Die Legende der irischen Wolfskönigin. Gerhard Kunit

Die Legende der irischen Wolfskönigin - Gerhard Kunit


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* *

      Der Weg von Aris Hütte ins Innere der Cuil-Irra-Halbinsel führte über offenes Weideland und stieg sanft an. Nach einer Viertelstunde erreichten sie die erste Anhöhe. Drei Meilen vor ihnen ragte die langgezogene charakteristische Silhouette des Knocknerea an die tausend Fuß hoch empor und das flache Steingrab auf seinem Rücken berührte die grauen Wolken, die der Wind rastlos nach Osten trieb.

      Maeve hielt inne und sah zurück. Südlich, fast schon am Ufer des Meeresarms, der tief in das Land einschnitt bis zum Hafen von Ballysadare hinüber, schmiegten sich Ballydolans Bruchsteinhäuser an die Anhöhe, die von der kleinen Kirche gekrönt wurde. Noch gestern dachte Maeve, sie stünde dort seit Anbeginn der Zeit, so wie die ausladenden Eichen, die den ummauerten Friedhof beschatteten. Heute wusste sie es besser.

      „Bal Dochlan lag weiter im Landesinneren“, erklärte sie ihrer Mutter. „An der Küste war es zu unsicher.“ Als ihr ausgestreckter Arm nordwärts wanderte, kam sie ins Stocken. „Es liegt … es war … bei unserem Haus. Von hier oben hat Medbh den Angriff geführt, und dort drüben wurden die fremden Soldaten von unseren Berserkern niedergemacht. Aber da war dort noch alles Wald.“

      Das Mädchen stockte, und Ari legte ihr die Hand auf die Schulter. „Geht’s dir gut?“, erkundigte sie sich besorgt und Maeve nickte tapfer.

      Seite an Seite marschierten sie weiter und ließen das ausgedehnte Cuillean-Moor rechts liegen. Der Richtung nach könnte Sligo das Ziel sein, die Stadt, in der der englische Lord wohnte, doch da gab es einen bequemeren Weg über die Straße. „Wo gehen wir hin?“ erkundigte sich das Mädchen, doch die Mutter beschied ihr abzuwarten und schritt tüchtig aus. Mit Bedauern sah sie ein Büschel Gelbnattern, die gegen allerlei Entzündungen halfen, doch die empfindlichen Blüten würden den Tag nicht überstehen. Sie ließ das Kraut unberührt und merkte sich die Stelle für den Rückweg.

      An den nördlichen Ausläufern des Moors schwenkte Ari nach Westen. Hier begann eine weitläufige von zahlreichen Buckeln durchzogene Ebene. Maeve mied diesen Ort, doch an Stelle der Scheu, die sie für gewöhnlich von hier fernhielt, trat eine unerwartete Faszination. Noch einmal fragte sie nach dem Ziel und diesmal deutete ihre Mutter zum Gipfel des Knocknerea, der jetzt vor ihnen lag. Ein sanfter Schauer überlief das Mädchen. Wolfsberg sagten die Dörfler und schlugen Schutzzeichen, sobald die Sprache auf ihn kam, doch sie empfand Ehrfurcht vor der Kraft, die von dem Berg ausging.

      Höher und höher stiegen sie, und der Blick über das Land wurde weit. Sie sahen bis Ballysadare im Südosten und bald auch das Städtchen Sligo, das die Halbinsel im Nordosten begrenzte. Dichte Wolken zogen ostwärts, durchbrochen von Fingern, die lichte Flecken auf das dunkelgrüne Land zauberten, und als sie den flachen, weitläufigen Gipfel erreichten, erstrahlte das mächtige Hügelgrab für wenige Augenblicke in gleißendem Licht, ehe die Sonne wieder dem Schatten wich.

      Ari lenkte ihre Schritte um das Grab herum und Maeve sah das offene Meer, das die Cuil-Irra von drei Seiten umschloss. Der Wind war hier kühler, packte ungehemmt an, und obwohl Maeve die wilde Stimmung genoss, zogen sie sich bald auf die Leeseite zurück. Ari breitete ihren Umhang aus, und sie setzten sich. Das Mädchen platzte vor Neugier, doch die ungewohnte Schweigsamkeit ihrer Mutter erfüllte sie mit Sorge.

      Endlich fasste sich Ari ein Herz und begann zu erzählen: „Es hat einen Grund, warum ich dieses Gespräch hier führen möchte. Es ist jetzt sechs Jahre her, es war Herbst und ich suchte nach Kräutern, im Moor und beim Hügelfeld. Plötzlich heulten Wölfe und ich erschrak, als ich erkannte, wie nahe mir die Tiere sein mussten. Eine Wölfin tauchte so plötzlich vor mir auf, als wäre sie aus dem Nichts erschienen. Ich zog mich vorsichtig zurück, doch nach wenigen Schritten stellte sich mir ein ganzes Rudel in den Weg. Ich wähnte mich verloren und betete zur Alten um ein gnädiges Ende, aber es kam anders. Die Wölfin wandte sich um und lief zum Knocknerea, schlug genau den Weg ein, den wir heute genommen haben. Sie sah sich nach mir um, vergewisserte sich, dass ich ihr folgte, und mir blieb auch gar keine Wahl, da mir das Rudel jeglichen Ausweg verwehrte.“

      Ari hielt inne, und Maeve sah sie fragend an. „Schließlich kam ich hierher“, fuhr die Mutter fort. „Eine weitere Wölfin erwartete mich und heulte zum Himmel, als sie mich sah. Dann trat sie beiseite, und ich sah ein lebloses Bündel hier am Grab. Neugierig trat ich heran, immer zu den wachsamen Tieren schielend – und erschrak. Es war ein Kind, fast noch neugeboren, leblos. Ich fürchtete, es wäre tot, doch ich habe mich geirrt. Die Wölfe haben mich zu einem Mädchen geführt mit pechschwarzen Haaren und irritierend hellen Augen. Sie haben mich zu dir geführt, und weil ich dich an Medbhs Grab gefunden habe, nannte ich dich Maeve, nach ihr, nach der Wolfskönigin.“

      Das Mädchen sah sie aus großen Augen an. „Du bist …. Du bist nicht …?“

      „Ich bin nicht deine Mutter“, bestätigte Ari. „Obwohl ich immer versucht habe es zu sein. Ich habe dich im Sinn der Wölfin erzogen, soweit das in unserer Zeit möglich ist. Du kennst die Orte der Kraft, die Steine, den heiligen Hain, du weißt um die Wirkung der Kräuter, und so wollte es Medbh für ihre Tochter, sonst wäre ihre Wahl nicht auf mich gefallen.“

      Maeve legte den Kopf in ihren Schoß und schloss die Augen. „Du bist meine Mama, und das wirst du immer bleiben.“

      Ari sah in die Ferne, weit in die grüne Insel hinein und der traurige Zug verschwand von ihrem Gesicht, als die Sonne endgültig durch die dunklen Wolken brach. „Wir werden sehen“, flüsterte sie, und strich über die Haare des Mädchens, bis ihre Atemzüge ruhig und gleichmäßig gingen.

      * * *

      Das Mädchen begutachtete den Eisenhut, der nicht wachsen wollte, und schon einen guten Fuß hinter seinen Nachbarn hinterher hinkte. „Was ist mit dir?“, flüsterte Maeve und strich über die Blätter der Staude. „Na gut“, sagte sie plötzlich. „Ich seh nach.“

      Sie nahm ihren Grabstock, kniete sich hin und grub entlang der Wurzen hinab, bis sie auf etwas Hartes stieß. „Du hast recht“, gestand sie der Pflanze zu und scharrte, bis sie ein ellenlanges Metallstück aus dem Erdreich ziehen konnte. Sorgfältig schloss sie die Erde, streichelte nochmals über die Blätter und goss den Stock.

      „Jetzt geht es dir sicher besser“, befand sie und nahm dann ihren Fund in Augenschein. Das Stück war von der Zeit zerfressen, aber die Eleganz der schmalen, spitz zulaufenden Form war noch zu erahnen. Zuerst dachte Maeve an eine Dolchklinge, doch dann wusste sie, was sie da in der Hand hielt. „Das ist meiner“, flüsterte sie andächtig, während das verwitterte Metallstück an Kontur gewann, bis es im Schein der Feuer mattgolden schimmerte. „Das ist Fangzahn.“ Ihr Blick folgte dem drei Schritt langen Schaft aus polierter Esche bis zu seiner Spitze, und sie dankte der Waffe für ihre treuen Dienste.

      „Los jetzt“, befahl sie nach einem letzten Blick auf die Kampfstatt. „Wir müssen meinem Bruder beistehen.“ Ulgacha schnalzte mit der Zunge, doch ehe das Rudel anzog, sprang Eillean herbei, hing sich außen an den Wagen, und eine rothaarige Furie folgte ihrem Beispiel.

      „Du willst den Spaß doch nicht ohne uns genießen?“, rief die Blonde. Ihr Körper war ebenso mit Erde und Blut besudelt wie ihr Haar, doch ihre Augen funkelten angriffslustig, und die Zähne blitzten, als sie hysterisch lachte.

      Den ganzen Weg bis zur Küste war von Dommaghs Männern nichts zu sehen, doch der anschwellende Lärm der krachenden Waffen und Schilde ließ keinen Zweifel an einem erbitterten Gefecht. Erst von der Anhöhe über dem Meer konnte Medbh die Situation überblicken. Die Axtkämpfer hatten den Gegner bis an die beiden klobigen Schiffe zurückgedrängt, doch dort hatte sich der Widerstand versteift. Gefallene beider Seiten zeugten von der Bitterkeit, mit der dieser ausgeglichene Kampf geführt wurde.

      Während Ulgacha den Wagen den steilen Hang hinunter jagte, erhaschte Medbh einen Blick auf ihren Bruder, der seinen Mann stand, aber hoffnungslos zwischen den Kämpfenden eingekeilt war. Die Formation der disziplinierten Speerkämpfer hielt seinen Angriffen stand, und es war eine Frage der Zeit, bis die Coughnacht ermüdeten.

      Die Prinzessin stutzte, als sie den hünenhafter Krieger sah, der die feindliche Schar befehligte. Nicht nur seine Rüstung und sein Helm glichen dem Anführer, den sie vor Bal Dochlan


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