Going Underground. Martin Murpott

Going Underground - Martin Murpott


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Der Unterschied lag im sehr aufdringlichen Detail. Statt der Glocken erklang irgendwo im Hintergrund ein Schlagzeug mit Doublebass und nur das Mädel war in sein traditionelles steirisches Dirndl gehüllt, zusätzlich aber mit einer Art Hammer bewaffnet. Der Bursche trug statt seiner Lederhose einen Anzug, hielt eine Aktentasche in der linken Hand und bekam in den folgenden dreißig Sekunden das Schlagwerkzeug im Viervierteltakt auf den rechten Fuß gedroschen. Unter dem Fenster war ein Transparent gespannt auf dem "Lieber unsere Jugend besetzt fremde Häuser, als fremde Länder - AFA" zu lesen war. >>Ist nicht mehr im öffentlichen Besitz, sondern von antipazifistischen feministischen Autonomen besetzt. Ehemalige Touristenattraktionen zu besetzen, ist hier so 'ne Art Volkssport, weil es keine Polizeieinheiten gibt, die selbige wieder räumen würden<<, sagte Esther beiläufig. Ohne sich großartig um Roberts anhaltende Verwirrung zu kümmern, steuerte sie ein am Platz gelegenes Pub mit dem Namen Broken Bones an, welches wider Erwarten eine durchaus angenehme Atmosphäre bot. Von der Einrichtung her orientierte es sich an den klassischen irischen Pubs, in welchen Robert noch bis vor kurzem mehr Zeit verbracht hatte, als es seiner Leber gut tat.

      Das Pub bot Platz für ungefähr 70-80 Leute und war mehr oder weniger gut gefüllt. Esther wählte einen kleinen runden Tisch im hintersten Winkel des für Robert etwas zu klischeebeladenen irischen Lokals. Nachdem sie einem ebenso klischeebeladenen und hinter der Bar lümmelnden Kellner >>Zwei Krügerl bitte!<< zugerufen hatte, setzte sie sich auf einen mit rotem Leder bezogen Holzsessel. Das Nächste, was Esther relativ kommentarlos tat war, dass sie zuerst einmal extralanges Zigarettenpapier, Tabak und ein kleines, rotes, metallenes Blechdöschen aus ihrer roten Stoffhandtasche herausfischte. Rot schien wohl im jenseitigen Graz nicht nur äußerst populär zu sein, sondern generell die einzig vorhandene Komplementärfarbe. Robert ließ sich gegenüber von ihr in einen Sessel fallen und beobachtete sie dabei, wie sie völlig ungeniert begann, ein Gerät zu bauen. Auch wenn er sich immer noch nicht ganz im Klaren war, was hier eigentlich los war, beruhigte es ihn unheimlich, dass es in dieser absonderlichen Welt scheinbar nicht nur Bier gab, sondern auch relativ liberale Drogengesetze. Der Kellner, der als vermeintlicher Ire einen komisch anmutenden grün karierten Schottenrock trug, sich von einem roten Rauschebart das wettergegerbte Gesicht schmücken ließ und interessanterweise auf den Namen Sepp hörte, stellte zwei Krüge mit einem Lagerbier unbekannter Herkunft auf den Tisch. Dann schüttelte er sein langes gewelltes Haar auf, dessen frisurtechnische Gestaltung wohl den Haarschneideunterlagen von Mel Gibsons Rolle in Braveheart geschuldet war, und begann mit erwartungsgemäß akzentbehafteter Stimme zu sprechen. >>Grüße Esther! Und grüße wer auch immer du bist. Musst wohl der langerwartete neue Arbeitskollege sein, denn mit einem Stecher lässt sich die gute Esther so gut wie nie hier blicken. Ich bin jedenfalls der Sepp und besitze den ganzen Laden hier, also benimm dich sonst gibt’s einen Tritt in den Arsch. Cheers!<< >>Neuer Arbeitskollege?<<, fragte Robert mit gerunzelter Stirn und ungläubigen Gesichtsausdruck, nachdem der Besitzer genauso schnell wieder hinter der Bar verschwand, wie er gekommen war. Esther schob einen der zwei Krüge zu Robert hin, zündete den Joint an, und reichte auch diesen an ihren Gegenüber. >>Du trinkst jetzt erst einmal ein paar Schluck, nimmst ein paar Züge, und dann werden wir über alles, was mir auf die Schnelle einfällt und was von Relevanz ist, quatschen.<< Robert setzte vor allem den ersten Teil von Esthers geplantem Programm ohne weiteren Kommentar in die Tat um.

      Nach den ersten paar Schluck des herb schmeckenden No-Name-Bieres, das wie eine Art wundersames Lebenselixier durch seinen ganzen Körper strömte, und der eingehenden mehrmaligen Inhalation überstarken Marihuanas, ließ bei Robert erst einmal alles aus. Irgendwie fühlte er sich gleich einmal körperlich schwer sediert, aber trotzdem noch konzentrationsfähig. >>Geiles Zeug<<, dachte er sich, lehnte sich mit ausgestreckten Füßen zurück und sah Esther zum ersten Mal, seit sie sich ihm vorgestellt hatte, etwas genauer an. Robert hatte einmal in einer Boulevardzeitung gelesen, dass Männer an die zwanzigmal pro Tag an Sex denken und genau so ein Tageszeitpunkt hatte sich gerade eingestellt, denn Esther war hübsch und zwar so richtig. Sie war keine perfekte Hochglanzmagazin-Schönheit, und obwohl großgewachsen, auch kein steriler Model-Typ. Aber sie hatte Ausstrahlung, weibliche Rundungen sowie ein interessantes Gesicht, welches durch einen silbernen Nasenring noch zusätzlich betont wurde. Ihre unglaublich tiefen braunen Augen passten wie angegossen zu ihrem offenen und leicht gewellten schulterlangen hellblonden Haar. Die Form ihrer Brüste konnte er klarerweise nur erahnen, da sie unter einem etwas zu weitem ärmellosen Girlie-Shirt der Band Sonic Youth verborgen lagen. Wenn sie nur halb so gut waren, wie die ersten Alben der Band, dann wusste er jetzt schon, dass er sie gerne einmal anfassen würde. Sie war alternativ, irgendwie Achtzigerjahre-Style, und er schätzte sie auf maximal fünfundzwanzig. Sie trug einen schwarzen Minirock und darunter – wie konnte es anders sein – rote Leggings, die in achtlöchrigen ausgewetzten Doc Martens verschwanden. Auch diese Körperregion ließ viel Platz für seine sexuellen Fantasien, die relativ bald zugunsten von Interesse, Verwunderung, Entsetzen und Erstaunen verblassen würden. Denn Bezirksinspektorin Esther Braun begann erst einmal damit, Robert vor vollendete Tatsachen zu stellen, bevor sie ihm zwei Stunden, drei große Biere und drei Tüten lang eine kleine Einführung über das Jenseits und das Grazer Jenseits im Speziellen gab.

      Was sich Robert insgeheim schon fast gedacht hatte, wurde ihm von Esther bestätigt. Prinzipiell war er tot, denn im Regelfall überlebt kaum jemand die Auswirkung eines Konzertflügels, der einem aus gut fünfzehn Metern auf die Birne donnert. Auch seine Annahme, dass er sich an einem Ort befand, der dem durchschnittlichen Lebenden nicht als Tourismusziel angeboten wurde, stellte sich relativ bald als wahr heraus. Und doch hatte er sich das Jenseits etwas anders vorgestellt. Das tote Graz war nur eine von vielen, aber durchaus miteinander verbundenen, jenseitigen lokalen Welten, auch wenn es keinen nennenswerten oder notwendigen überregionalen Austausch gab, sofern man von Verwandtenbesuchen absah. In weiterer Folge stelle das tote Graz einen Bestandteil der jenseitigen Steiermark dar, die wiederum Bestandteil des jenseitigen Österreichs war, das – welch' Überraschung – Bestandteil des jenseitigen Europas war. Das Ganze konnte insofern aber als belanglos betrachtet werden, da das tote Graz, wie die meisten anderen jenseitigen Welten, durchaus autonom verwaltet wurde und übergeordneten Konstrukten wie Land, Staat oder irgendwelchen internationalen Bünden kaum Rechenschaft schuldig war. Die Zeit in der jenseitigen Welt lief parallel zur Zeit im Diesseits, also auch hier schrieb man das Jahr 2014. Das tote Graz selbst hatte seine Ursprünge bereits in der römischen Kaiserzeit im ersten Jahrhundert nach Christus, als sich hier die ersten Bauern niederließen und irgendwie im Hinterkopf hatten, dass das Leben nach dem Tod weitergehen könnte. Angeblich war dem ersten in Graz gestorbenen Bauern nach seinem Ableben für ein paar Wochen unglaublich langweilig, bis ihm dann seine Frau folgte und er sich die Ruhe zurückwünschte. Letztendlich blieben sie jedoch trotzdem ein Paar, da sich Yolo der Viehzüchter schlichtweg als zu unfähig erwies, alleine einen Haushalt zu führen, und Ida ihn ja doch irgendwie mochte, ihren unrasierten Brummbären. Außerdem kam in den Hochzeitszeremonien der ersten Siedler auch noch nicht der Satz „Bis dass der Tod uns scheidet“ vor, womit dieses Argument ebenso flach fiel.

      >>Schau Robert, die Sache ist doch ganz einfach. In dem Moment, wo die Menschen begonnen haben, an eine Existenz danach zu glauben, kam diese auch zu Stande. Hat wohl irgendwann vor 125 000 Jahren in Südostanatolien angefangen, aber ich bin da geschichtlich nur bedingt bewandert.<< Robert hatte beim Zuhören inzwischen jenen Blick angenommen, den ein indigener Urwaldbewohner in Südamerika an den Tag legt, wenn er zum ersten Mal ein Flugzeug über den Dschungel fliegen sieht. >>Ja aber, ich meine, wieso…<< Esther betrachtete eingehend den Inhalt ihres halbvollen Glases, bevor sie weiterredete. Als grenzenlose Optimistin war ihr Glas nie halb leer. Negative Perspektiven begannen sich bei Esther meist erst dann zu entwickeln, wenn im Broken Bones die letzte Bestellrunde angekündigt wurde. >>Wie ich feststellen muss, fehlen dir wohl auch die Basics, aber es sei dir verziehen, immerhin bist du ja ein Frischling...<<>>Dann klär mich endlich auf!<<Genau das versuchte sie dann auch, jedenfalls so weit sie es konnte. Es war völlig unwahrscheinlich, dass es jemals einen Menschen geben würde, der das tote und lebende Universum in seinem vollen Umfang verstehen konnte.

      Verantwortlich für das Zustandekommen eines Jenseits generell, beziehungsweise der jeweiligen lokalen


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