Drachenkind. . . .
aller Kraft hinaus in den See. Die Wasseroberfläche kräuselte sich, die perfekt runden Wellen liefen lautlos und ohne Klagen auseinander. Eric hörte das Sprudeln der unter die Wasseroberfläche gerissenen Luft, dann vernahm er Mias Stimme. Sie lag ebenfalls mit geschlossenen Augen einfach nur da, dachte in Ruhe nach und verfolgte die Gedanken ihres Sohnes, sobald diese sich ein wenig öffneten.
»Kontrolle, nicht Gewalt. Du solltest ihn schweben lassen, nicht fortschleudern. Das ist einfach.«
Etwas in Eric bewegte sich mit mächtiger Kraft, als hätte Mias Kommentar ihn irgendwie provoziert.
»Kontrolle ist nicht das Problem, Mia.«, sagte Eric kühl.
Ohne Vorwarnung spürte er den See in seiner Hand. Die Masse der Milliarden Liter Wasser, den Lebensraum für unzählige Organismen. Er hob wieder langsam die Hand und das Wasser folgte seiner Bewegung. Es löste sich von seinem Becken, mitsamt allem Inhalt. Ein heftiger Windstoß begleitete das dumpfe und saugende Geräusch der Luft, welche urplötzlich und gewaltsam aus allen Richtungen zwischen Boden und Seewasser gezogen wurde und wie ein Sturm zur Mitte des Beckens rauschte, um den Naturgesetzen der Balance folgend jeden Raum zu füllen, der vorher vom Wasser eingenommen war. Nichts konnte wirklich leer sein, zumindest nicht hier. Eric schmunzelte. Was wäre, wenn die Finsternis nicht leer wäre und das Nichts kein Nichts, sondern nur eine Illusion, in welcher sich etwas anderes versteckte?
Im Mondlicht konnte man die Fische und alle anderen Tiere wie in einem monströsen Aquarium fast zehn Meter über dem Boden schweben sehen, Erics Augen erfassten unzählige winzige Organismen und Teilchen. Er erkannte ein merkwürdiges Gebilde an der Stelle im Wasser, an welcher die von allen Seiten einströmende Luft zusammengeschlagen und nach oben vorgestoßen war, in die gewaltige Wassermenge hinein. Ein kochender Pilz aus wirbelnden Luftblasen sprudelte wie schwerelos umher. Mitgerissener Sand, Steine und Pflanzen färbten die kleine Explosion in den Farben der Erde, schimmerten im Mondschein.
Erschrocken von dem kurzen, unnatürlichen Wind und den Geräuschen, richtete sich Mia auf, während das Echo des lauten Sauggeräusches langsam verhallte. Sie traute ihren Augen nicht, stellte sich sofort hin und stupste Jack an, der aus gemütlichen Träumereien erwachte und das Wasser zunächst mit noch fast geschlossenen Augen ruhig anglotzte, wie es da ein paar Meter vor ihnen in der Luft schwebte. Schließlich erreichte das Bild sein Bewusstsein und er verstand, dass er nicht mehr träumte. Jacks Augen weiteten sich langsam, die Gesichtszüge entglitten ihm. Der See war erstaunlich tief, an einer Stelle erkannten sie eine lange, dicke Säule aus Wasser, der Inhalt eines tiefen Loches. Groß wie eine kleine Stadt und voller organischer, wahnsinniger Lichtspiele, schwebte der See nun vor ihnen und stieg langsam immer weiter nach oben.
»Jack, was siehst du?«, flüsterte Mia zu Jack, der erst sich selbst schmerzhaft in die Finger biss und dann Mia in den Arm kniff. Beide schrien kurz auf, dann wurden sie sich einig, dass sie wirklich nicht träumten.
»Ich sehe … auch …«, kam es langsam aus Jack heraus. Er dachte nur, konnte nicht sprechen.
Eric erhob sich nun ebenfalls, stellte sich hinter die beiden und genoss den unglaublichen Anblick, während er das Gewicht des Sees angenehm schwer irgendwo tief in seinem Inneren spürte. Als Fische und andere Wesen zunehmend hektisch in Bewegung gerieten und sich Druck und Bewegung im Wasser zu sehr änderten, ließ Eric es behutsam wieder in dessen Becken sinken. Ein leichtes Erdbeben rollte durch den Waldboden und über die angrenzenden Wiesen, als sich hunderte Millionen Tonnen Wasser gleichzeitig niederlegten und den Boden großflächig fast einen halben Meter absenkten. Eine heftige Druckwelle fegte ihnen um die Ohren, feucht und diesig ließ sie die Bäume im Wald rascheln. Eric ließ seine Hand sinken, beruhigte das Wasser und beobachtete fasziniert eine kochende Bewegung in der Mitte des Sees, fast einen Kilometer entfernt. Als er vorsichtig ausatmete, flimmerte die Luft. Ihm war heiß.
»Ich hoffe, ich werde meine Entscheidung nicht bereuen«, sagte Eric, betrachtete nachdenklich seine Hand und sah hinaus aufs Wasser, wo sich die größeren Wellen langsam legten und plötzlich Schwärme aller möglichen Fische sich nahe der Oberfläche bewegten. Mia und Jack gaben keinen Ton von sich, beide hatten zu atmen aufgehört. Sie sahen immer noch ständig zwischen dem See und Eric hin und her, konnten nicht glauben, was sie da gerade gesehen hatten. Doch Eric beachtete sie nicht. Er war tief in Gedanken versunken, musterte wieder den Baum. Dieses Mal waren es Mia und Jack, die sich flüchtig fragten, ob sie in einem Traum steckten. Mia regte sich zuerst, ging zum Ufer und berührte mit den Schuhen das Wasser. Als sie sich zu ihnen umdrehte, war ihr Blick abermals kaum zu deuten. Sie kam zurück und ließ Eric nicht aus den Augen, der sie erst jetzt verträumt ansah.
Als Eric völlig in die Situation zurückkehrte und Mias Gesichtsausdruck und Jacks fassungslose Starre erkannte, fühlte er sich leicht unbehaglich. Beide wirkten verängstigt oder eingeschüchtert, wussten nicht, wie sie auf das reagieren sollten, was offensichtlich gerade in Wirklichkeit stattgefunden hatte. Alles war ungemütlich still, kein Tier gab einen Laut von sich, selbst die Fledermäuse hatten sich irgendwo abgehängt und warteten. Worauf? Für eine Sekunde fragte sich Eric, ob er wieder einen Aussetzer gehabt und etwas Wichtiges verpasst hatte, doch als er sich prüfend umsah wurde ihm klar, es war nicht so. Jack hob seine Faust, ohne Eric dabei anzusehen. Sein Blick war nach wie vor fest auf den See gerichtet. Das tat er sehr selten. Ausschließlich dann, wenn einer von ihnen beiden etwas tatsächlich Krasses, wie Jack es nannte, geschafft hatte. Eric berührte mit seiner Faust die von Jack. Der nickte nur stumm. Mia sah sie beide nach wie vor unbewegt an, dann begann sie, die Decken wieder aufzurollen und zu verstauen.
»Was ist?«, fragte Eric ratlos. Doch Mia antwortete nicht, schien nachzudenken. Schließlich meinte sie:
»Eric. Weißt du, was du gerade getan hast?«
»Klar.«
Eric sah sie eindringlich an, empfand große Lust, ihre Gedanken zu durchstöbern. Doch er tat es nicht, respektvoll hielt er sich zurück. Mia nickte nur.
»Wir sollten gehen. Kommt, es wird zu dunkel. Wir werden morgen vielleicht wieder hier sein, ich muss nachdenken und unsere Reise planen. Ich will, dass du die Nacht über meditierst. Ich will, dass du deine eigene Entscheidung verstehst. Und ich bitte dich inständig: Gib der Welt eine Chance.«
Jack sah Mia fassungslos an. Er hatte sich mit vielem abgefunden, aber so hatte er sie noch nie erlebt. Eric beobachtete sie verwundert, aber er wartete nicht und verwandelte sich auf der Stelle, obwohl es hier beinahe zu eng war. Aus der höheren Perspektive warf er erneut einen Blick zu dem zerrissenen Baum am Ufer. Es war, als spürte er eine kurze Erinnerung, er fühlte die Aromen feuchter Holzsplitter im Maul, als hätte er selbst gerade einen Ast aus der großen Pflanze herausgerissen und jemanden unter Wasser gezerrt. Doch die Regung verflog. Er ließ Jack und Mia aufsitzen, löste sich vorsichtig vom weichen Boden des Ufers und schon flogen sie über den See, der im silbernen Mondlicht unschuldig glitzernd wieder zur Ruhe gekommen war, leicht getrübt vom aufgewirbelten Sand des Grundes.
Kapitel 9
Am nächsten Morgen fühlte sich Eric entkräftet, er hatte die ganze Nacht meditiert. Darüber, wieso er sich letztlich doch für das Leben als jemand Anderes oder sogar etwas Anderes und vielleicht in einer anderen Welt entschieden hatte. Die Entscheidung war eher instinktiv gefallen und er stellte fest, dass er sie wirklich nicht völlig verstand. So hatte er nach einer Antwort gesucht, wie Mia es von ihm verlangte. Und die konstante Konzentration auf alles, was ihm so durch den Kopf ging und was eine Antwort enthalten könnte, das Annähern an Ängste und das Zulassen ungewisser Impulse, hatte ihn eine Menge Kraft gekostet. Immerhin, so musste er nicht schlafen und war den Träumen zumindest dieses Mal entgangen. Was gegen die Müdigkeit natürlich nicht half. Außerdem beschäftigte ihn nach wie vor Mias Reaktion und auch die von Jack. Während des gesamten Fluges, vom See im Wald bis zu ihrer versteckten Landung auf dem verlassenen Tennisplatz, hatte keiner von beiden auch nur ein Wort gesprochen oder gedacht. Verunsichert hatte Eric nicht nochmals gefragt, was los wäre und sogar kurz das Gefühl gehabt, etwas falsch gemacht zu haben.
Die Sommerferien waren vorüber, es war Freitag. Da Eric im Anschluss an den eisigen Traum im Fieber über fünf Wochen verschlafen