Drachenkind. . . .
Beispiel?«, fragte Mia.
Eric zögerte. Erst jetzt wurde ihm schlagartig klar, dass er Jans Folter gesehen hatte, lange bevor es tatsächlich dazu gekommen war. Vor dem Angriff der Wächter gegen ihn und Jack auf der Wiese, waren Bilder in seinen Gedanken eingeschlagen, die ihm einen toten und völlig misshandelten Jan gezeigt hatten. Er warf Jack einen Blick zu, der scheinbar Bände sprach. Es lag schon viele Wochen zurück, doch auch Jack erinnerte sich jetzt. Eric ließ Mia diese Erkenntnis spüren, dann meinte er:
»Ich wollte dir davon erzählen, aber dann waren die Wächter im Raum und wir sind raus auf die Straße und dann …«
Eric verstummte. Nach dem wochenlangen eisigen Schlaf, in welchen er nach dem zweiten Angriff der Wächter gefallen war, hatte er diese Bilder völlig vergessen.
»Ich verstehe. Und was hast du jetzt gerade gesehen?«
Mia kam näher, Eric sah sie kurz an und meinte rasch:
»Ich weiß es nicht. Feuer und Tod.«
Mia und Jack sahen einander kurz an, schließlich dachte Mia:
»Falls du mehr siehst, sag Bescheid. Wir müssen das beobachten. Ich habe einen Verdacht, bin mir aber nicht sicher. Wir sprechen darüber, falls das noch einmal vorkommt.«
»Welchen Verdacht?«
Eric und Jack fragten gleichzeitig nach, doch Mia hob die Hand.
»Nein. Ich will keine grundlos belastenden Gedanken säen. Ihr würdet es noch nicht verstehen, glaubt mir. Wir werden noch darüber sprechen. Aber nicht jetzt.«
Mia sah sofort, wie unzufrieden Eric und Jack mit dieser Antwort waren. Doch beide schwiegen, sahen einander stumm an. Nach kurzem Überlegen meinte Jack:
»Okay. Aber wir fragen wieder.«
Er gab Mia ein Lächeln, sie erwiderte es.
»Jack, davon gehe ich aus. Jetzt aber los.«
Mias Gelassenheit wirkte unsicher, aber sie vertrauten ihr trotzdem. Schließlich machte auch sie sich Sorgen um Eric. Der war schon beim nächsten Gedanken: Was wäre, falls sie tatsächlich von Wächtern angegriffen würden? Doch schnell verwarf er die Frage. Wenn er einen Wächter mitten über dem Ozean besiegte, würde der sicher nicht mehr nachkommen. Falls überhaupt jemand so weit fliegen konnte, ohne Schutz und Rast über dem kalten Wasser. Sicherer ging es eigentlich nicht. Unwillkürlich wurde seine Zuversicht von einem Zweifel durchbrochen. Es wirkte sehr unwahrscheinlich, dass Geschöpfe wie diese Wächter überhaupt von Wind und Wetter abhängig wären.
»Schön, dich mal optimistisch zu erleben«, sagte Mia, die Erics Gedanken verfolgte, den Zweifel aber nicht bemerkte, »also, kann ich hochkommen? Ich muss die Decken und zwei Sättel festschnallen, die ich mithabe.«
Erst jetzt sahen Eric und Jack die schwarze Tasche genauer an, welche Mia neben sich hatte. Eric machte ein paar Schritte von ihnen weg, sah sich um und schloss die Augen. Kaum zwei Sekunden später war die Verwandlung vorüber, eine rötliche Staubwolke wirbelte umher und zerbrach am rostigen Maschendrahtgitter, welches den Tennisplatz umgab. Er streckte sich ausgiebig, ließ die Hitze den letzten Rest Schläfrigkeit und kühle Nachtluft aus seinem Inneren vertreiben, dann kniete er sich hin und legte den Kopf auf den staubigen Boden, was ihn kurz niesen ließ. Mia kam eine kleine, heiße Dampfwolke entgegen und sie lachte, stieg vorsichtig nach oben, hangelte sich an den Hörnern vorbei und balancierte auf dem Hals bis hin zu der Stelle, an welcher sie sitzen wollte. Jack hatte die Tasche geöffnet und zog die erstaunlich großen und zusammengeklappten Sättel hervor. Sie sahen aus wie modifizierte Pferdesättel, wirkten relativ schwer. Mühevoll wuchtete Jack sie nach oben, Mia fing sie auf und setzte sich breitbeinig hin, genau zwischen zwei der scharfen Zacken und Eric wagte es kaum, sich zu bewegen. Dann schnallte sie in aller Ruhe alles fest, schmierte die dicken Lederriemen mit Fett ein, damit Erics Schuppen und Stachel sie nicht durchreiben würden. Schließlich bot sie Jack den Platz vor sich an. Nachdem auch Jack nach oben geklettert war und sich niedergelassen hatte, saßen sie etwa einen Meter vor dem Flügelansatz. Mia kramte in ihren Taschen.
»Tut mir leid«, sagte sie und zog eine Schachtel Bonbons hervor, »ich denke, die sind zu klein für dich, Eric. Jack, willst du eines?«
Jack lachte Eric spaßeshalber aus und schnappte sich eines der winzigen, pillenartigen Bonbons. Kaum hatte er es ein paar Sekunden im Mund, spuckte er es hustend in weitem Bogen wieder aus.
»Was ist das, verdammt?! Ah …«
»Das ist eine mexikanische Chilimischung, gepaart mit gutem indischem Pfeffer und einer Menge Koffein. Das regt den Kreislauf an, merkst du ja! Ich habe nie behauptet, dass sie dir schmecken würden. Aber wir müssen wach bleiben, zumindest jetzt noch.«
Eric lachte innerlich, als die extrem scharfen Gerüche seine Nüstern erreichten. Jack standen die Tränen in den Augen und sein ganzer Körper geriet urplötzlich in Wallung. Es musste sehr stark brennen. Mia klopfte Jack entschuldigend auf die Schulter. Dann sagte sie streng:
»Wir müssen jetzt wirklich starten. Es ist schon halb eins und wir sollten vor drei in Skagen in Dänemark sein. Also gen Norden!«
Ohne darüber nachzudenken drehte sich Eric leicht nach rechts, hielt die Schnauze in den schwachen Ostwind und richtete sich schließlich nach Norden aus. Argwöhnisch betrachtete er den Maschendraht um sie herum. Zu wenig Platz für einen sanften Start.
»Haltet euch gut fest, ich muss springen«, ließ er die beiden wissen. Er öffnete die gewaltigen Flügel und spürte eine Welle der Vorfreude, als die Hitze in seinem Inneren noch stärker wurde und er an den langen Flug dachte. Sekunden später war von ihnen nicht mehr zu erkennen als ein kleiner Punkt, der scheinbar dem Mond entgegenflog.
Kapitel 15
Es sah seit Stunden so aus, als würde unter ihnen ein Land aus Watte vorbeiziehen. Sie flogen weit über den Wolken. Bereits innerhalb der ersten Stunde hatten sie erlebt, wie es sich anfühlte, wenn ein Passagierflieger vorbeidonnerte. Er hatte kaum hundert Meter vor ihnen die Bahn gekreuzt. Weit weg am Horizont zu ihrer rechten wurde es langsam hell, Eric schätzte die vergangene Zeit auf zwei Stunden. Mia war in einer Art wachsamen Halbschlaf und Jack schlief tief und fest, da er Mias Bonbon nicht gegessen hatte. Beide hatten sich gut festgeschnallt und saßen nun wie zwei Holzfiguren da, merkten kaum etwas von der Reise. Die dünne Luft in dieser Höhe machte sie müde und Eric ging ab und zu ein paar Kilometer weiter runter, um ihnen nicht zu sehr zu schaden. Jetzt war es wieder soweit, er hielt die Flügel still und drehte sie nach vorn. Das Kribbeln im Bauch fühlte sich lustig an, er spürte den Sinkflug deutlich in der Schwanzspitze. Er schloss die Augen, als die dichten Wolken sie einhüllten und schon nach einer Minute flogen sie dicht unter der Wolkendecke.
Das Meer war für Eric sehr gut sichtbar, als ob er durch ein Nachtsichtgerät blicken würde. Nur Blautöne, aber deutlich wie bei Tageslicht. Mia erwachte. Eric zeigte ihr seine Gedanken und setzte ein Fragezeichen dahinter, als er eine lange Landspitze erkannte. Sie sah aus wie der Zipfel einer nach oben abstehenden Haarsträhne, die auf einem unförmigen Kopf wuchs.
»Ja,« dachte Mia erfreut, »da am Horizont ist unser erstes Ziel. Da ist Grenen, ganz am Ende vom Land. Wenn wir über Skagen sind, der lange Zipfel dort, kannst du gleich landen, auf der rechten Seite. Dort unten sind ein paar Bunker und Dünen, da sieht uns um diese Zeit keiner. Ich glaube, Jack muss dann auch mal …«
Eric freute sich. Noch nie hatte er eine Reise in ein anderes Land gemacht, würde das erste Mal wirklich fremden Boden betreten. Bereits nach kaum fünf Minuten sank er immer tiefer, spreizte die Flügel und zog einen langen Bogen nach rechts. Wie ein Adler spähte er nach unten und suchte nach Bewegungen, Taschenlampen oder kleinen Feuern. Eben nach allem, was auf problematische Zusammentreffen deuten könnte. Doch bis auf ein paar Katzen war niemand dort. So ließ er sich relativ steil fallen, um möglichst schnell dicht über dem Boden außer Sichtweite der letzten Häuser zu geraten. Ein paar hundert Meter sauste er im Segelflug über den Strand, schließlich lehnte er sich gegen den Wind und landete