Drachenkind. . . .
Ahnung, Mann. Es einfach schwer, dich anzusehen. Du wirken verletzt und ich können so wenig tun im Moment. Ich müssen dir Dinge erzählen, aber es noch zu früh. Mia gesagt, wir warten, bis wir teilen Briefe, oder?«
Eric starrte ihn an. Ja, das hatte sie. Doch Jack schien zu überlegen, ob es vielleicht schon jetzt an der Zeit war, sich über diese Bitte hinwegzusetzen. Er wollte Eric etwas mitteilen, doch er tat es nicht, weil Mia ihn darum gebeten hatte? Darauf war Eric bisher nicht gekommen. Das klang einfach nicht nach Mia. In ihrem Brief hatte sie eindeutig ihnen die Entscheidung überlassen, wann sie was teilen wollten. Jack jedoch wirkte so, als hätte er eine ganz andere Forderung von Mia im Hinterkopf. Erics Neugier war mit einem Mal so hellauf angeregt, dass er kaum ruhig sitzen konnte. Egal, was Mia vor ihm verbergen wollte, es musste etwas sehr, sehr Wichtiges oder Weitreichendes sein, wenn sie selbst Jack davor warnte, es einfach zu sagen.
»Eric, sorry. Ich werden dir alles sagen, okay? Versprochen. Es nur zu früh, glaub mir. Es einfach nicht an der Zeit. Ich kenne dich. Du längst spüren oder schon wissen, dass ich und Mia viele Geheimnisse halten. Und ich will sagen, aber … Bitte, verstehen.«
Jack wurde unruhig, in seiner Stimme lag ein flehender Unterton. Er wirkte traurig und empfand eine aufrichtige Hilflosigkeit, welche Eric in dem Moment nicht erwartet hatte. Eric wusste, dass Jack seine Gefühle verstand und sie respektierte, ihm war klar, dass Jack großen Anteil an den Sorgen seines engsten Freundes nahm. Was die ganze Sache für ihn auch nicht leichter machte.
»Jack«, sagte Eric leise und merkwürdig berührt, »es ist okay. Ich vertraue dir. Wir haben beide Geheimnisse und ich muss dir auch was sagen, aber es ist zu früh. Ich weiß einfach noch nicht, wie. Mach dir keine Sorgen. Auch du bist nicht allein. Du weißt, ich würde alles für dich geben, oder?«
Jack nickte nur stumm. Jetzt wirkte er tatsächlich deprimiert. Etwas, was Eric bei ihm so gut wie niemals zu sehen bekam. Jack war so ungefähr das Maximum an Optimismus und Widerstandsfähigkeit. Wie konnte er derart bedrückt sein?
»Eric, machen keine Sorgen. Ich nur hoffen, du niemals wieder etwas für mich tun, was dir so schaden wie Jan zu foltern. Du sehen, es sein wie super schlechte Romanze. Wie in Fernsehen. Du alles für mich geben, ich alles für dich geben. Am Ende keiner haben etwas übrig oder einer tot. Dann nichts mehr zu teilen. Sinnlos. Was soll der Scheiß? Behalten etwas für dich!«
Eric lachte überrascht. Wie um alles in der Welt kam er jetzt auf sowas? Jack stand auf, nahm seinen und Erics Teller und das Besteck.
»Gleich wieder da, ich bringen zurück in Küche. Und dann wir schlafen. Heute Nacht reisen. Endlich!«
Er lächelte, Eric sah die Vorfreude in seinen Gedanken und ließ sich von ihr anstecken. Jack verschwand auf dem Flur, Eric hörte seine schnellen Schritte davoneilen. Zum ersten Mal seit unzähligen Stunden hatte Eric ein Gefühl von Glück in sich. Bei dem Gedanken daran, dass er gleich wieder träumen könnte, wurde es sofort kleiner.
Kapitel 13
Unendliche Weiten. Es war kein Ende zu erkennen, nicht einmal in Gedanken. Unten rasten gigantische Eisplatten vorbei, bläulich schimmernd und doch leuchteten sie an manchen Stellen tiefrot im Sonnenlicht. Die Winde strichen unbarmherzig wie fliegende Messer aus reiner Kälte über dieses ewige Eis, in dessen Schönheit und Weite man sich vollkommen verlieren konnte.
Sein Schatten fegte lautlos wie ein Geist über zwei hohe Bergspitzen hinweg, glitt scheinbar über die Eisschollen dahin und hinterließ nichts. Er flog sehr schnell, verlor an Höhe. Als er sich leicht nach rechts neigte, um seinen Flügeln mehr Sonne zu bieten, spürte er brennende Schmerzen im gesamten Körper. Jeder zum Fliegen notwendige Muskel war beschädigt. Er begann, zu frieren und mit jedem Meter, den er an Höhe verlor, wurde ihm bewusster, wie wahnsinnig schnell er sich bewegte. Es wurde zunehmend dunkler, er war unterwegs zur Schattenseite. Der Horizont blieb schwarz, kein Sonnenlicht gelangte mehr dorthin. Genau in jenen Schatten würde er abstürzen. In der eisigen Dunkelheit. Niemand könnte ihn hier finden, er wäre sicher. Als sein Feuer schließlich erlosch, wurde alles finster und still.
Er blinzelte, erwachte kurz aus seinem todesnahen Schlaf. Die letzten Meter freier Sicht über den eisigen Stürmen verstrichen und er tauchte ein in den beißend kalten, dunklen Dunst aus rasenden Schneeflocken und scharfkantigen Eiskristallen, versank im Blizzard wie in Stein im Meer. Bis zum Boden konnte es nicht mehr weit sein. Die dichtere Luft im Sturm schlug ihm so hart entgegen, dass er dachte, er hätte eine Wand durchbrochen. Er konnte seine Flügel nicht mehr bewegen, starr ließen sie ihn nur noch segeln. Deutlich langsamer als vorher, aber noch immer viel zu schnell für sicheres Landen. Egal. Er würde sowieso sterben, die Finsternis hatte sein Inneres völlig zerfetzt. Wichtig war nur, dass ihn vorher niemand entdecken würde.
Sein Tastsinn machte ihm klar, dass es gleich soweit wäre. Er neigte sich nach vorn, ließ sich fast senkrecht einfach fallen. Wie ein Meteorit durchschlug er nach einer Minute den Boden, die Kollision sprengte einen riesigen Krater ins ewige Eis und erschütterte es so heftig, dass sogar der Sturm sich kurz veränderte. In der finsteren Dämmerung sah er seine verdrehten Flügel und die gebrochenen Knochen, spürte, wie sein Kern all das zu verzehren begann. Alles war zerstört und der Hals gebrochen, trotzdem versuchte er instinktiv, aufzustehen. Vergeblich. Aber er würde zurückkommen. Stärker als vorher.
Seine Schritte hallten durch den endlos langen Korridor aus dunklem Marmor. Unzählige, große Steinplatten in schwarzen Rahmen schienen an ihm vorbei zu fliegen. Sie waren wie Türen, doch ohne Klinken, Nummern oder Schilder. Als ein tiefschwarzer Gedanke der sehr nahen Verfolger an ihm vorbeischoss, durchbrach er gedankenlos gewaltig eine der Pforten. An jener Stelle, wo er durch den massiven Stein gekracht war, verzerrten ringförmige Wellen Raum und Licht und brachen nach einer Weile am Türrahmen, der sie reflektierte. Als wäre etwas durch eine starre Wasseroberfläche gefallen. Er stolperte und rutschte auf dem glatten Boden noch einige Meter weit, ehe er zum Stehen kam. Betäubt lauschte er dem Lärm der zu Boden fallenden Bruchstücke. Noch immer dröhnten die Gedanken und Schritte der Jäger in seinem Kopf:
»Ein Ende. Das Ende. Dein Ende …«
Er brach keuchend zusammen und versuchte, so viel wie möglich seines überhitzten Körpers auf dem kalten Steinboden zu kühlen. Es dauerte eine Weile, bis er überhaupt bemerkte, dass er sich in völliger Dunkelheit befand. Nur wenige Lichtstrahlen drangen gerade durch die letzten Risse, während die herausgebrochenen Splitter und Staubkörner zurück an ihren Platz sprangen und sich die fein kribbelnden Wellen glätteten, bis die zerstörte Tür wieder unversehrt massiv zurückblieb. Keine Geräusche mehr, bis auf das Pfeifen seiner Atmung. Er schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand er plötzlich am Rand der riesigen Schale aus schwarzem Gestein, aus welcher sanft nächtliches Licht hervorkam. Wie war er dorthin gekommen? Er schaute sich um, erkannte einige Meter hinter sich die Tür. Es war noch derselbe Ort, er hatte nur etwas Zeit übersprungen. Jetzt erhellte das Licht aus der Schale die Umgebung und er begriff den gigantischen, kuppelförmigen Raum, dessen Wände aus hunderttausenden sechseckigen, kleinen Fächern bestanden. Regale über Regale, an einer Seite der monströse Schrank, verschlossen von einem riesigen Granitportal. Er kannte diesen Ort. Hier würde alles enden …
Er konnte nicht in die Schale hineinblicken, also stieg er langsam und vorsichtig die Stufen des Altares nach oben, auf welchem sie sich befand. Wie ein Schatten schlich er völlig lautlos voran, näherte sich angespannt dem Rand. Doch in dem Moment spürte er eine erneute Verzerrung der Zeit und blickte zur anderen Seite der monströsen Schale, fast achtzig Meter entfernt. Bizarre, ringförmige Wellen tauchten in der Luft auf, sie krümmten was er sah, breiteten sich aus wie Tinte in Wasser. Ferne Schritte und Stimmen hallten durch das kolossale Gewölbe, merkwürdig hohl und verzerrt. Eine andere Zeitebene näherte sich, würde gleich mit dieser verbunden. Hineinsehen oder fliehen? Plötzlich voller Angst zögerte er. Gleich wären sie hier und könnten ihn sehen. Das durfte nicht passieren. Verstecken. Wo? Er schaute sich um, warf dem enormen Granitportal einen Blick zu und rannte los, so schnell er konnte.
Ein heftiger Gedanke öffnete die eindeutig hunderte Tonnen schweren, riesigen Tore schnell und leicht einen kleinen Spalt breit,