Drachenkind. . . .
unglaublicher Manier abgeschlachtet. Sie ließen nur einen Menschen gezielt entkommen, damit er oder sie von ihnen erzählen konnte. Diesem Menschen pflanzten sie die Gewissheit darüber ein, dass niemand jemals wieder diese Höhlen betreten solle. Sie gaben uns diese eine Chance. Aber das wäre natürlich viel zu einfach gewesen. Menschen sind neugierig, riskieren immer wieder Kopf und Kragen, um zu lernen und weiter zu kommen. So begaben sich abermals sehr mächtige Magier in die Unterwelt und lösten damit die Auslöschung der ersten Generation eines Wüstenvolkes aus. Hunderttausende starben in einer einzigen Nacht. Wieder ließen sie nur einen am Leben. Wir wissen: Sie kommunizieren nicht direkt mit uns oder anderen, sie warnen nicht, sie verhandeln nicht, erteilen keine zweite Chance vor Ort. Wer dorthin geht, kommt nicht zurück, ohne alles und jeden zu verlieren. Wir denken, sie reagieren auf alles so, was dorthin geht. Erst hinterher wurde uns klar, warum wir niemals Tiere dort gesehen haben. Die sind wohl schlauer als wir. Dass sie uns loswerden wollen, ist eine Vermutung. Als der Herrscher das erste Mal wirklich viele Gefolgsleute bekam und damit begann, sich aggressiv auszubreiten, kamen einige der Dämonen an die Oberfläche und haben all sein Werk vernichtet. Seitdem scheinen sie Menschen auch ohne direkten Kontakt aufzusuchen und zu töten. Als hätten sie erkannt, dass man uns kleinhalten muss, bevor wir zu viele werden. Ab und zu wird ein Dämon gesichtet, natürlich nicht in der Unterwelt, sondern es kann überall vorkommen. Wenn sie nicht in der Unterwelt sind, töten sie nicht ohne Ziel oder Not. Ich glaube, sie beobachten. Vereinzelte Wesen, sie sind extrem wandelbar und noch viel gefährlicher. Glaub mir. Den Namen haben sie verdient. Und es gab sie auch auf der Erde. Von dort kommt der Name und sie sind eindeutig Teil der Menschheitsgeschichte geworden. Weiß man ja. In vielen Formen und Farben, unter vielen Namen. Und schließlich instrumentalisiert. Wahrscheinlich gelangten auch sie durch Abzweigungen des Zeitloches zufällig dorthin. Schade für die Menschen.«
Seath löste ihren Haarknoten und das Haar fiel wie eine Flüssigkeit in langen, seidigen Strähnen über ihre Schultern. Sie kratzte sich am Hinterkopf, dann nahm sie die zwei Nadeln wie ein Paar Essstäbchen in die Hand und band in einer fliegenden Bewegung die Haare zu einem neuen Knoten. Eric staunte. Sie ließ ihn in Gedanken wissen, dass sie nicht mehr sprechen würde. Es ging nicht schnell genug, meinte sie, als sie all seine Fragen erahnte.
»Eric, bevor du weitere Fragen stellst, lass mich dir folgendes erklären. Es ist wichtig. Mia hat mir davon erzählt, dass du den See bei euch im Wald angehoben hast und dass du einen Jungen gefoltert und danach geheilt hast. Sie hat mir davon erzählt, dass du ab und zu Dinge siehst, kurz und unberechenbar. Dazu möchte ich Details erklären. Wir sind uns relativ sicher, dass du potenziell mächtiger bist als der Herrscher. Es gäbe zumindest für uns ab einer gewissen Zeit keinen Weg mehr, dich aufzuhalten, solltest du entscheiden, etwas wirklich tun zu wollen. Egal, was das wäre. Der einzige Weg könnte es wohl sein, dich zu töten. Aber auch das dürfte sich als enorm schwierig herausstellen. Wir sehen, dass du schwer belastet bist durch die Träume. Es gibt vieles, was du noch nicht verstehst. Die Fähigkeit, einen so zerstörten Körper wie den des gefolterten Jungen einfach in Sekunden zu heilen, ist mir unbegreiflich. Ich bin eine der mächtigsten unter allen Menschen. Du wirst sehen, die Menschen und Wesen hier bereiten sich auf den Kampf gegen den Herrscher vor, die vielleicht letzte große Auseinandersetzung mit ihm, vorbei an all den kleinen Anschlägen und unterschwelligen Manipulationen durch Spione und Attentäter. Der Herrscher hat Kämpfer und Millionen unterschiedlichster Wesen. Er reißt alles an sich, überwindet selbst Tiere und Pflanzen, um sie zu versklaven und einzusetzen. Wir Menschen werden kämpfen, mit allen Mitteln. Aber du bist hier, um gegen das zu kämpfen, was wir nicht erreichen können. Den Herrscher und all jene Kreaturen, welche uns wahrscheinlich überlegen sein werden und das nicht nur zahlenmäßig. Du bist auch hier, weil der Herrscher niemals einen Drachen wie dich kontrollieren darf. Dabei geht es nicht nur um uns, sondern um alles freie Leben auf diesem Planeten. Mit dir wäre er wahrscheinlich dazu fähig, alles zu tun. Das darf nicht geschehen. Niemals! Wir haben so lange nach dir gesucht, um zu verhindern, dass er dich bekommt. Es ist reines Glück, dass du hier bist. Wir sind dankbar dafür, das kannst du mir glauben.«
Eric hörte ihren Gedanken ruhig zu, nahm sie relativ kühl entgegen. Wie kam sie darauf, dass es dem Herrscher so leichtfallen würde, ihn zu kontrollieren? Seath schüttelte den Kopf, dachte weiter.
»Du bist jung. Du fühlst, bist sehr sensibel. Du bist manipulierbar, durch deine Emotionen. Es ist ganz einfach. Ich sehe, wie wichtig Jack in deinem Leben war und ist. Ich habe das Gefühl, er ist der Einzige in deinem Leben, zu welchem du eine so innige und vertrauensvolle Liebe empfindest. Wenn ich nun hinausginge und ihn töten würde … Oder besser noch, ihn benutzten würde, um dich zu erpressen. Wenn ich ihn vor deinen Augen leiden ließe und das von einer überlegenen Position, strategischer Natur oder anders. Was würde passieren?«
Eric sah sie an und bewege sich keinen Millimeter. Ihm war klar, dass sie ihn prüfte. Und dass sie das, was sie gerade sagte, vermutlich nicht tun wollte. Aber die Antwort war klar. Wäre der Herrscher in der Lage, das zu tun und dabei eine sichere, geschützte Position zu wahren … Eric hatte seine Kräfte nie vollständig eingesetzt, noch wusste er nicht einmal, was er alles tun konnte und wie mächtig er wirklich war. Aber ihm war ohne Umstände klar: Er würde alles tun wollen, um Jack zu retten. Alles. Da gab es keine andere Möglichkeit, keinen Ausweg. Egal, wie sehr sich sein Verstand dagegen wehrte. Und selbst, falls er nicht auf solche Erpressungsversuche einginge: Er wäre dadurch innerlich angreifbar. Und das konnte schon ausreichen, um an ihn heranzukommen, wie der erste Angriff von nur zwei Wächtern deutlich bewies. Eric blickte Seath in ihre grünen, ruhigen und doch angriffslustigen Augen. Sie nickte.
»Korrekt«, dachte Seath, »allerdings könnte ich besagte Dinge vermutlich nicht tun. Du würdest sie sehr wahrscheinlich vorausahnen, bevor ich dazu käme. Das muss ich mir nicht antun. Davon abgesehen gibt es andere Wege, dich zu schwächen. Gifte, Unwissenheit, falsches Vertrauen. Und der Herrscher ist leider nicht dumm, ganz im Gegenteil. Er wird es versuchen und er wird einen Weg finden, falls du ihn nicht vorher überwindest. Würde er dich innerlich schwächen, gäbe es eine Chance. Und würde er es schaffen, dich aller Emotionen zu berauben und dich völlig abzukühlen, dann wäre diese Schwäche beseitigt. Wir könnten dann nichts mehr tun. Selbst, wenn wir nun unsererseits Jack als Mittel nutzen wollten, um dich zurückzuholen. Was auch immer wir ihm antäten, du würdest nicht mehr darauf reagieren. Ohne eine deiner größten Stärken, die Emotionen, wärst du erstaunlicherweise stärker, da so gut wie völlig fehlerfrei. Paradox, nicht wahr?«
Seath lächelte verbittert, Eric knetete müde seine Handflächen. Er dachte darüber nach. Vermutlich war da etwas dran. Angst, Wut, Zorn oder Hass … ohne Emotionen wäre Jan nicht gefoltert worden, ohne sie würde er ruhig schlafen und ohne sie gäbe es keinen relevanten Verlust. Doch was würde er ohne sie tun? Es gäbe keinen Grund. Vermehrung und Fortbestand, dachte er zynisch. Gleich darauf fragte er sich unwillkürlich, ob das für den Drachen überhaupt eine Rolle spielte. Waren wirklich alle Fehler Konsequenzen von Emotionen? Das konnte nicht sein. So viele Trugschlüsse und Fehler geschahen gleichermaßen aus einem Mangel an Informationen oder einer Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit. Allerdings funktionierte der Drache ganz anders und seine Sinne schienen, soweit Eric es bisher erlebt hatte, genau diese Verfehlungen sehr potent auszugleichen. Sofern er sich denn selbst im Griff hatte. Eric stutzte, als er an Seaths Beispiele dachte. Gifte, falsches Vertrauen … sofort dachte er an die Warnungen des Drachen. Was, falls er wirklich bereits vergiftet wäre, wie es der Drache gesagt hatte? Ein heißer Impuls in seiner Brust ließ ihn schweigen. Nicht nachfragen, es war zu früh dafür. Seath setzte ihre Gedanken fort.
»Dass du jeden vorstellbaren Fehler überleben könntest, bedeutet nur, dass du am Ende allein sterben wirst. Nicht, dass du keine Fehler machen wirst oder sie nicht zu fürchten brauchst. Eric, du musst das verstehen. Wir müssen annehmen, dass nur du eine realistische Bedrohung für den Herrscher darstellst und wie gesagt bedeutet dies, dass du stärker sein musst oder es mal sein könntest. Nichts Anderes würde seine jahrelange und brutale Suche nach dir erklären oder rechtfertigen. Und dass er nach dir sucht, wissen wir bestimmt. Warum er das tut? Ich wiederhole es gern, es sind nur Vermutungen. Leider müssen Menschen entscheiden, ob die Wahrheit relevant ist oder ob Vermutungen erst einmal reichen müssen. Ich persönlich bin mir sicher, dass es nicht nur deine Macht sein kann, die ihn lockt. Mit der Zeit könnte er