Drachenkind. . . .
Büscheln bedeckt. Schließlich ortete er die Quelle. Die nasse Pflanzenerde in einem der vielen, kleinen Blumentöpfe. Sie knisterte. Vielleicht Luftblasen? Eric wurde neugierig, doch ehe er aufstand und nachschaute, wurden ihm seine Gedanken bewusst und er unterdrückte den Trieb erstaunt und verunsichert. Mia sagte nichts und folgte auch nicht ihren neugierigen Blicken. Sie blickte die beiden nur abwechselnd an.
»Also, was wir nun tun?«, meldete sich Jack verlegen.
»Gar nichts«, sagte Mia leise, »ich möchte vorerst nur erfahren, was heute Nachmittag geschehen ist.«
Eric wandte sich wieder ihr zu. Sie fixierte ihn abschätzend und neugierig.
»Soll ich es alles erzählen?«
»Nein, du kannst mir auch deine Gedanken öffnen, damit ich darin lesen kann, falls es dir lieber ist.«
Eric war es lieber. Er hatte keine Lust, noch einmal alles zu erzählen. Es war ihm irgendwie immer noch ein wenig unangenehm, er wusste nicht, weshalb. Also schloss er die Augen und stellte sich seinen Tag wie einen langen, dichten Strom an Bildern und Sinneseindrücken vor, ging gedankenverloren zurück zu der Stelle, an der Jack ihn dazu gebracht hatte, auf die Suche nach seinem Inneren zu gehen. Er merkte, wie sich Mia alles genau ansah und als er die Augen wieder öffnete, sah sie aus, als hätte sie gerade alles selbst und lebensecht erlebt. Sie starrte ihn an, Eric konnte ihren Blick nicht deuten. Ihre Reaktion wirkte erstaunlich neutral.
»Es ging sehr schnell bei dir. Und Jack, deine Anleitung war gut. Vielleicht etwas lang, aber Vorsicht ist ja nicht verkehrt. Ihr hättet das nie einfach so tun dürfen, ohne vorher eure Gedanken zu verschließen oder Stille zu verbreiten.«
»Was?«, fragte Eric.
»Also gut, die erste Lektion. Du kannst dir vielleicht vorstellen, was ich mit Stille meine. Kein Ton, keine Verbreitung von Schall. Absolute Stille. Wenn sich ein Wesen oder mehrere mit ausreichenden Kräften ihre Umwelt so vorstellen, dann kann dieser Effekt zeitlich begrenzt auftreten. Jede Schallwelle, welche von euch ausgeht, wird blockiert oder vergessen im Geist anderer, welche sie wahrnehmen und euch als Ursache begreifen. In Anbetracht deiner Fähigkeiten gehe ich davon aus, dass dieses Phänomen auftreten würde. Es würde still, gerade da, wo du dich mit deinen Gedanken befindest. Falls ihr noch einmal etwas Derartiges planen solltet, berücksichtigt das bitte. Nicht jeder muss mitbekommen, was ihr von nun an so treibt.«
Sie nickten schweigend. Eric stellte sich vor, wie er Jan zum Schweigen brachte, wenn der wieder eine seiner Aktionen gegen die Kleineren starten würde. Doch Mia unterbrach ihn mit einem scharfen Gedanken:
»Du bist, was du bist, um das zu tun, was nur du tun kannst. In größerem Kontext hat Jan nichts damit zu tun. Er ist jemand, der unter Minderwertigkeitskomplexen und Aufmerksamkeitsdefiziten leidet. Das Schlimmste ist eben, dass er zusätzlich auch noch ein Idiot ist. Er hat wohl alles angekreuzt. Könntest du dich daran erinnern, was du ihm angetan hast, wäre es vielleicht einfacher für dich, seine Angst vor dir zu verstehen und sein Handeln milder zu betrachten. Es ist nicht deine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er sich anders verhält. Denk daran.«
Jack und Eric sahen einander an. Eric spürte, wie er Mia dringend widersprechen wollte. Er wusste genau, wie Jan ihm gegenüber eingestellt war. Doch das war keine Entschuldigung für alles, was Jan jeden Tag so trieb und schon damals getan hatte. Eric erstarrte. Er wollte Mia von den Bildern erzählen, die er gesehen hatte, als sie durch den Wald zurück zu den Wiesen gegangen waren. Jan auf dem Boden, tot … doch er konnte nicht, etwas lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine Ahnung, ein Gefühl, welches viel schwerer wog. Es war etwas mit ihnen in diesem Raum, da gab es keinen Zweifel. Unter all den Schmerzen und Qualen, welche seine Träume ihn lehrten, gab es auch nützliche Details, wie das zweifelsfreie Aufspüren kaum sichtbarer Wärmequellen oder Bewegungen. Er ahnte, wie nahe es war und sprang von seinem Stuhl auf, als hätte irgendetwas ihn an der Schulter berührt und ein Paar eisiger Hände um seinen Hals gelegt. Mia und Jack erschraken.
»Wir sind nicht allein.«
Mia machte eine Handbewegung und die Tür ihres Büros flog krachend auf, sie kam um den Tisch herum und schob Jack unsanft vor sich hindurch, nachdem der ebenso erschrocken aufgestanden war.
»Was ist es?«, fragte Mia, während sie durch den Flur in den Essraum liefen.
»Ich weiß es nicht, aber es ist nichts Gutes, reicht das?«
Sie Bogen um die Ecke und schlitterten über die glatten, abgenutzten Dielen zur Tür in den nächsten Flur. Eric wusste nicht, wie sie es gemacht hatte, aber plötzlich war Mia vor ihnen. Er wollte sich nicht umsehen, spürte aber, dass es hinter ihnen dunkler wurde. Mia rannte zur Haustür, öffnete sie mit dem Wink ihrer Hand und sie stürmten nach draußen auf den leeren Bürgersteig. Die Tür schloss sich wieder.
»Eric, wag es nicht, dich zu verwandeln, wenn zu viele Leute dabei sind. Sie alle könnten dann unwillentlich ihr Wissen preisgeben und euch verraten. Niemand darf dich in der anderen Gestalt sehen … Eric, hörst du mich?«
Eric hörte sie laut und deutlich, doch er reagierte verzögert. Etwas in ihm richtete sich völlig klar gegen ihre Aufforderung.
»Aber was soll ich machen, falls es wirklich etwas Schlimmes ist? Wie kann ich mich dann verteidigen?«
»Du musst dich innerlich annähern, aber du kannst nicht seine Form annehmen. Was hast du gefühlt?«
Eric überlegte kurz und sah die Haustür an. Es war immer noch da und kam näher. Er konnte etwas hören, wie eine leichte Brise, kühl und lebendig. Er sah einen Schatten hinter dem Glasfenster der dicken Holztür, Bilder aus seinem Traum zuckten durch seine Gedanken, angeregt durch die nahende Finsternis.
»Könnt ihr es nicht sehen?«
»Nein«, keuchte Mia, »aber wir können es jetzt auch merken, er hat eine Gestalt angenommen. Diesmal ist es ein echter Wächter. Bleibt von der Tür weg!«
Erics Knie begannen, zu zittern. Wie sollte er sich verteidigen, wenn er die oder den Wächter weder ansehen noch sich verwandeln durfte? Mia und Jack wurden immer steifer, die Temperatur ihrer Körper sank stetig. Erics Herz raste. Es gefiel ihm nicht wirklich, dass sie durch seine Untätigkeit vielleicht verletzt würden. Oder sterben mussten. Mias Gedanken verstummten. Der eben noch warme Sommerwind blieb stehen und die Kälte stieg in ihm hoch. Zu langsam … Vielleicht sollte er sich besser jetzt entscheiden, ob er trotz Mias Warnung auch die Gestalt des Drachen annehmen sollte, immerhin konnte er sie beide dann von hier fortschaffen. Aber die Wächter würden ihnen zweifelsfrei folgen. Was, wenn man ihn sehen würde? Würden auch andere im Heim in Gefahr geraten? In genau dem Augenblick wurde der Schatten hinter der Tür immer dunkler und Erics Inneres begann, sich zu verspannen.
Eric entschied, die Augen offenzuhalten, konzentrierte sich wieder auf seine Mitte, auf den tiefblauen Drachen in sich und die wallenden Hitzeströme nach der Verwandlung. Er stellte sich vor, wie er die Eigenschaften des Drachen übernahm, ohne dessen Gestalt anzunehmen, obwohl er sich so kaum körperlich wehren konnte. Deutlich langsamer als letztes Mal breitete sich wieder das Feuer in seinem Inneren aus, vertrieb mit einer Urgewalt die Kälte aus Seinen Gliedern und er konnte sich wieder bewegen. Seine Sinne schärften sich noch mehr als sie es nach der ersten Begegnung mit sich selbst schon getan hatten. Er fühlte sich sicherer, beschützt von der angenehmen Hitze, die ihn mit ungeahnter Energie füllte.
Die Haustür blieb verschlossen, stattdessen glitt der Schatten einfach durch sie hindurch. Die dicke Doppelverglasung knackte laut, als das Sichtfenster in der Tür zersprang. Eric erkannte, dass es wenig Sinn gemacht hätte, sich zu verwandeln. Nicht einmal ein Drache wie er hätte etwas mit einem in der Luft schwebenden Haufen Rauch anfangen können. Der Wächter sah wie eine schwarzbraune, dichte Wolke aus, die sich stetig veränderte und einem förmlich das Licht aus den Augen riss. Alles in seiner unmittelbaren Nähe verschwamm zu dunklen Formen, als würde es plötzlich nicht mehr vom Licht der Umgebung getroffen. Dann verbreitete sich das Gebilde plötzlich und schloss sie alle drei ein wie ein lautloser Sandsturm. Doch von den Augen des Wächters war nichts zu sehen. Mit einem Mal formten sich in Erics Gedanken die Bilder zweier Augenpaare, die fast einen Meter über ihnen nebeneinander