Das Mysterium der Wölfe. Anna Brocks
kann. Vorsicht ist besser als Nachsicht, finde ich.“ Da bin ich seiner Meinung. Er scheint nichts dem Zufall zu überlassen. So fühle ich mich zumindest ein wenig sicherer bei ihm. Inwiefern ich ihm vertrauen kann, weiß ich jedoch noch nicht. Eigentlich wirkt er nett. Außerdem hätte er mir schon längst etwas getan, wäre das seine Absicht. Von ihm geht also keine Gefahr aus.
Dennoch stelle ich weitere Fragen: „Du lebst also schon länger hier?“
Nickend stimmt er zu: „Kann man so sagen. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange es her ist, dass ich hier bin. Vielleicht ein Jahr oder zwei.“ Ein sesshafter Wolf, der in einer Stadt lebt. Erneut kommen Erinnerungen hoch.
Trotzdem verstehe ich eines noch nicht ganz: „Warum lebst du genau in dieser Stadt? Es gibt viel schönere Orte auf dieser Welt, glaub mir. Außerdem kann man die Nachbarschaft nicht gerade als freundlich bezeichnen.“ Er schweigt und meidet meinen Blick. Da habe ich wohl einen wunden Punkt erwischt. Dieser Wolf hat eine Geschichte zu erzählen, das sieht man ihm an. Und ich bezweifle, dass es eine gute ist. „Du musst mir nicht antworten, wenn du nicht willst.“
Bedrückt schaut er zu Boden: „Tut mir leid, aber das ist keine Geschichte, die man jedem einfach so erzählt. Schließlich kenne ich dich nicht.“
Das bringt mich gleich zu meiner nächsten Frage: „Und genau das verstehe ich nicht ganz. Du hast keine Ahnung, wer ich bin oder wo ich herkomme. Warum also hast du vorhin dein Leben riskiert, um mir zu helfen?“
Er legt seine Füße auf den kleinen Hocker vor ihm und schlägt die Beine übereinander: „Es gibt ein Sprichwort, das mein Handeln bestens beschreibt. Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“ Das dachte ich mir. Dieser Wolf hegt einen Groll gegen Leader und dessen Rudel. „Und gute Freunde findet man in dieser Gegend eher selten.“
Ich frage weiter: „Lebst du allein hier?“ Er nickt. „Und du kommst mit dem Rudel nicht klar?“
Es folgt ein kurzes Lachen: „Das kann man wohl sagen!“ Leider bringt mich diese Information nicht weiter. Dieser Wolf macht mich neugierig. Hinter seinem Handeln steckt sicher mehr.
Also beschließe ich, die Sache zu verkürzen: „Okay, reden wir Klartext. Du hast dich vorhin selbst in Gefahr gebracht, um eine wildfremde Wölfin zu retten. Ich glaube kaum, dass du das einfach getan hast, um eine gute Tat zu vollbringen. Außerdem bist du im Streit mit dem Rudel, das mich zuvor angegriffen hat. Ich sehe ein Muster hinter all dem, du nicht auch?“ Es liegt doch wohl auf der Hand. Der Feind seines Feindes ist sein Freund und somit auch sein Verbündeter. Er erhofft sich eine Gegenleistung, ganz klar.
Seine Miene ist nun ernst: „Gut, ich hatte zwar gehofft, dass ich das Ganze etwas ausschmücken und netter formulieren kann, aber du hast völlig recht. Bei meiner Rettungsaktion habe ich durchaus nicht nur an dein Wohl gedacht. Ich habe dich kämpfen sehen. Du bist unglaublich.“
Bevor er weitersprechen kann, unterbreche ich ihn: „Du brauchst also meine Hilfe, sehe ich das richtig? Tja, wenn das so ist, will ich aber zuvor deine Geschichte hören. Versteh mich nicht falsch, ich werde diese Feiglinge keinesfalls ungestraft davonkommen lassen, aber dennoch interessieren mich deine Beweggründe. Erst wenn du mir alles gesagt hast, werde ich darüber nachdenken, dir zu helfen.“
Verständnisvoll blickt er mir in die Augen und beginnt anschließend zu erzählen: „Gut, es ist natürlich dein gutes Recht, alles zu erfahren. Wie gesagt, es ist keine Geschichte, die man jedem so einfach erzählt. Sie beginnt vor drei Jahren, als ich noch ein glückliches Mitglied in meinem eigenen Rudel war. Ich lebte weit nördlich in einem Gebiet, in dem es selbst im Sommer oft schneite. Die Kälte machte mir nie etwas aus, da ich dort geboren wurde. Mein Leben war nahezu perfekt, auch wenn ich keine Eltern mehr hatte.“
Ich falle ihm ins Wort: „Wie sind sie gestorben?“
Er zuckt mit den Schultern: „Ein Jagdunfall. Nichts Besonderes eigentlich, aber das ist eine andere Geschichte.“ Ich nicke nur und bin wieder still. „Dennoch war ich nicht allein. Das Rudel war immer für mich da. Außerdem gab es da noch meine kleine Schwester. Sie war noch ein Welpe, als meine Eltern gestorben sind und von da an habe ich geschworen, sie immer zu beschützen. Ich hätte mein Leben für sie gegeben, wenn es denn sein müsste. Eines Tages aber wurde diese Idylle innerhalb kürzester Zeit zerstört. Der Angriff eines anderen Rudels traf uns hart. Wir waren völlig unvorbereitet, immerhin hat uns dieses Gebiet schon seit Jahrhunderten gehört. Leader und seine Schergen haben keine Rücksicht genommen und wollten unsere Heimat um jeden Preis für sich beanspruchen. Zum Glück hatten wir einige gute Kämpfer, mich eingeschlossen. Ich habe mich ins Gefecht gestürzt und gemeinsam konnten wir das feindliche Rudel verjagen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich leider noch nicht, welche Verluste wir erlitten hatten.“
Seinen letzten Gedanken ausführend blicke ich zu Boden: „Ihr habt sie also ziehen lassen, ohne sie zu verfolgen.“
„Genau so war es.“ Er atmet tief durch, bevor er weiterspricht. „Wir konnten nicht ahnen, dass das Rudel so groß war. Während sich die Frauen und Kinder im hinteren Teil des Waldes versteckt hatten, kam ein weiterer Teil von Leaders Anhängern zu ihnen. Als wir glaubten, dass das Gefecht bereits vorbei gewesen sei, hörten wir plötzlich die Kampfgeräusche. Wir ließen keinen von ihnen entkommen, nachdem wir gesehen hatten, wie viele Welpen sie auf dem Gewissen hatten. Meine Schwester hatte tapfer gekämpft, um alle zu schützen und konnte sie lange genug zurückhalten, damit ihnen nicht noch mehr Jungtiere zum Opfer fielen. Leider bezahlte sie dafür mit dem Leben.“ Er spricht nicht mehr weiter. Man braucht ihn nicht zu kennen, um zu sehen, wie sehr ihn das mitnimmt.
Auch ich habe meinen Kopf noch gesenkt: „Das tut mir leid. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, der einem nahesteht. Du darfst aber nicht vergessen, dass deine Schwester einen ehrenvollen Tod gestorben ist, den Tod einer Wölfin.“ Ich selbst weiß nur zu gut, wie wenig diese Worte bringen, aber etwas anderes kann man dazu nicht sagen. Das Wissen, dass sie für eine gute Sache gestorben ist, macht ihren Tod vielleicht ein wenig erträglicher.
Das sieht mein Gegenüber wohl genauso wie ich: „Du glaubst gar nicht, wie sehr es mich mit Stolz erfüllt hat, als mir die übrigen Mitglieder meines Rudels erzählt haben, wie tapfer sie gekämpft hat. Leider blieb immer mein schlechtes Gewissen. Ich hätte für sie da sein sollen, war es aber nicht. Mein Versprechen, sie zu schützen, habe ich nicht eingehalten. Das veranlasste mich dazu, einen neuen Schwur zu leisten.“ Er hebt seinen Kopf und in seinen Augen erkenne ich ein Gefühl, das ich mir durchaus bekannt ist. Hass. Ganz klar, er will Rache.
Ich sehe ihn lange und eindringlich an: „Du willst denjenigen zur Rechenschaft ziehen, der den Angriff angeordnet hat, nicht wahr? Du willst Leader.“
Er ballt seine Hände zu Fäusten: „Genau genommen will ich seinen Kopf. Der Rest ist mir egal. Seit fast drei Jahren bin ich ihm nun schon auf den Fersen, bis er sich schließlich in dieser Stadt niedergelassen hat. Leider hatte ich bisher noch keine Chance, ihn zu erwischen. Er ist extrem vorsichtig und bleibt stets bei seinem Rudel, dieser Feigling.“
Überrascht frage ich nach: „Weiß er etwa, wer du bist und was du vorhast?“ Das würde die Sache verkomplizieren.
Doch der Wolf antwortet mir kopfschüttelnd: „Nein, er hat keine Ahnung. Ich habe im Geheimen agiert. Keiner wusste, dass ich sie verfolge. Die heutige Begegnung mit dem Rudel war die erste direkte Auseinandersetzung seit Jahren.“
Das verstehe ich nun nicht ganz: „Warum ist er dann nie allein unterwegs? Verfolgt ihn noch jemand anderer?“
Er kaut nachdenklich auf seiner Unterlippe: „So viel ich weiß, wird er von mehreren Wölfen gesucht. Ein Kopfgeld ist auf ihn ausgeschrieben, da er immer mehr Wölfe zwingt, sich seinem Rudel anzuschließen, ähnlich wie er es bei dir getan hat. Dabei macht er nur keinen Unterschied, ob die Wölfe allein unterwegs sind oder in einem Rudel leben. Wenn es sein muss, reißt er sie den Eltern aus den Armen.“
Ich bin schockiert: „Das ist schrecklich. Wie kann man nur so machtbesessen und wahnsinnig sein?“ Wo bin ich da nur hineingeraten? Hätte ich das gewusst, wäre ich sofort auf ihn losgegangen. Er hätte keine Chance gehabt.
„Das