mit in das übermütige Treiben einbezogen. Vor allem Hannah setzte sie immer wieder vor sich auf den Schlitten, um mit ihr den Abhang hinunter zu fahren, und ihr helles Kleinkinderlachen übertönte den übrigen Lärm.

      Es war Emanuel, der irgendwann bemerkte, dass sich einzig Fritz an dem ausgelassenen Treiben nicht beteiligte.

      „Seht mal!“, rief er den anderen Kindern zu. „Fritz hat mal wieder Schiss! Er traut sich nicht.“

      Der Junge hatte die ganze Zeit in der Nähe der zum Garten führenden hinteren Haustür gestanden. Eigentlich wollte er loslaufen, um mit den anderen zusammen Schlitten zu fahren. Aber da war etwas, das ihn festhielt. Traurig sah er dem ausgelassenen Treiben zu.

      Doch jetzt kamen sie alle auf ihn zu gelaufen. Einen Moment lang wollte er in das schützende Haus fliehen. Aber auch das gelang ihm nicht.

      „Angsthase!“, schallte es ihm entgegen.

      „Du fährst jetzt auch“, lachte ihn Marianne an, „das wäre doch noch schöner.“

      Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn zu ihrem Startplatz. Fritz standen die Tränen in den Augen, aber er leistete kaum Widerstand. Seine große Schwester setzte ihn auf einen der Schlitten, Hannah drückte ihm die Schnur in die Hand und Emanuel gab ihm einen kräftigen Schubs.

      „Jetzt geht’s abwärts!“

      Die Kinder schauten ihm erwartungsvoll nach. Es kam, wie nicht anders zu erwarten. An der ersten Kurve, die sie in ihre Bahn eingebaut hatten, konnte er nicht richtig lenken. Der Schlitten stellte sich quer, kippte um und rollte mit Fritz den Abhang hinunter.

      Mit großem Hallo liefen die Kinder zu ihm. Es war ihm nichts weiter geschehen. Aber er weinte heftig, lief nach oben und verschwand hinter der Haustür.

      „Mit diesem Angsthasen ist einfach nichts anzufangen“, meinte Emanuel großspurig.

      „Ihr dürft ihn nicht so ärgern, er ist und bleibt doch einer von uns!“, schimpfte da Hannah und stampfte so heftig mit dem Fuß auf, dass der Schnee nach allen Seiten spritzte. Emanuel, immerhin einen Kopf größer als sie, sah ihr eine Weile herausfordernd ins Gesicht, konnte dann aber ihrem Blick nicht standhalten. Er drehte sich zur Seite, griff nach einem Schlitten und fuhr bäuchlings nach unten.

      Aber irgendwie hatten sie jetzt keine Lust mehr, noch weiter Schlitten zu fahren.

      „Wir bauen einen Schneemann!“, schlug da Hannah begeistert vor und die anderen waren sofort Feuer und Flamme. Sie rollten drei unterschiedlich große Kugeln zusammen und setzten sie übereinander. Marianne und Emanuel machten sich daran, an den Seiten noch Schnee festzuklopfen, damit er Arme bekäme.

      „Er braucht Augen, eine Nase, Ohren, Knöpfe auf der Brust, einen Hut, einen Besen in der Hand!“, riefen die Kinder durcheinander und wollten loslaufen, um sich auf die Suche zu machen.

      „Ich


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