Drachenkind. . . .

Drachenkind - . . .


Скачать книгу
Eingriffe in die Gedanken jener, welche sie tatsächlich erspähen konnten. Er sah Mia und Jack direkt vor seinem linken Auge stehen. Mia flüsterte wie verzaubert vor sich hin, beobachtete gelähmt die Pupillen in Erics Augen, welche exakt und ohne Verzögerung selbst auf solche Bewegungen und Veränderungen im Licht reagierten, die sie nicht einmal wahrnahm. Sie erahnte die Bewegung einer Linse in dem großen Drachenauge, welches auf sie scharfstellte. Dann zog sie zwei Mützen aus der Tasche, die sie bei sich hatte.

      »Hier, Jack. Damit dir deine Ohren nicht so wehtun.«

      Sie gab Jack eine Mütze, wandte sich wie verzaubert wieder dem Auge zu und sah direkt hinein. Eric ließ es geschehen, versuchte nicht, sie mit seinem Blick zu lähmen. Es ging ihn nichts an, was sie dachte. Und doch erkannte er sofort, dass es sich für sie anfühlte, als stünde sie vor einem gewaltigen Feuer, dem sie sich weder entziehen noch verwehren konnte. Schließlich setzte sie zögerlich und mit einem merkwürdig langsamen Blinzeln ihre Mütze auf und beide trampelten ihm übers Gesicht, bis sie ihm buchstäblich im Nacken saßen und sich an zwei seiner langen Hörner festklammerten. Dann stieß er sich ab, Mia entfuhr ein kleiner Freudenschrei und schon fegte er über das Sportparadies hinweg, den roten Sand auf den Tennisplätzen aufwirbelnd, über die nächste Straße, über das Fabrikgelände und schließlich aus der Stadt hinaus in Richtung Felder und Wald.

      Jack machte dieser Flug deutlich mehr Spaß, da er einen Schutz für seine Ohren hatte. Mia und er genossen den halsbrecherischen Geschwindigkeitsrausch, bereits nach kaum fünf Minuten sahen sie unter sich die große Wiese und den Waldrand.

      »Flieg ruhig weiter, du kannst auf der Lichtung landen, die ich euch zeigen will!«, brüllte Mia gegen den tosenden Wind. Jack fühlte sich stolz, auf einem schwarzblauen Drachen übers Land zu jagen und er genoss es, alles aus der Vogelperspektive sehen zu können. Und sie froren auch nicht, da Eric wie immer eine gewaltige Menge Hitze ausstrahlte. Eric machte sich Sorgen. Er berechnete ihre Geschwindigkeit und ihm selber war gar nicht klar, wie brutal der Wind für seine Passagiere sein musste. Aber Mia beruhigte ihn mit einem munteren Gedanken. Sie hielten sich gut fest und hinter Erics Kopf war es gerade noch erträglich.

      Als Eric in der Ferne einen See erspähte, dachte Mia, dass er gleich landen müsse. Schon kurze Zeit später sah er die große Lichtung und bremste stark ab. Schließlich segelten sie langsam in großen Kreisen nach unten und er landete weich auf dem mit Blättern und Zweigen bedeckten Moosboden, wo seine gewaltigen Fänge tiefe Abdrücke hinterließen. Der See schimmerte schwach zwischen den Bäumen hindurch. Es roch angenehm nach feuchter Sommerluft und langsam wurde es ein wenig dunkler. Eric ließ Mia und Jack absteigen. Denen zitterten die Knie, beide hatten ein merkwürdiges Klingen in den Ohren, welches langsam nachließ. Eric verwandelte sich mit einem leisen und zufriedenen Knurren zurück, stand auf, klopfte sich die Erde von der Hose und sah die beiden an.

      »War ich zu langsam?«

      »Nein, eher zu schnell«, sagte Mia freudig, »ich denke, was das Fliegen angeht, kannst du dich auf dich verlassen. Bist du müde?«

      »Nein, aber ich schwitze ein wenig.«

      »Gut, dann lasst uns weitergehen, wir haben nur ein paar Stunden.«

      Sie stapften durch das hohe Gras, tauchten unter tiefhängenden, duftenden Tannenästen hindurch und zählten die Fledermäuse, welche sich jetzt vermehrt zur Jagd aus ihren Verstecken wagten. Eric hörte ihre Rufe und wie sie ihren Ultraschall benutzten. Es war ihm ein wenig unheimlich, dass er sie präzise orten konnte und er hatte auf einmal das Gefühl, sie würden von den kleinen Tieren verfolgt und geprüft. Die altbekannte Illusion, dass ein Wald nachts stiller wurde, löste sich schnell auf. Wo Leben war, gab es keine Stille. Als sie sich an der letzten Baumgruppe vorbei geschlichen hatten, tauchte der See vor ihnen auf. Wie ein großer, glänzender Spiegel mit kleinen Wellen darauf erstreckte er sich bis zum Horizont. Der aufgehende Mond spiegelte sich auf dem Wasser, die langen Schilfrohre in Ufernähe wiegten sich ruhig und im Takt bei jeder warmen Windbrise. Mia stellte ihre Tasche ab und setzte sich auf den Boden. Wortlos taten Eric und Jack es ihr gleich. Als Eric die Gestalt eines merkwürdig bizarren Baumes erkannte, setzte ihm für ein paar Sekunden fast der Atem aus. Es war ein großer, alter Baum, direkt am Ufer. Sein Stamm war leicht geneigt und die Krone hing ein paar Meter weit über das Wasser. Und etwas hatte einen der dicksten Äste abgerissen, die Verletzung war voller Harz und roch wunderbar … Bevor Mia und Jack sein Erstaunen und den Grund dafür erkannten, wandte er sich wieder ihnen zu.

      Jetzt saßen sie in einem kleinen Dreieck, jeder sah die Anderen an.

      »Das Erste, was ich dir zeigen will, ist die Meditation. Ich denke, dass du nicht lange brauchen wirst, um sie zu erlernen, da Konzentration der Schlüssel dazu ist. Wer willensstark ist, der wird da nicht so viele Probleme haben. Jack kann es schon, er kann sich ausruhen. Danach verlange ich, dass du lernst, Dinge mit deinen Gedanken zu bewegen. Das Türschloss an der Duschkabine war schon nicht schlecht, aber du solltest noch viel weiter gehen. Es könnte dir einmal das Leben retten. Du kannst dich auch hinlegen, wenn du magst. Konzentriere dich anfangs auf irgendetwas, du wirst dir sicher etwas Gutes aussuchen, dann lasse deine Gedanken einfach treiben, halte sie nicht fest. Stelle sie dir vor wie den Wind, der nie stehenbleibt, überall ist und doch gar nicht existiert. Dann erreichst du einen Zustand der Leere, vollkommener innerlicher Ruhe für den Moment. Das ist die Voraussetzung dafür, dass du Dinge bewegen kannst, ohne sie zu berühren. Jetzt lerne und übe! Wenn du nichts mehr denkst und alle Gedanken sich verflüchtigt haben, sag Bescheid.«

      Mia lächelte ihn an, Jack legte sich hin. Sie holte eine Wolldecke aus ihrer Tasche und warf sie den beiden hin. Eric legte sich auf den Rücken neben Jack ins weiche, trockene Moos und deckte sie beide zu, sah zwischen ein paar Ästen die ersten Sterne aufglimmen und hörte gespannt den Schritten eines Käfers zu, welcher direkt neben seinem linken Ohr durch das Moos wanderte. Er machte die Augen zu und tat das, was er immer tat, sobald er tagsüber träumte, wenn auch sonst mit offenen Augen: Er überließ sich seinen Gedanken, ließ sie ziehen ins Ungewisse. Unvermittelt landeten sie bei jenem Baum am See, welcher wie ein mystischer Beweis für eine Verbindung zwischen Einbildung und Realität tatsächlich nur ein paar Meter von ihnen entfernt stand. Gab es überhaupt eine Trennung der zwei? Er stellte sich seine Gedanken wie die Wolken am Himmel vor, manchmal ruhig, mal turbulent, hell oder dunkel und immer in Bewegung. Nach einiger Zeit, er wusste nicht, wie lange, wurde sein einst wolkenverhangener Himmel vollkommen blau, kein Hauch von Dunst war mehr zu sehen. Er hatte fast das Gefühl, nichts mehr in sich zu haben, nie einen Gedanken entwickelt oder einen Sinneseindruck gehabt zu haben. Es war wie ein leeres Blatt schneeweißen Papieres, das neu beschrieben werden sollte. Er öffnete die Augen.

      »Bin soweit«, sagte Eric leise und Mia antwortete:

      »Ich habe hier einen Stein, etwa ein Kilo schwer. Sobald du ihn einen Meter über dem Boden schweben lassen kannst, darfst du mich wecken.«

      Eric sah den Stein nicht an. Er glaubte Mia einfach. Seine Gedanken löschten sich wie von selbst, sobald sie gedacht waren. Er konnte von vorn anfangen, sofern er es wollte. Oder nur die Gedanken zurückholen, welche nützlich waren. Er fühlte die Masse des Steins. Es musste ein glatter Stein sein, er roch nach Süßwasser und das hieß, dass er vielleicht aus einem Fluss oder einem See stammte und dass das Wasser ihn hatte glatt werden lassen. Eric wusste nicht, ob er es zu wissen glaubte. Er hing zwischen zwei Zuständen, der völligen Gedankenlosigkeit und dem Leben. Beides war doch sehr weit voneinander entfernt, sodass sich der Stein weder in die eine noch in die andere Richtung bewegte. Es hing von seiner Entscheidung ab, ob er die Welt mit den Augen eines Menschen oder mit jenen eines besonderen Menschen sah. Er ahnte, dass er seine Kräfte immer beherrschen würde. Egal, was er damit täte. Aber falls er sie verwendete, um etwas Gutes zu tun, würde er sie vielleicht verstehen. Und das war etwas, was er schon lange gewollt hatte. Die Fähigkeit, hinter die Entscheidungen und Handlungen eines Menschen zu sehen, sie zu begreifen. Damit könnte er selbst den größten Feind besiegen. Oder vielleicht seine Träume.

      Eric entschied sich für den Drachen. Den Charakter des Menschen, anfällig für Bestechung und das Streben nach zu viel, ließ er für den Moment einfach zurück. Er entschied sich für ein neues Leben, vielleicht zusammen mit Jack. Hoffentlich … In dem Augenblick, in dem er diesen Entschluss gefasst hatte,


Скачать книгу