Going Underground. Martin Murpott

Going Underground - Martin Murpott


Скачать книгу
trug also Robert - nichts ahnend von seinem ihn bald ereilenden Schicksal - in der Grazer Herrengasse seinen unlängst neu gekauften MP3-Player spazieren. Unbewusst zum synkopierten 2/4-Takt von "Jimmy Jazz" am Nasenring herumpopelnd, philosophierte er dabei mit sich selbst über die heute stattgefundene Entscheidung, eine Lederjacke zu tragen.

      Der Frühling hatte vor Kurzem begonnen, und somit war es gerade die einzige Jahreszeit, in der es der Klimawandel noch zuließ, dass man mit eben einer solchen Lederjacke durch die Gegend zog, ohne dass man sich zu Tode fror oder wahlweise schwitzte. Als ehemaliger jugendlicher Vorzeigepunker hatte Robert sie früher selbst im Winter regelmäßig getragen, doch für subkulturelle Verhältnisse war er in den letzten Jahren relativ erwachsen geworden. Selbst seine bunt gefärbten Haare und zerrissenen Jeans gehörten inzwischen der Vergangenheit an. Nebenbei genoss er die Vorzüge die es hatte, wenn man nicht dauernd unter einer Verkühlung litt, weil man bei fünf Grad Minus sein Oberteil nicht zumachen konnte.

      >>Megaphon, Megaphon! Willst du kaufen, ist neu?<<

      Ein einfaches >>Ja<< auf die Frage des freundlich grinsenden schwarzafrikanischen Straßenzeitungsverkäufers hätte den Ablauf der Ereignisse zumindest um so viele Sekunden verzögert, dass das vom Chef inszenierte Ableben von Robert am Timing gescheitert wäre. Doch in dieser Hinsicht war der Straßenverkäufer für Rosegger durchaus nicht zum Spielverderber geworden, da Robert wie immer sein letztes Kleingeld für seinen obligatorischen Nachmittagskaffee im Cafe Centraal ausgegeben hatte. Auch in einer anderen Hinsicht hatte der Chef richtig spekuliert und wurde diesmal von Robert selbst nicht enttäuscht. Die Musik, welche aus den Kopfhörern seines MP3-Players kam, hätte auch etwas von Bob Dylan sein können und zwar auf einem bei Weitem niedrigeren Pegel, als es The Clash gerade taten. So aber hörte er die vorläufig letzten Worte seines dreiunddreißigjährigen Lebens nicht mehr, die aus einem lapidaren "Scheiße! Vorsicht da unten!" bestanden. Robert nahm folglich das bis dato einzige Klavier, das jemals per Flaschenzug aus dem vierten Stock eines Hauses in der Herrengasse gehievt worden war, erst relativ spät wahr. Besser gesagt, nahm er es erst wahr, als der am Boden entstehende Schatten dann doch fast seinen Zenit erreicht hatte. Zusätzlich entfaltete der ebenso obligatorische Pre-Centraal-Joint, den er zuvor in seiner ehemaligen Pärchenwohnung in der Griesgasse 12 geraucht hatte, gerade seine volle Wirkung. Seiner Reaktionsfähigkeit beraubt, wurde Robert so also buchstäblich von 184cm Körpergröße in der Vertikalen auf 184cm Körpergröße in der Horizontalen umgelegt. Das Klavier war schwarz, wog 345kg, und hatte als Markennamen "Going Underground" auf dem Gehäuse stehen.

      3

      Der dunkle Schleier vor Roberts Augen lichtete sich nur sehr langsam, was vor allem auch damit zu tun hatte, dass er mit dem Gesicht nach unten auf dem für diese Jahreszeit unglaublich warmen Asphalt der Herrengasse lag. Als die gelben Sterne welche um seinen Kopf schwirrten, allmählich verschwanden und er es schaffte, sich zuerst auf die Knie und dann auf die Füße zu stemmen, wäre er vor Schreck fast wieder auf die Fresse geflogen. Robert befand sich nach wie vor in der Herrengasse, allerdings war diese dreimal so breit wie zuvor, der Beton war brüchig und überall waren Straßenlöcher mit Teer aufgefüllt worden. Rund um ihn und sowieso überall gab es ein Gewirr von mal mehr, mal weniger abgewrackten Passanten, die in beide Richtungen strömten, ohne sich auch nur einen Dreck um ihn zu kümmern. Statt der ursprünglichen ihm bekannten zwei Straßenbahngleise gab es insgesamt fünf, wobei gerade eine gut 100 Meter lange und vollkommen verrostete Straßenbahngarnitur vorbeifuhr. Sie war voll gestopft mit Fußballfans des GAK und des SK Sturm, welche sich alle zusammen mit unglaublicher Freude quer durch die Wagons prügelten. Robert blickte mit weit aufgerissenen Augen der im Schritttempo fahrenden Straßenbahn nach, welche auch keinen Fahrer zu haben schien. Die Länge der Herrengasse dürfte sich offensichtlich ebenfalls vervielfacht haben, sodass ein Ende der Straße mit freiem Auge, zumindest wenn man keine Brille aufhatte, definitiv nicht erkennbar war. Besagte Bim war nämlich in Richtung Jakominiplatz unterwegs, welcher sich normalerweise von dieser Position aus auch im Weitblickfeld eines brillenlosen Roberts befand. Dass er eine Brille trug, war allerdings ohnehin nur selten der Fall, denn Robert unterlag einer gewissen Eitelkeit. Er benutzte seine Gläser hauptsächlich während des Autofahrens, beim Fernsehen, im Fußballstadion und wenn er sich am PC einen Porno anguckte. Eine weitere Straßenbahn, die mindestens gleich lang wie die erste war, kam selbiger entgegen. Sie wurde von gut einem Dutzend schwarz angezogener und schwarz bemalter Menschen gezogen. Auch was Robert sonst noch sah, ließ ihm die dreitagesbebartete Kauleiste fast bis zum Brustbein hinunter klappen. Links und rechts ragten bis zum Horizont unerwartet hohe Häuserschluchten auf, welche einen kruden architektonischen Stilmix aus renovierungsbedürftigen bürgerlichen Altbauten und verrottenden Sozialwohnburgen im siebziger Jahre - Stil bildeten. Das was den eigentlich grauen Hausfassaden an Farbe fehlte, wurde durch unzählige Graffitis, Leuchtreklamen und den unterschiedlichsten Werbeplakaten wettgemacht, die im Regelfall aber mit den Farben rot und schwarz auszukommen schienen und auf die unzähligen sich in der Herrengasse befindlichen Geschäfte, Pubs und Wirtshäuser hinwiesen. Einzig das Gebäude, vor dem er nur kurze Zeit zuvor von einem Klavier erschlagen wurde, schien leer zu stehen. Sämtliche Fenster und Türen waren mit Brettern zugenagelt und mehrere beschriftete Warnstangen wiesen darauf hin, dass hier auch im Frühjahr noch Lawinen und Musikinstrumente vom Dach fallen konnten. Zwischen den wohl zum Teil zwanzigstöckigen Gebäuden auf beiden Seiten waren immer wieder Seile von Fenster zu Fenster gespannt, auf denen hauptsächlich Wäsche, Fahnen und Lampions, aber zum Entsetzen Roberts ab und an auch menschliche Gliedmaßen aufgehängt waren. Der darüber liegende Himmel sah aus, als würden weder Sonne, Mond noch Sterne existieren und trotzdem war es nicht dunkel. Viel eher hatte es eine Helligkeit, die einem das Gefühl gab, als wäre gerade eben eine Atombombenexplosion am Abklingen. Die Luft knisterte, ohne Geräusche von sich zu geben. Sie war weder feucht noch trocken. Auch befand sich Robert in einem Zwiespalt darüber, ob es gerade saukalt oder schweinewarm war. Manche der Menschen, die an ihm vorbeigingen, hatten einen Schirm aufgespannt und interessanterweise regnete es auch nur über diesen, während andere trotz Sonnenhut einen mordsmäßigen Sonnenbrand aus dem Gesicht leuchten hatten. Robert war eigentlich kein Mensch, der ständig mit sich selbst zu reden pflegte, doch nachdem er zumindest einen Bruchteil seiner restlos verlorengegangenen Fassung wieder gewonnen hatte, platzte es schließlich aus ihm raus.

      >>Was zur Hölle ist hier eigentlich…<<>>So ungefähr<<, sagte die blonde, schlanke und großgewachsene Frau, welche fast wie aus dem Nichts kommend - dafür aber wie aufs Stichwort bestellt - plötzlich neben Robert stand, >>es ist nur nicht ganz so einfach wie man glauben möchte.<<>>Und wer zum Teufel bist…<< >>Der wäre ich gerne, aber auch diesbezüglich ist es ein wenig komplizierter als der einfache Mensch zu denken vermag<<, sagte sie und strecke Robert die Hand zum Gruße hin. >>Braun, Esther Braun, Bezirksinspektorin. Ich bin hier, um dich zu empfangen und ins Büro meines Bosses, den Dezernatsleiter für unautorisierte Gewalt- und Fluchtdelikte zu bringen. Willkommen im toten Graz!<<

      4

      Auch wenn das tote Graz entgegen Roberts erster Annahme weder am Feinstaub noch an seiner Langeweile gestorben war, so warf die neue Umgebung dennoch einige Fragen auf. Zur Beantwortung dieser führte Esther den immer noch völlig perplexen Robert entgegen ihres ursprünglichen Auftrages erst einmal über eine der zahlreichen Seitengassen, die von der Herrengasse abzweigten, in ein etwas ruhigeres Gefilde der toten Grazer Innenstadt. Nach ungefähr zehn Minuten Fußmarsch landeten Esther und Robert am ebenfalls im Zentrum gelegenen Glockenspielplatz. Selbiger war ebenso um ein Vielfaches größer als sein Pendant im Diesseits, war aber um einiges weniger stark frequentiert als die Herrengasse, wenn auch nicht wesentlich ästhetischer.

      Seinen Namen hatte der Glockenspielplatz zumindest im diesseitigen Graz deswegen, weil sich im Giebel des Hauses mit Platznummer 4 dreimal täglich ein Fenster öffnete und ein aus Holz geschnitztes Tracht tragendes Mädel und ein dazugehöriger Trachtenbursche zum Vorschein kamen und sich im Kreise drehten. Dazu erklang irgendeine Melodie, die von irgendwelchen Glocken gespielt wurde. Im Jenseits schien das Uhrspiel ebenfalls zu funktionieren. Es musste gerade 18:00 Uhr geworden


Скачать книгу