Die Legende der irischen Wolfskönigin. Gerhard Kunit

Die Legende der irischen Wolfskönigin - Gerhard Kunit


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„Ich finde das schön, dass du jetzt mit uns spielen darfst.“

      „Ich auch“, befand Tom. „Der Sommer macht mit dir viel mehr Spaß. Willst du heute bei uns zu Hause schlafen?“

      Maeve schüttelte den Kopf. „Manchmal fürchte ich mich noch im Dorf“, sagte sie.

      Die anderen sahen sie überrascht an.

      „Ihr habt mich an den Haaren gezogen und Erde nach mir geworfen. Die Erwachsenen haben mich angespuckt oder mit ihrer Faust bedroht“, brach es aus ihr heraus. „Glaubt ihr, es ist schön, als Feenbalg beschimpft zu werden? Alle haben mich ausgelacht und beschimpft, und manche tun es noch. Dieser Seamus ist am schlimmsten.“

      „Das tut mir leid“, sagte Eileen und legte ihren Arm um Maeves Schultern. „Ehrlich. Und Seamus ist sowieso ein Idiot. Du hast meinen kleinen Bruder gerettet. Das vergess ich dir nie.“

      „Meine Mama hat ihm geholfen“, wehrte Maeve ab. „Ich hab nur zugesehen.“

      „Patrick erzählt da was anderes“, beharrte Eileen. „Er sagt, seine Brust wär ganz heiß geworden, als du deine Hand draufgelegt hast, und dann hätt er wieder Luft gekriegt.“

      „Manchmal wünschte ich mir, ich hätte einen Bruder oder eine Schwester“, sagte Tom nachdenklich. „Aber Mama ist tot, und Papa weint manchmal, wenn er glaubt, ich schlafe schon.“

      „Ich hab auch keine Geschwister“, sagte Maeve. „Aber Mama und ich kommen gut zurecht. Trotzdem würde mir ein kleines Brüderchen gefallen. Da hast du Glück, Eileen.“

      „Wo ist dein Papa?“, erkundigte sich Eileen.

      „Weiß ich nicht“, sagte Maeve. „Ich glaub, ich hab gar keinen.“

      „Jeder hat einen Papa“, beharrte das blonde Mädchen.

      „Vielleicht wirst du ja bald meine Schwester“, sagte Tom, und seine Miene hellte sich auf. „Ich würd mich freuen.“ Er bemerkte Maeves verwunderten Blick. „Ist dir noch nie aufgefallen, wie mein Papa deine Mama anschaut? Das sieht doch ein Blinder.“

      „Wo hast du den Spruch denn her?“, erkundigte sich Eileen schnippisch.

      „Von deiner Mama“, trumpfte der Junge auf. „Die hat’s deinem Dad erzählt, und der hat gelacht.“

      „Ich weiß nicht“, warf Maeve schüchtern ein. „Ich könnt mir das schon vorstellen, dich als Bruder, aber ich glaub, Mama ist lieber alleine.“

      Die Kinder lagen im Gras, sahen den ziehenden Wolken nach und lauschten dem Lied der Grillen. Vieles ging Maeve durch den Kopf. Das Krachen der Äxte mischte sich in den rauen Ton der Kriegspfeifen und die Schreie der Kämpfenden. Ein Rabe krächzte, und als sie sich nach ihm umwandte, stand sie plötzlich in einem Kreis heiliger Steine. Eine junge Priesterin kniete vor dem Zentralstein und richtete ein Opfer aus geflochtenen Kräutern. Ihr blondes Haar schimmerte im Sonnenlicht, als sie den Kopf hob und Maeve geradewegs in die Augen sah.

      * * *

      „Schau!“, rief Tom. „Ist das riesig!“

      Maeve öffnete die Augen, und der Tagtraum zerstob. Ein Schiff lief mit halben Segeln in die Bucht. „Ist das ein Engländer?“, erkundigte sie sich.

      Tom nickte. „Siehst du die Flagge ganz hinten? Das rote Balkenkreuz auf dem weißen Grund? Und das blaue Rechteck mit dem doppelten roten Kreuz ist unsere neue Fahne.“

      „Deren Fahne“, widersprach Eileen. „Wir sind Iren.“

      „Siehst du den hellen Streifen mit den Luken?“, fuhr Tom unbeirrt fort. „Hinter jeder einzelnen ist eine Kanone, und der hat ….“ Sein Finger huschte durch die Luft. „Sechzehn nur auf dieser Seite und nochmal zehn am Deck.“

      „Wo der wohl hinwill?“, fragte Maeve, doch Ballysadare war sowieso der einzige Hafen, der für ein so großes Schiff geeignet war.

      „Die wollen uns zeigen, wie stark sie sind“, sagte Eileen und spie angewidert aus, wie sie das von ihrem Vater kannte, sobald das Gespräch auf die Engländer kam. „Und die Frage lautet: Was wollen sie von uns?“ Sie sprang auf. „Kommt mit. Ich sag Papa Bescheid. Vielleicht müssen wir uns verstecken.“

      * * *

      Eilig brachten sie Raum zwischen sich und die Schiffe. Medbh musste sich schwerer auf ihren Bruder stützen, als ihr lieb war, und jeder Schritt bereitete ihr Schmerzen. Ulgacha kam mit dem Wagen und zog sie mit Dommaghs Hilfe auf die Plattform. Als sie außerhalb der Reichweite der seltsamen Waffen waren, hielten sie an, sahen zurück und sammelten die zurückflutenden Krieger.

      „Verdammte Feiglinge!“, schimpfte Medbh. „Wir hatten sie beinahe!“ Sie musterte die abgekämpften Coughnacht und sah zu Dommagh, doch der schüttelte den Kopf und deutete zur Anhöhe hinauf. Widerwillig gestand sie sich ein, dass ihnen die Kraft für den entscheidenden Sturm fehlte.

      „Ich hasse das!“, rief sie, während die Wölfe den Kriegswagen über den Anstieg zogen. Die Männer, die in der Nähe waren, drehten sich zu ihr um.

      „Was ist?“, erkundigte sich Eillean mit jäher Besorgnis. „Ist was passiert?“

      „Natürlich ist was passiert“, schimpfte Medbh jetzt deutlich leiser. „Sie entkommen, weil ich versagt habe.“

      „Du hast nicht versagt“, beruhigte Dommagh. „Wir haben einen großen Sieg errungen.“

      Eillean stimmte ihm zu: „Du hast den Überfall verhindert, und deren Verluste sind mindestens dreimal so groß wie unsere. Was willst du noch.“

      „Sie sind entkommen“, knurrte Medbh. „Und sie werden wieder kommen. Ich hätte das Schwein abstechen sollen, als ich die Gelegenheit hatte.“

      „Es war ein Sieg“, wiederholte Dommagh. „Dein Sieg. Das wird dich weiterbringen.“

      „Inwiefern weiterbringen?“

      „In der Nachfolge“, antwortete er. „Du hast heute ganze Arbeit geleistet. Die Leute bewundern dich. Sie vertrauen dir, und sie folgen dir.“

      „Blödsinn“, sagte sie. „Du folgst unserem Vater, und was Anderes würde er nie zulassen. Ich trete doch nicht gegen meinen eigenen Bruder an.“

      „Halbbruder“, korrigierte er. „Mir ist heute vieles klar geworden. Ich fühle mich wohl, wenn ich mit meinen Männer kämpfe, aber an deine Gabe werde ich nie herankommen.“

      „Welche Gabe?“, fragte sie irritiert. „Was meinst du?“

      Sie erreichten die Anhöhe und Dommagh hielt an. „Du weißt es gar nicht“, stellte er überrascht fest. „Hast du es nicht bemerkt? Ich habe gegen sie gekämpft, Mann gegen Mann. Wir sind stärker, aber sie sind besser ausgerüstet als wir, und sie wissen genau, was sie tun. Das sind professionelle Söldner, die uns von Anfang an überlegen waren, aber du ….“

      „Auh!“ Der Rest seines Satzes ging in einem jähen Schmerz unter, und Medbh knickte weg.

      „Schon fertig“, sagte Eibrin und hielt das Stöckchen in die Höhe, dessen blutige Spitze metallisch schimmerte. „Ich muss die Wunde nur noch säubern und verbinden.“

      „Aber du hast sie besiegt“, fuhr Dommagh unbeirrt fort. „Es war, als wüsstest du über jede Bewegung, jeden möglichen Zug des Gegners Bescheid. Ich kann so etwas nicht, niemand von uns kann das. Also ist es recht und billig, wenn du Vater auf den Thron folgst, und es wäre gut, wenn er das einsieht.“

      „Da geht noch eher die Sonne im Westen auf“, brummte sie. „Außerdem will ich das gar nicht.“

      „Denk darüber nach“, sagte ihr Bruder. „Ich bin ein Krieger, aber die Coughnacht brauchen mehr als das: Sie brauchen einen Anführer. Sie brauchen dich.“

      Sie setze gerade zu einer Entgegnung an, als sie bei den Schiffen eine Bewegung bemerkte. Drei Männer stiegen den Hang herauf. Medbh winkte die Männer zurück, die sich


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