Going Underground. Martin Murpott
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Auch in einer Wirklichkeit, die kein Sterblicher sehen kann und darf, bevor er nicht zumindest einmal das Zeitliche gesegnet hat, gaben sich deren Bewohner so etwas Profanem wie einer guten Flasche Whiskey, einer Zigarre und einem berufsbedingten Gespräch hin. Und ebenso fanden auch dort derlei Gespräche für gewöhnlich in einem Besprechungszimmer statt. In diesem Falle war selbiges dem großen Klubsitzungssaal der österreichischen Volkspartei nachempfunden und befand sich im neunten Stockwerk der Polizeiwache in Dead Lend. Statt einem Dollfuß-Porträt hing allerdings ein Porträt des lokalen Leibhaftigen an der Wand, was für Ferdinand von Krafft-Ebing als Sozialisten der ersten Stunde kaum einen Unterschied machte. Krafft-Ebing, seines Zeichens Dezernatsleiter für unautorisierte Gewalt- und Fluchtdelikte im Grazer Jenseits und gleichermaßen mit ausreichend Macht sowie Befugnissen legitimiert, schenkte sich erneut nach.
>>Ich brauch für diese Abteilung zumindest drei neue Mitarbeiter! Jetzt stell dich nicht so an, Chef... Immer ist irgendwer krank, im Urlaub oder versteckt sich irgendwo im Treppenhaus.<< Sein Gegenüber sah den blondhaarigen dicken Mann an, der wie eine nordische Version vom alten und bereits fetten Marlon Brando aussah, und schüttelte den Kopf. >>Du kennst die Regeln, nur Menschen, die eines unnatürlichen Todes und vor ihrer Zeit gestorben sind, dürfen rekrutiert werden.<<Dem Dezernatsleiter war dieses Grundproblem des polizeilichen Personalwesens natürlich bestens bekannt, aber es konnte ja nicht zuviel verlangt sein, gegebenenfalls ein wenig zu improvisieren. Immerhin näherte sich die Aufklärungsrate der unautorisierten Gewaltverbrechen schon fast der Frauenquote im Grazer Franziskanerkloster an. Dann auch noch diese eigenartige Alarmmeldung aus dem transzentmographischen Störungscenter von letzter Woche. Es half nichts, er brauchte definitiv mehr Leute. >> Wie wollen wir "Freund und Helfer sein", wenn noch nicht einmal genügend Beamte da sind, um ans Telefon zu gehen? Wir müssen auch ein wenig an unseren Ruf denken, der ja sowieso noch nie der beste war...<<
>>Aber Chef, du kennst doch die ganzen Leute, die vor ihrer Zeit sterben, da ist selten was Brauchbares dabei. Leider kommt es inzwischen relativ selten vor, dass ein guter Polizist im Dienst stirbt. Wir sind halt nun einmal kein mexikanischer Grenzort, und in einem Francis Ford Coppola-Film sind wir auch nicht.<< Rosegger dämpfte seine Zigarre im marmornen Aschenbecher aus, der neben ihm auf dem hölzernen Abstelltisch stand, rückte sich seine schwarze Krawatte zurecht und ließ eine demonstrative Denkpause folgen. Selbstverständlich hätte er sich diesen dramaturgischen Kniff sparen können, denn seine Antwort stand bereits vor dem Ausdämpfen der Zigarre fest, doch Rosegger legte Wert darauf, nie den Eindruck zu erwecken, er würde unüberlegte Entscheidungen treffen.
>>Ich habe NEIN gesagt, Ferdl. Entweder er stirbt unnatürlich oder er ist kein Fall für unsere Institution.<< Krafft-Ebing fragte sich, wie viele dieser verdammten schwarzen Krawatten, passend zum weißen Hemd und dem schwarzen Anzug seines Chefs wohl auf dessen verdammten Krawattenständer hängen mussten, nachdem er ihn seit 50 Jahren in nichts anderem mehr herum rennen gesehen hatte. Der Anzug in Kombination mit den zurückfrisierten schwarzen Haaren, dem kantigen und stets frisch rasierten Gesicht und den kalten blauen Augen verliehen ihrem Träger die permanente Aura eines Beerdigungsunternehmers, der sich seine Kundschaft notfalls selbst beschafft. Und genau darin lag auch Krafft-Ebings Hoffnung. >>Und wenn du ein bisschen nachhilfst, Chef? Ich meine theoretisch könntest du ja deine Kontakte und Beziehungen spielen lassen.<<
>>Das kann mich meinen Job kosten Ferdl, vor allem wenn die Allmächtige das Spitz kriegt.<<>>Solange jeder von uns dichthält, muss sie es ja nie erfahren<<, sagte Krafft-Ebing mit dem schelmischen Grinsen eines alten dicken Mannes, auch wenn diese Hoffnung angesichts der Bedeutung des Wortes "allmächtig" äußerst naiv erschien. Dann griff er nach der ebenfalls auf dem Abstelltisch stehenden Whiskeyflasche und dem dazugehörigen Glas des Chefs und schenkte diesem und sich selbst noch einmal kräftig nach. Hätte Krafft-Ebing geahnt, dass es vier weiterer Gläser bedurfte, um Rosegger ein "Meinetwegen, aber nur einer" abzuringen, hätte er wohl das eine oder andere Glas Wasser dazu getrunken. So waren die fürchterlichen Kopfschmerzen, von denen man auch im Jenseits nicht gefeit ist, der gerechte Preis dafür, dass er seinen Willen - wenn auch mit Einschränkungen - bekam. Der Deal sah so aus, dass es sich bei dem nachgeholfenen Sterbenden um keinen wie auch immer gearteten Exekutivbeamten handeln durfte. Dafür musste es jemanden sein, der keinen sonderlich entscheidenden Auftrag im Leben hatte und auch auf dem Arbeitsmarkt des diesseitigen Graz keinen wirklichen Verlust darstellen würde. Die endgültige Entscheidung darüber traf natürlich der Chef persönlich.
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Unter den zuvor genannten "Deal" dürften in der Studentenstadt Graz personell wohl insgesamt sehr sehr viele Absolventen der Sozial-, Geistes-, oder Erziehungswissenschaften fallen. Manchmal hatte man wirklich das Gefühl, als läge die Last des gesamten, chronisch unterbezahlten, linksliberalen Berufshelfertums von Südösterreich auf den angeknacksten Schultern der 290 000 Einwohner zählenden Murmetropole. Warum da die Wahl ausgerechnet auf den 33-Jährigen Soziologen Robert Ziegenstätter fiel, würde wohl für immer ein Geheimnis des Chefs bleiben. Vielleicht lag es daran, dass Robert vor Beginn seines Studiums auch eine Zeitlang in der Sozialpädagogik tätig war. Im weiteren Sinne zumindest. Rosegger hasste die Sozialpädagogen, egal wie weit sie gesinnt oder besser gesagt "ausgebildet" waren. Er empfand sie als vollkommen nutzlos. Die einzige Pädagogik, die er selbst als akzeptabel empfand, lag in einer täglichen Tracht Prügel, bei der man auch gerne mal den eigenen Ledergürtel zu Hilfe nehmen durfte. Abgesehen davon absolvierte Robert vor seiner pädagogischen und akademischen "Karriere" auch eine Lehre in einem obersteirischen Stahlwerk, dessen Ambiente gleich düster und dreckig erschien, wie Teile des jenseitigen Graz. So war zumindest nicht zu erwarten, dass ein optischer Kulturschock Robert in seiner zukünftigen Aufgabe behindern würde, auch wenn Robert von dieser Analogie - hätte er sie geahnt - wohl nicht so begeistert gewesen wäre. Der Gedanke, jemals wieder in einem obersteirischen Stahlwerk arbeiten zu müssen, erschien ihm so dermaßen abwegig, dass er noch nicht einmal auf die Idee kam, ihn zu Denken. Sollte Robert in seiner Aufgabe trotzdem vollends versagen oder dabei sogar zu erfolgreich sein, dann konnte ihn der Chef zumindest immer noch zur Arbeit in einem x-beliebigen Säuferlokal zwingen. Auch in diesem Milieu sammelte Robert