Drachenkind. . . .
Höhe etwas abzukühlen. Es war wie ein Fieber, welches es zu bekämpfen galt. Klarheit. Keine Hast, keine blinde und übermächtige Rage. Er sah Manou vor sich, dem das Spotten sogleich verging, als Eric zu sich kam und der Schmerz der Schuld in seinem Inneren nachließ. Er kühlte langsam ab. So verharrte Eric über eine Stunde in einer Art meditativen Ruhe, ließ nichts an sich heran und zersetzte geduldig jene heißen und machtvollen Impulse, welche ihn fast um den Verstand brachten.
Als Eric aus seiner Ruhe erwachte und die Augen öffnete, weil die Sonne ihm nun heiß und angenehm in die Flügel fiel, faltete er diese wieder zusammen. Er begann, sich dem Traum anzunähern, ganz am Anfang, als er den Pfeil Manous in den Rücken bekommen hatte. Seine Augen verengten sich. Er kämpfte gegen den Drang an, sofort nach dem Mörder vieler Menschen zu suchen, ihn und seine Gefährten endgültig auszuschalten. Instinktiv spürte er, dass er sie finden würde. Aber war es das Richtige? Er hätte es verhindern müssen … Aber er war doch selbst kein Mörder! Nur um Haaresbreite, dachte Eric, als er sich selbst über Jans blutüberströmtem Körper stehen sah. Der Drache ließ ihn ahnen, dass er alles sein konnte, was er sein wollte. Jede Form, jederzeit und unbegrenzt motiviert. Wollte er töten? Wollte er morden, wüten, manipulieren und foltern, um seine Ziele zu erreichen? Ja oder nein?
Die Wut in ihm wurde zu Verzweiflung. Sie befiel seine gerade abgekühlten Gedanken und drohte, sie zu lähmen. Mit der Explosion und dem erbarmungslosen Feuer vor Augen meinte Eric die Schreie derer zu hören, die durch sie getötet worden waren. Alles in seinem Bewusstsein rebellierte gegen den drohenden Verlust der Kontrolle über sich selbst. Hilflos schrie er all seine Angst, Verzweiflung und Wut heraus, ins eisige Nichts. Der Drache brüllte aus Leibeskräften, drei lange, donnernde Male, bis heiße Funken aus seinem Maul stoben und wie ein glühender Sturm davon wirbelten. Jeder hörte die Rufe des Drachen. Alles Leben im Wald würde spüren, dass er da war.
Seine langen Schreie schwächten Verzweiflung und Zorn, es blieb nur Erschöpfung. Seine Gedanken klarten auf. Er schnürte den Schwanz fester um die Bergspitze, um nicht herunterzufallen. Es war passiert, somit Vergangenheit und nicht mehr zu verändern. Und wahrscheinlich hätte Manou es auch getan, wenn er Eric nie getroffen hätte. Und wenn nicht Manou es tat, dann jemand anderes, denn Manou handelte auf Befehl dieses verdammten, unbekannten Herrschers. Der würde wohl kaum nur allein mit Manou irgendwo im Wald hocken und schlimme Dinge planen. Er musste so viel mehr Macht haben und unzählige Wächter und Diener unter seiner Kontrolle halten. Diese Gedanken hoben Erics Stimmung gewaltig, obwohl auch sie nichts ungeschehen machten. Tod und Verlust waren real und sie blieben es. Unberührt von Lüge oder Hoffnung.
Unglaublich. Diese Kraft, die er hatte. Würde er jetzt seine menschliche Form annehmen, fiele er wahrscheinlich bald in die Tiefe, denn der Wind war beachtlich hier oben und der Körper zu klein, um sich an dem großen, relativ glatten Felsen zu halten. Aber jetzt? Er konnte sitzen, wo er wollte, sich alles ansehen und vielleicht sogar verändern. Eric sah sich die Landschaft genauer an, ließ den scharfen Blick über Bäume und überwucherte Berghänge schweifen, die tief unter ihm das Land besiedelten. Er befand sich eindeutig auf dem höchsten Punkt innerhalb einiger hundert Quadratkilometer. Wie hoch? Er strengte seine Sinne an. Noch immer war in der Ferne das Echo seines Gebrülls zu hören, es wanderte durch den Wald wie ein lauter Geist. Als der Ton den Horizont erreichte, erspähte Eric einen riesigen Schwarm dunkler, fliegender Tiere. Vögel? Vermutlich. Der Schwarm explodierte förmlich aus dem Wald empor, verstreute sich über den Bäumen und zog davon. Diese Schönheit … Die Sonne verbarg sich hinter ein paar kleinen Wolken, strahlte warm und golden auf das unendliche Blätterdach. Wäre der Wind auf seinem Platz nicht so schneidend und schnell, Eric hätte die Flügel wieder entfaltet und ein Sonnenbad genommen.
Von hier oben sahen die Vögel über den Baumkronen wie winzige, schwarze Punkte aus, die sich scheinbar nicht bewegten, während sie über den Wald flogen. Eric überlegte, wie es wohl wäre, einen von ihnen zu kennen. Er hatte schon oft gesehen, wie Papageien oder Beos lernten, ein paar Worte zu sagen. Niemals könnte er Tiere ihr Leben lang in einem Käfig einsperren. Für ihn selbst war die Gewissheit, immer irgendwohin verschwinden zu können und einen Ausweg zu haben, fast das Wichtigste in seinem Leben. Seine Freiheit könnte er für nichts hergeben, niemals. Kein Mensch konnte das wollen. Aber sie taten es mit Tieren und selbst untereinander aus niedersten Motiven heraus, nahmen Freiheit, sperrten ein oder verkauften und versklavten, physisch und geistig und vermutlich auf jeder Ebene, die sie sonst noch irgendwann entdecken könnten. Eric dachte an Crow und wünschte sich, der wäre jetzt bei ihm und könnte sich dieses Wunder einer Landschaft ansehen. Crow hatte genau das Gegenteil getan. Er war zu denen gegangen, die ihm nahe erschienen und hatte sie nicht einfach zu sich geholt oder eingefangen. Er hatte eine Entscheidung getroffen, obwohl am anderen Ende seine eigenen, liebenden Eltern standen, welche dadurch zu kurz gekommen waren. Was auch immer ihn mit den Vögeln verband, es musste sehr mächtig sein. Ob jene Krähe, welche er vor ihrer Abreise entdeckt hatte, wohl jemals mit Crow Kontakt haben würde?
Erics Gedanken flogen ziellos umher, erkundeten die Erinnerungen seines Lebens, trafen sich irgendwo, suchten nach Lösungen für Probleme, fanden welche oder fanden keine. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und der Schnee auf dem schmalen Felsvorsprung links unter ihm begann in ihrem Licht zu leuchten und reflektierte bald so viel davon, dass Eric wegsehen musste. Es war wunderbar, hier oben unerreichbar in ungeahnter Höhe zu sitzen. Dann trafen sich wieder zwei seiner Gedanken: Vor dir ist nur Wald, bis zum Strand, links und rechts auch. Und hinter dir? Eric wunderte sich. Er war doch hierher geflogen und hatte dabei unweigerlich in die Richtung gesehen, welcher er jetzt den Rücken zukehrte. Aber er erinnerte sich nicht, war viel zu betäubt gewesen. Um das Gleichgewicht zu halten, breitete er die Flügel aus und nutzte den starken Wind, drehte sich langsam und vorsichtig um. Als er sich wieder sorgfältig festgeklammert hatte, warf Eric einen Blick zum Horizont.
Ein dunkler Streifen, gräulich oder schwarz. Und er bewegte sich sichtbar. Eric erinnerte sich sofort. Die Strudel aus finsteren Wolken, wie langsame Wirbelstürme. In seinen Träumen hatten sie das Licht eingesogen und alles unter sich begraben und erstickt. Eric lief ein kalter Schauer über den Rücken, die Zacken und Stachel auf seinem Panzer erzitterten. Dies war vielleicht das allererste Mal in seinem Leben, dass er die mysteriöse Dunkelheit wirklich würde erkunden oder berühren können. Sollte er vielleicht hinfliegen? Er spürte, wie der Drache in ihm sich regte. Ja, er sollte. Der Hunger kam jäh zurück, überrollte ihn wie die Wellen eines Meeres. Doch ihm war auch klar, dass er anderswo erwartet wurde. Also nicht jetzt. Und schon gar nicht allein, in einer unbekannten Welt. So kehrte er zum ersten und vielleicht interessantesten Gedanken zurück. Wo befand er sich eigentlich? Es konnte nicht die Erde sein, soviel war sicher. Eine fremde Sonne, ihr Licht war irgendwie anders. Und fremde Monde, von denen er bereits zwei kannte. Da das Meer aber so stabil gewirkt hatte, erwartete Eric schon fast, dass es noch mehr Trabanten gab. Skepsis. Er kam schon wieder mit dem Verstand an ein Ende. Es wurde langsam Zeit, alles zu erfahren, was er in dieser Welt brauchen würde. Es behagte ihm nicht, sich auf einem fremden Planeten so dicht vor einem Phänomen zu befinden, welches er seit Jahren immer wieder erlebt hatte und von dem er trotz all der Zeit nur eines wusste: Es bedeutete ein quälendes, schmerzhaftes Ende. Es sei denn, er änderte etwas. Soviel hatte Eric verstanden, doch das brachte neue Fragen. Er schüttelte sich kurz, löste die Umklammerung der Felsspitze mit seinem Schwanz und stürzte sich in die Tiefe.
Die Flügel dicht am Körper anliegend beobachtete Eric die ersten Baumkronen des steilen Abhangs, wie sie scheinbar immer schneller auf ihn zu flogen. Es war ein wirklich hoher Berg. Er zählte die Zeit, seine Augen maßen sorgfältig die Entfernung. Drei Kilometer, vier, fünf … Die Zahl wuchs und wuchs, Schnee und Eis lösten sich auf, aus trockenen Gräsern wurden Nadelbäume, unter welche sich schließlich alle möglichen Pflanzen mischten und als er bei elf Kilometern angelangt war und schon seit einigen Minuten flach am Steilhang nach unten schoss, kamen die Bäume plötzlich so schnell näher, dass er einen Schrecken bekam. Eric breitete die Flügel aus und fing seinen Fall in einem großen Bogen ab, stieg in einer langen, eleganten Kurve wieder aufwärts und hielt sich schließlich wenige hundert Meter über den Baumkronen, die im Licht der Mittagssonne aus solcher Nähe noch viel leuchtender wirkten.
Er sauste über den Ewigen Wald, der sich gerade eben als nicht ewig entpuppt hatte. Zwischen den Bäumen war der Waldboden kaum zu erkennen, aber sobald