Drachenkind. . . .
der Nase, der Körper segelte durch die Luft und krachte einige Meter weiter wie eine Abrissbirne durch die Wand einer kleinen Lehmhütte. Die Splitter und der blutige Staub stoben in alle Richtungen, ehe es wieder ruhig wurde. Während sich Eric abermals prüfend umsah, leckte er das Blut von seinen Krallen. Ein leises, heißes Schnauben machte klar, es schmeckte ihm. Als seine Fänge sauber waren, hielt er kurz inne. Es war totenstill. Mit einem Mal verneigten sich die Menschen, wie eine Welle ging die Regung durch die Massen. Sie ließen ihn kaum aus den Augen, doch die Geste war eindeutig.
Der Drache stieß einen kurzen und lauten Ton aus, dann machte er sich auf den Weg zu jener großen Schale mit Früchten und Getreide, welche etwa fünfzig Meter entfernt stand. Kaum jemand regte sich, niemand sah ihm in die Augen. Gierig begann er, aus dem riesigen Napf zu fressen, ließ sich nicht stören, beobachtete über den Rand der Schale hinweg die Menschen um sich herum. Jack kam zu ihm, stellte sich direkt an den gegenüberliegenden Rand des steinernen Gefäßes, wo Eric ihn sehen konnte. Jack sah ihn sprachlos an, mit einem befremdlichen Ausdruck im Gesicht. Eric spürte Gleichgültigkeit in sich, es war ihm völlig egal, so stark trieb ihn der Hunger. Er sog den letzten Rest Saft und Brei der erstaunlich sättigenden Mahlzeit auf, leckte mit der langen Zunge genüsslich den rauen Stein ab, ließ keinen Tropfen übrig. Der erhitzte Boden der Schale dampfte, die süßlichen Gerüche verteilten sich überall. Erics Hitze ließ nach, zufrieden beruhigte er sich langsam und traute sich wieder, die Menschen anzusehen, verlor die Angst davor, einfach dem Hunger nachzugeben und um sich zu schnappen. Er kam langsam zu sich.
Jack beobachtete Eric bei dessen Mahlzeit und hatte noch immer damit zu kämpfen, dass es keine zehn Minuten bis zum ersten Anschlag auf seinen Bruder gedauert hatte. Als der magische Speer sich erhoben und wie eine Kompassnadel auf Eric ausgerichtet hatte, war Jack wie versteinert einfach stehengeblieben und hatte geglaubt, Eric würde sterben. Niemand hatte das Ergebnis erwartet, sie alle sahen zum ersten Mal einen Drachen. Es gab keine Erfahrungswerte, keine Lehre, keine Sicherheit. Und Eric? Der verhielt sich wie ein wildes Tier, hatte den Attentäter offenbar sofort gespürt, ihn in der Menge gefunden und keine Anstalten gemacht, ihn nach dem misslungenen Angriff näher zu untersuchen. Er hatte ihn, geradezu reflexartig, äußerst gewaltsam ausgelöscht und sich das Blut von den Klauen geleckt. War er sich im Klaren darüber, wie das auf die ohnehin schon eingeschüchterten Menschen wirkte? Was ein solches Verhalten für ein Bild hinterließ? Jetzt stand Eric da und wirkte fast so, als wäre ihm alles außer seinem Futter völlig egal. Tatsächlich war es für ihn. Die Menschen hatten die Schale nur für den Drachen gefüllt, als Geschenk. Fast hoffte Jack, dass Eric dies irgendwie erfahren hatte und nicht einfach rein impulsgesteuert alles nahm, wonach ihm gerade der Sinn stand. Erics zufriedenes Knurren riss Jack aus seinen besorgten Gedanken. Er schien sich beruhigt zu haben. Jack war erleichtert, doch der bittere Nachgeschmack der Gesamtsituation blieb.
Eric kam sich vor wie jemand, der er nicht sein wollte. Was sollte er jetzt tun? Er drehte sich um und sein grimmiger Blick erschreckte noch immer einige. Er betrachtete all die bestürzten Gesichter und Schrecken, erkannte Eltern, welche ihre Kinder fest an sich gedrückt hielten oder eher kühl und vorsichtig beobachteten. Sie überlegten, ob sie bleiben oder ihn lieber alleinlassen sollten. Er faltete seine Flügel ganz zusammen und legte sich hin, eine instinktive Geste. Entspannt senkte er leicht den Kopf und wirkte direkt kleiner. Schließlich öffnete Eric seine Gedanken ein wenig, löste die schwere Einwirkung seines Blickes. Sofort machte sich Erleichterung breit, es war spürbar, wie die Menge aufatmete. Er zeigte ihnen seine Dankbarkeit für das Essen, schaute sich interessiert um und offenbarte nur einen einzigen Gedanken:
»Danke, das war wirklich gut. Ihr müsst keine Angst vor mir haben, solange ihr mich nicht bedroht.«
Eric war sich zunächst nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt verstehen konnten. Er hatte bisher keinen von ihnen wirklich sprechen gehört und wusste nicht, ob sie eine fremde Sprache verwendeten. Offensichtlich war dies jedoch der Fall. Wer ihn verstanden hatte, verbreitete die Gedanken weiter. Ein Gewirr vielsprachiger Gedanken entwickelte sich, breitete sich aus wie Feuer in einem Raum voller luftiger Papierfetzen. Deutsch, englisch, Unmengen anderer. Die Menschen hier kamen alle von der Erde. Wer hier geboren wurde, sprach die Sprache seiner Familie. Erleichtert stellte Eric nach ein paar Minuten fest, dass seine Nachricht angekommen war. Jetzt näherten sie sich vorsichtig, ohne Angst.
Jack kam zu Eric, der hörte jene so tief verinnerlichten Schritte und drehte den Kopf. Er öffnete ihm seine Gedanken und Jack meinte sofort:
»Mia warten, sie dich jemand vorstellen wollen. Komm mit.«
Eric stand vorsichtig auf und verwandelte sich. Geblendet von dem kurzen, heißen und blauen Lichtstoß konnten die Menschen kaum glauben, was sie sahen, als sie Eric in menschlicher Form erblickten. Nur ein Teenager, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Ein heißes Glühen erlosch in seinen Augen, er sah sich um. Alles wirkte auf einmal so unglaublich groß und einschüchternd. Er wandte sich Jack zu und folgte ihm, der führte ihn durch die wieder ziemlich lebendige Menge von der Wiese herunter. Auf ihrem Weg sah Eric hunderte Gesichter, alle starrten ihn an, sprachen miteinander, doch niemand berührte ihn oder kam zu nahe. Es war eigenartig. Beängstigend und rätselhaft.
Sie gingen einen der vielen Sandwege entlang, Eric sah das große Gebäude auf dem Hügel, welches er aus der Luft hatte sehen können. Jack wirkte munter, aber erschrocken. Eric ärgerte sich. Das hatte er nicht gewollt, gleich bei der Ankunft. Er bemerkte wieder die Schuldgefühle. Dieses Mal befreite er sich jedoch von ihnen. Hätte er sich früher verwandelt, wäre er tot. Der Speer hätte ihn geradewegs durchbohrt. Er zeigte Jack seine Gedanken, der schwieg erst und meinte dann:
»Ich bin froh, dass du so gehandelt. Man hat ihn immer nur Schmied genannt, er keinen Namen. Böse Menschen verlieren ihren Namen. Niemand sie mehr beachten, nur überwachen. Sie wussten nicht, ob er zu uns gehören, aber … Er immer so finster gedacht und er ein Kind geschlagen und verletzt. Eigentlich er sollten gestern ausgeschlossen werden, aber dann heute Morgen Anschlag und keine Zeit und jetzt er versuchen, dich zu killen!«
Jack blieb plötzlich stehen. Eric war sich zunächst nicht sicher, ob Jack wütend oder traurig war. Doch dann offensichtlich, war es beides. Mit Tränen in den Augen sah Jack ihn an, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er Eric schlagen oder umarmen wollte. Der nahm ihn hilflos in den Arm und hielt ihn fest. Jack heulte wie ein Schlosshund. Eric las die Sorgen, die sich Jack um seinen besten Freund gemacht hatte. Mia hatte ihm von dem Traum erzählt und sie wussten nicht, was Eric tun würde. Jack hatte am Ende wirklich geglaubt, dass Eric sich umbringen würde, weil dessen Gefühle so verzweifelt und völlig außer Kontrolle gewesen waren. Und gerade, als er Eric wieder zurückbekommen hatte, war der nur durch Zufall nicht getötet worden. Tatsächlich eher, weil Eric immer mehr seiner Menschlichkeit zu verlieren schien, was für Jack alles nur noch schwerer machte. Jetzt hatte er Eric wieder bei sich und er würde ihn nicht mehr allein lassen, niemals. Seine Erleichterung konnte Jack kaum ausdrücken, heulte sich einfach wortlos aus. Nach ein paar Minuten beruhigte er sich wieder und machte einen Schritt von Eric weg. Er war tatsächlich gewachsen.
»Ich versprechen, ich werden immer bei dir sein, immer! Du werden gleich sehen, wir befinden in Krieg, und ich könnte nicht leben ohne dich … Du bist alles, was ich noch haben! Gehen nie wieder weg, ohne zu sagen, wohin! Bitte! Niemals allein, hörst du?«
Eric war gerührt. Er hatte von einem Typen wie Jack keinen derartigen Ausbruch erwartet. Der Vierzehnjährige war immer lässig, zeigte fast nie Verwundbarkeit und war die Person mit dem größten Selbstbewusstsein, das Eric kannte. Seine Sorgen hatte man immer nur lesen müssen oder es bedurfte schwerer Ereignisse, damit Jack seinen Kummer offen zeigte. Jetzt wurde Eric erst absolut bewusst, wie wertvoll ihre Verbindung wirklich war. Mehr noch als sie beide es ohnehin schon vermuteten und zu begreifen glaubten. Ein Leben ohne den jeweils anderen war nicht mehr vorstellbar. Bisher nur in Worten beschrieben, wurde diese Idee jetzt schmerzhaft real für sie beide. Eric wusste nicht, ob er etwas sagen sollte und ihm fehlten ohnehin die Worte. Er nickte einfach nur, schickte Jack in Gedanken sein Versprechen. Der hatte sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht gewischt und Erics Gedanken verfolgt. Jetzt lächelte er. Eric war glücklich, legte seinen Arm um Jack und sie gingen den Weg entlang zu dem großen Gebäude auf dem Hügel, durchquerten ein Meer unzähliger, neugieriger Blicke.