Drachenkind. . . .

Drachenkind - . . .


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leises Knurren breitete sich im Raum aus. Eric sah sich selbst, eine bizarre Mischung aus Mensch und Drache. Das Blut der geschlagenen Beute tropfte schnell und schwer von seinen Krallen. Er spuckte ein Stück Fleisch aus und der Stachel glühte heiß auf, er öffnete langsam und drohend das Maul und die Zähne schoben sich ein paar Zentimeter weiter aus den Kiefern hervor, als würden sie wachsen. Doch als er sich selbst erkannte, zog sich der Stachel zurück und er entspannte sich, stieß einen kurzen und lauten Ton aus, zerrte mit dem Maul einen großen Brocken Knochen und Fleisch aus Jans Körper und warf ihn Eric vor die Füße.

      Eric öffnete die Augen. Er lag noch immer stumm im Bett. Das Zimmer war leer. Sein ganzer Körper kribbelte, als hätte ihn jemand an eine starke Batterie angeschlossen. Adrenalin und eine gehörige Menge Dopamin. Sein Herz schlug so schnell und hart, dass er glaubte, es müsse gleich vor Überlastung einfach absterben und er spürte, wie sich die Matratze mit jedem Herzschlag leicht bewegte. Die Stimmen und Geräusche von draußen wehten leise herein. Jemand rannte an der Zimmertür vorbei, er konnte Tamara hören, wie sie irgendwem etwas zurief. Offenbar war er kurz eingeschlafen. Eric schätzte, dass keine drei Minuten vergangen waren, seit er sich ausgezogen und wieder ins Bett gelegt hatte. Er wollte einfach nur schlafen und hatte gemerkt, dass es bei hellem Sonnenlicht leichter ging als nachts. Er hoffte, dass sich die Träume so unterdrücken oder hinauszögern ließen. Offenbar war das nicht so. Was er gerade erlebt hatte, war jedoch zur Abwechslung mal absolut greifbar und bezog sich unmittelbar auf das, was bewusst in ihm vorging. Angst vor sich selbst und den eigenen Trieben, welche ihre ganz eigene Version eines Erics erschaffen könnten. Eine Version, welcher niemand über den Weg laufen wollte oder sollte.

      Eric drehte sich zur Wand und starrte sie an. Bis zu einer Höhe von fast dreißig Zentimetern über der Bettkante sah er die Spuren der Bettdecke, seiner Hände und Füße. Die weißen Wände zeigten klar und deutlich, wie viel Zeit in diesen Räumen verbracht worden war. Alle paar Jahre wurden sie frisch gestrichen und falls notwendig mit neuen Möbeln ausgestattet, doch irgendwie blieben sie immer gleich. Weder Eric noch Jack hatten ihr Zimmer mit vielen Bildern oder anderem Krams geschmückt oder vollgestellt. Es gab buchstäblich nur zwei Betten, einen großen Kleiderschrank welchen sie teilten, einen Kühlschrank für Jack und ein paar Regale, sowie einen Tisch mit zwei Stühlen. Eric drehte sich um, starrte die Regale an. Sie waren ziemlich leer. Papier und Schulsachen, nur das nötigste. Warum waren er und Jack so anders? Öffnete man die Türen anderer Räume, wurde man von bunten Welten und umfassenden Zeugnissen anderer Persönlichkeiten erschlagen. Hier nicht. Jedenfalls nicht durch Masse. Gut, bei Haku sah es ähnlich aus. Doch der war ihnen ja auch irgendwie ähnlich. Was sagte das über sie? Waren sie leer, langweilig, herzlos oder kühl?

      Jemand klopfte an die Tür und riss Eric aus seinen Gedanken, mit welchen er sich ziellos von dem Geschmack nach rohem Fleisch in seinem Mund abzulenken versuchte. Niemand klopfte an diese Tür. Jack würde einfach hereinkommen und selbst Haku war ihnen ein so naher Freund, dass sie beim jeweils anderen ein und aus gingen, wie es ihnen passte. Zu seiner Erleichterung beschlich ihn schnell die Gewissheit, dass es auch nicht Mia war. Müde und neugierig stand Eric auf, schlüpfte in seine Klamotten und ging zur Tür.

      Draußen stand Crow. Er wollte gerade gehen, hatte gedacht, es würde keiner aufmachen und nun erschrak er, als Eric ihm in die Augen sah. Doch es war nur die Überraschung, keine Angst. Oder doch? Eric trat einen Schritt zurück und ließ ihn wortlos eintreten, während ein paar vorbeigehende Bewohner des Heims ihn neugierig musterten, als wäre etwas Besonderes an ihm.

      Crow war ähnlich groß wie Jack, doch er wirkte weder so kräftig noch so selbstbewusst. Er machte den Eindruck, eine lange, schwierige Zeit hinter sich zu haben und müde zu sein. Eric spürte sofort eine Art Verständnis, als er den neugierigen Blick seines Besuchers durch den Raum schweifen sah. Schließlich wandte Crow sich Eric zu. Er schien genau zu wissen, was er wollte, aber nicht, was er sagen sollte. Traute er sich nicht? Eric wollte es ihm nicht schwer machen und die drückende Stille störte ihn.

      »Setz dich«, sagte Eric und beide ließen sich an dem Tisch nieder, auf welchem verstreut bekritzelte Papierfetzen, Schulhefte und ein paar von Jacks Kleidungsstücken lagen. Eric sah Crow aufmerksam an, er mochte ihn irgendwie und freute sich darüber, dass Crow scheinbar keine Angst hatte.

      »Ich will mich bei dir bedanken. Und dir sagen, dass alles okay ist. Ich meine … Ich habe erst nicht hingesehen, aber Haku hat mir danach alles gezeigt. Ich kann damit umgehen.«

      Eric wusste nicht, was er dazu sagen sollte und bekam das Gefühl, jemand hätte ihm gerade ins Gesicht getreten. Was um alles in der Welt war hier los? Haku kommunizierte ebenfalls in Gedanken? Und Crow auch? Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ließ Crow nicht aus den Augen. Der fühlte sich offenbar recht wohl. Erics Neugier wuchs, sein Misstrauen ebenfalls. War das alles, was er wollte?

      »Haku sagt, dein Spitzname ist Kleiner Drache. Warum?«

      »Er und Jack sind der Ansicht, dass es passt. Jack hat mir den Namen gegeben.«

      Crow nickte. Er wirkte auf einmal etwas schüchtern und überlegte, ob er weiter fragen sollte.

      »Ich habe gehört, einige nennen dich Biest oder Tier. Einer der Älteren meint, du wärst schon immer so … Ich meine … Bist du?«

      Crow beobachtete Erics Reaktion genau und erkannte sofort, dass er etwas in Eric getroffen hatte, als der kurz die Augen niederschlug und kaum merklich den Kopf schüttelte. Doch Crow fragte weiter. Er wirkte nicht ganz sicher, doch etwas trieb ihn voran.

      »Bist du ein Drache?«

      Eric hatte augenblicklich wieder das Gefühl, zu träumen. Aber es war real, das spürte er so deutlich und klar, wie Crow ihn gerade anschaute und seine Neugier kaum zurückhalten konnte.

      »Bist du eine Krähe?«, fragte Eric.

      »Naja, nicht ganz. Sie sprechen manchmal zu mir, zeigen mir, was sie alles können. Sie flüstern mir Sachen zu, wenn sie auf meiner Schulter sitzen. Manchmal haben sie mich bewacht, wenn ich auf der Straße geschlafen habe. Wir sind irgendwie seelenverwandt und teilen viel. Sie sind sehr schlau. Raben auch.«

      Eric war sprachlos. Er glaubte Crow jedes Wort, hatte aber in keiner Weise erwartet, hier noch jemanden zu treffen, der so anders war. Er schluckte.

      »Kannst du ihre Gestalt annehmen?«

      Crow senkte den Blick. Eine Erinnerung keimte auf, die er offensichtlich nicht besonders mochte.

      »Nur einmal. Als meine Eltern … so konnte ich fliehen, jetzt bin ich hier. Ich weiß nicht, wie. Aber manchmal verhalte ich mich ähnlich wie die Krähen. Ich denke nicht darüber nach, es passiert einfach. Ich glaube, wenn ich älter und größer werde, krieg ich das irgendwann in den Griff. Hoffentlich«, meinte er, ein zaghaftes Lächeln schlich sich in sein Gesicht, »Krähen sind manchmal sehr seltsam. Das kann peinlich sein.«

      Eric fühlte einen leichten Schmerz im Herzen, welches mittlerweile zur Ruhe gekommen war. Deshalb war Crow also im Heim, auch er hatte seine Eltern verloren.

      »Es tut mir sehr leid, Crow. Wegen deiner Eltern meine ich.«

      »Schon gut«, meinte Crow, doch Eric wusste, dass es überhaupt nicht gut war. Crow vermisste sie mehr als irgendetwas sonst, augenblicklich wurde er von seiner Trauer überrannt. Er ballte die Fäuste und schüttelte den Kopf, als wollte er die Flut an Emotionen ablehnen. Eric stand auf, ging zu ihm und nahm ihn in den Arm. Er hatte keine Ahnung, was ihn zu dieser Geste trieb und empfand es als das Einzige, was er gerade tun konnte. Er wollte Crow trösten. Einfach nur für ihn da sein. Crow zögerte, doch schließlich klammerte er sich fest an Eric und weinte, konnte sich kaum beruhigen. Er war wütend.

      »Ich will sie zurückhaben! Ich muss ihnen noch so viel sagen … das ist so unfair. So unfair! Ich … ich war nie da, habe fast die ganze Zeit draußen verbracht, weißt du? Und sie haben mich gelassen, sie wussten, dass … es war okay für sie, sie haben aufgepasst aber mich immer gelassen und … Es war nicht leicht für sie. Sie haben mich soweit den Krähen überlassen, wie ich es brauchte, aber sie haben nie losgelassen, verstehst du? Ich weiß, dass sie sich das mit ihrem Sohn nicht so vorgestellt haben und jetzt … ich vermisse sie so sehr, warum


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