Drachenkind. . . .
Drachen. Den sah er ruhend vor seinem inneren Auge und schon war auch er wieder eingeschlafen.
Eric befand sich plötzlich wieder auf dem Eis, mitten auf einer riesigen Platte, die sich sehr langsam auf den Wellen des Meeres bewegte. Er sah sich um und erschrak, als er von hier aus schon das dunkle Chaos am Himmel erkennen konnte. Finster löste der Horizont sich auf, verschwammen Himmel und alles darunter zu ungewisser Dunkelheit, Meter für Meter. Noch hatte er Zeit. Er drehte sich um und entdeckte, dass er etwa fünfzig Meter vor einem Abgrund stand. Er ging darauf zu. Seine Schritte fühlten sich schwer an und mit jedem weiteren wurde er langsamer. Als er sich gerade fragte, ob er so jemals am Rand ankommen würde, stand er plötzlich ohne Vorwarnung direkt am Abgrund, konnte seinen Augen nicht trauen. Er sah kein Eis mehr, nur noch Wasser. Das Meer, tiefblau und täuschend ruhig. Eric blickte steil nach unten und unzählige Meter weit entfernt brachen riesige Wellen wie in Zeitlupe an dem Eisberg, auf dem er stand. Es war ein Anblick, wie er ihn noch nie erlebt hatte. An dieser Stelle hatte das Eis eine türkisblaue Farbe und glänzte im Licht der Sonne wie ein Spiegel. Eric hörte das vielfältige Knacken der Spannungen im Eis, welche kleine, kurzweilige Frakturen in den gigantischen Berg jagten.
Der Wind pfiff ihm eisig um die Ohren und er machte einen Schritt zurück, um nicht von ihm aufs Meer hinaus geweht zu werden. Er hatte einmal gehört, als sein Leben noch normal gewesen war, dass jemand, der ungeschützt und ungebremst aus zu großer Höhe ins Wasser sprang, wie auf Beton aufschlagen und sich alle Knochen brechen würde. Eric grauste bei dem Gedanken. Das hier waren nicht sechzig Meter, es waren tausende, wahrscheinlich über zwei Kilometer. So dickes Eis … Es ließ sich nur schwer erahnen, da das Meer so gleichmäßig blau aussah und die Sonne blendend direkt gegen die Steilwand schien. Eric schloss die Augen. Wie konnte er aus diesem Traum wieder herauskommen? Er wusste, es war einer, denn seine Bewegungen fühlten sich nicht echt an. Er hörte etwas hinter sich und fühlte, dass sich etwas sehr schnell näherte. Noch bevor er sich umdrehen konnte, empfand er einen stechenden Schmerz in seinem Rücken und kippte wie erstarrt vorwärts über die Kante des Eisberges.
Die Luft schlug ihm entgegen wie der Abgasstrahl einer Rakete, nur eiskalt. Eric drehte sich um sich selbst und für einen Sekundenbruchteil konnte er eine Gestalt auf dem Vorsprung sehen, wo er gerade noch gestanden hatte. Der Schmerz erwischte ihn so heftig, dass er sich kaum noch bewegen wollte. Als er die Augen schloss, um nichts von dem drohenden Aufprall auf der Wasseroberfläche mitzubekommen, hörte er ein Brüllen in sich. Energisch, wütend und zugleich auffordernd. Eric riss sich zusammen und tastete seinen Rücken ab. Als er gegen den dicken Pfeil stieß, der in seiner Hüfte steckte, entfuhr ihm ein lauter Schrei, der von der eisigen Wand des Eisberges merkwürdig hohl reflektiert wurde.
Das Meer kam langsam näher. Eric spürte, wie sich der Druck auf seinen Körper stetig erhöhte. Ihm wurde schwindelig, er drehte sich weiter und das Blut stieg ihm unaufhaltsam in den Kopf. Er konzentrierte sich angestrengt auf das Feuer des Drachen und dessen Stärke und endlich fühlte er die Glut in sich. Als er sich verwandelt hatte, verschwanden die Schwindelgefühle sofort, Hitze verbannte die schneidende Kälte des Windes. Er drehte sich immer noch wild um sich selbst und als er unüberlegt die Flügel ausspannte, schlugen ihm die Windböen so heftig hinein, dass er sich kaum noch fangen konnte. Sein linker Flügel krachte gegen das Eis, riss eine tiefe Furche hinein und die Splitter folgten ihm abwärts, erzeugten merkwürdige Geräusche. Eric drehte sich zwar immer langsamer, intuitiv veränderte er die Form der Flügel immer so, dass eine Seite der Drehung entgegenwirkte. Wegen der schnittigen Form seines Körpers beschleunigte er aber schließlich so stark, dass er schnell die ersten, noch kleinen und spitzen Splitter des Eisberges auf dem Wasser treiben sah. Als er endlich aufgehört hatte, sich zu drehen, spreizte er die Flügel zu voller Größe und katapultierte sich in einem langen Bogen wieder nach oben.
Der Drache war wütend. In seinem Inneren tobte der Zorn über den Angriff, den jemand auf ihn verübt hatte. Er wendete in Richtung Eisberg und seine Augen machten ihm sofort klar, dass die Gestalt immer noch dastand. Er konnte erkennen, dass sie einen Bogen in der rechten Hand hielt und sich bereits abgewandt hatte, ihn also nicht kommen sah. Er beschleunigte, wollte unter keinen Umständen zulassen, dass ihm dieses Etwas entkam. Als er noch glatte zweihundert Meter entfernt war, bohrte er seinen Blick in den Rücken des Geschöpfes, welches nicht ahnte, was für einen dummen Fehler es da gemacht hatte. Eric raste auf seinen Widersacher zu und in der nächsten Sekunde schnappte er sich das Wesen mit der Linken. Der Bogen zerbrach, der Köcher mit Pfeilen schoss über das Eis und Eric sah ihn in Gedanken zersplittern. Er flog so schnell, dass er schon dachte, er hätte den Schützen durch den Aufprall erledigt, aber er spürte den Herzschlag des Feindes und hätte ihn am liebsten in seiner Faust zerquetscht. Der Gefangene musste sich erst von Erics Augen und ihrer fesselnden Wirkung befreien, bevor er wieder denken konnte. Er schickte seinem Entführer die am meisten verachtenden und bösesten Verwünschungen, wand und krümmte sich und hatte doch nicht genug Kraft, dem Griff zu entkommen. Es hätte ihm auch nicht mehr als den sicheren Tod gebracht, denn Eric glitt nun lautlos wie eine Eule hoch über den Eisbergen dahin, während er nach einer Stelle suchte, wo er sich seinen Fang ungestört aus der Nähe ansehen könnte. Als er eine kleine Fläche auf einem einsamen, winzigen Eisberg entdeckte, änderte er schnell die Richtung, segelte über den Rand des Eisklumpens und steuerte zielstrebig auf den fast ebenen Fleck zu.
Eric missachtete die Beschimpfungen, Drohungen und Befehle seines Opfers, es gefälligst irgendwo abzusetzen und sich zu verziehen und als er auf der gigantischen Scholle landete, ließ er die Gestalt einfach fallen. Er schüttelte sich, blieb aufrecht auf den Hinterbeinen stehen und wartete darauf, dass sich das Geschöpf bewegte. Zuerst geschah gar nichts, doch als Eric seiner Wut Ausdruck verlieh, sich schwungvoll auf alle viere fallen ließ und das kleine Ding so laut anbrüllte, dass es ein paar Schritte weit über das Eis rollte, drehte sich die kleine Figur um und sah Eric in die Augen. Schon war sie wieder in den Tiefen ihres Denkens und Seins eingeschlossen und Eric brüllte ihn in Gedanken an, wer er denn sei und warum er versucht hatte, einen unbekannten Jungen von hinten zu erschießen. Die Gedanken des Gefangenen überschlugen sich und der Fremde versuchte, sie zu verschließen, scheiterte aber kläglich unter der Einwirkung von Erics willen, ihm eine Antwort abzuverlangen. Eric ging auf seine Beute zu, betrachtete sie von allen Seiten. Ein Mensch, in dicke, dunkle Stoffe gekleidet. Nicht besonders groß oder stark, aber scheinbar absolut fit und ein hervorragender Schütze, was der starke, zielsichere Schuss auf lange Distanz trotz des stürmischen Windes bewiesen hatte. Eric spürte die feindselige Erregung durch seine Wirbel schießen, sein langer Schwanz zuckte. Der Stachel bewegte sich, Eric hielt ihn zurück. Mit schmerzenden Gliedern, er hatte sich scheinbar eine Rippe gebrochen, sprach der Mann die ersten Worte.
»Ah … Wie konntest du …? Du bist so gut wie tot.«
Er lachte leise, doch es hörte schnell auf, da es ihm scheinbar Schmerzen bereitete. Eric stand über ihm, empfand eine zunehmend gefährliche Lust, den Schützen zu töten. Doch er hielt sich im Zaum, konnte allerdings kaum verhindern, dass sein langer Schwanz zielstrebig auf den Mann zu kroch. Langsam kam der Stachel zum Vorschein, berührte haargenau und kontrolliert mit seiner Spitze die Stirn des Mannes und zwang ihn, sich wieder auf den Rücken zu legen. Sofort wanderte der Stachel blitzschnell zum Solarplexus des Mannes und Eric hielt die Waffe an Ort und Stelle, spürte das Gift darin und hielt es zurück. Der Mensch erstarrte, traute sich kaum, zu atmen, da jeder Atemzug seinen Brustkorb anheben und den Stachel somit hineinzwingen konnte.
»Warum so still? Drohe mir. Na komm! Wer bist du? Woher kommst du? Was willst du?«
»Ich … Manou, mein Name ist Manou. Aus den Bergen, ich komme aus den Bergen!«, stammelte er und Eric erkannte in Manous Gedanken einen stechenden Schmerz, als der Stachel ein paar Millimeter tief in seinen Körper schnitt und stetig heißer wurde. Doch Eric ließ nicht locker, hatte das Gefühl, nur in eine Richtung gehen zu wollen. Als er den Stachel langsam vorantrieb, schrie der Attentäter.
»Weiter. Du hast versucht, mich zu töten. Sprich weiter.«
Eric spürte das warme Blut an der Spitze des Stachels, was beinahe einen Reflex auslöste, welcher das Gift mit hohem Druck injiziert hätte. Doch er hielt sich weiterhin zurück. Manou zitterte, konnte trotzdem keinen Funken Mitgefühl oder Erbarmen bei dem Jungen erkennen, welchen er so einfach hatte erschießen wollen. So antwortete