BonJour Liebes Leben. Rose Hardt
Gesicht verpasst? Oder war es die Begegnung mit Henning? – Nein, auf gar keinen Fall. Eine Frage die sie sofort wieder verdrängte. Erneut ließ sie ihren Blick durch die prunkvolle Eingangshalle schweifen. Meine Güte, wie groß der Eingangsbereich war, alles, das ganze Drumherum war seit Gustavs Tod eigentlich viel zu groß für sie und die achtzigjährige kranke Frida. Mein Gott, die arme Frida! Was wird nur aus ihr? Wenn sie Gustavs Letztem Willen nachgekommen wäre, so wäre Frida schon längst in einem Pflegeheim – nein, korrigierte sie sich, es war eine Seniorenresidenz mit integriertem Pflegeheim – darauf hatte ihr Sohn besonders großen Wert gelegt. Für seine Mutter nur das Beste! Wie auch immer, sie brachte es einfach nicht übers Herz Frida abzuschieben wie einen unbequemen Gegenstand – schließlich hatte sie ihr viel zu verdanken.
Mitten in ihre Gedankengänge drang unvermittelt Fridas Stimme.
„Ich hab dich gesehen!“, rief sie in singendem Ton. Im nächsten Moment stand Frida neben Charlotte, tippte ihr mit dem Zeigefinger mehrmals auf den Oberarm und sagte: „Ich hab’s genau gesehen!“, danach sah sie sich verstohlen um, legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und flüsterte: „Pssst ich kann schweigen wie ein Grab“, dann trippelte sie zur Terrasse.
Obwohl Charlotte genau wusste, dass Frida seit Wochen schon nicht mehr unbeaufsichtigt aus dem Haus gehen konnte, sie vielmehr nur noch in ihrer eigenen Welt unterwegs war, machte ihr diese Aussage ein schlechtes Gewissen. Im nächsten Moment zog vor ihrem geistigen Auge das Bild von Henning und ihr vorüber – sie beide, vor Gustavs Grab. Stopp! Warum macht dir das ein schlechtes Gewissen? Die Antwort hatte sie gleich parat: Weil die Begegnung mit Henning sie wieder an die Liebe, an das Leben erinnerte.
Ein gellender Aufschrei von Frida entriss sie jäh ihren Gedanken. Charlotte lief dem Schrei entgegen.
„Sieh doch! … So sieh doch!“, empörte sich Frida, „sieh nur!“ Aufgebracht zerrte sie an Charlottes Arm, „so sieh doch, was dieser Kerl getan hat!“ Ihre Stimme und ihre Lippen bebten vor Aufregung und schon im nächsten Augenblick packte sie Charlotte bei der Hand und zog sie über die Terrasse in den Garten.
„Sieh nur … sieh!“ Frida ließ ihre Hand los, trippelte in kleinen Schritten – wie sie es in letzter Zeit öfters tat – zum Buchsbaum, blieb erstaunt stehen und sagte enttäuscht: „Sieh nur, was der Kerl im grünen Anzug getan hat!“ Im nächsten Augenblick schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte. Nein, es war kein Weinen, sondern vielmehr ein Wimmern.
Charlotte ging zu ihr, legte tröstend den Arm um ihre Schulter und fragte: „Aber was, was um alles in der Welt hat WER denn getan?“ Sie verstand Fridas Empörung nicht.
Entsetzt sah Frida sie an, dann verwies sie mit ausgestrecktem Arm auf den Buchsbaum. „Er, der Mann, hat ihm den Kopf abgeschnitten! Sieh doch!“ In kleinen Schritten umrundete sie das Bäumchen, blieb stehen und sagte enttäuscht: „Sieh nur … auch diese Dings, diese Dinger …“, das fehlende Wort ergänzte sie, indem sie ihre Arme anwinkelte und wie ein Vogel flatterte, „… auch sie sind weg! Er war doch immer ein Piepmatz.“ Unvermittelt erhob sie ihre Stimme und rief flehend: „Er, dieser Kerl im grünen Anzug – mit dem Kerl meinte sie den Gärtner, der wöchentlich kam – darf nicht mehr kommen, hörst du?“ Dann kullerten Tränen über ihre Wangen.
Jetzt erst verstand Charlotte was Frida ihr mitteilen wollte, ihr wäre es womöglich noch nicht einmal aufgefallen, da sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Behutsam nahm sie Frida in ihre Arme, wiegte sie und sagte: „Wir machen einen neuen Vogel aus ihm, das verspreche ich dir.“
Nach einer Weile löste Frida sich aus ihren Armen, sah sie befremdlich an, blickte zum Himmel und sagte sachlich: „Es wird dunkel. Gute Nacht“, dann ging sie in normalen Schritten und ganz ohne zu trippeln ins Haus zurück.
Mein Gott! Fridas Demenz wurde von Tag zu Tag schlimmer, und es war beängstigend wie heimtückisch diese Krankheit ihren Geist zerstörte. Charlotte hörte wie Lilo, die gute Seele des Hauses, Frida in Empfang nahm und mit ihr in ihr Schlafgemach ging.
Gustav hatte Lilo, kurz nachdem er von der Krankheit seiner Mutter erfahren hatte, für ihre Betreuung eingestellt – worüber Charlotte ihm mehr als dankbar war.
Ja, im Planen und Organisieren war Gustav unschlagbar. Kurz dachte sie darüber nach, ob seinem Augenmerk je etwas entgangen war – nein, nichts, stellte sie fest. Sein Leben war bis ins kleinste Detail durchstrukturiert, auch die Menschen um ihn herum hatten ihre festen Plätze und hatten sich an seine Regeln zu halten. Wer das tat, wurde auf großzügige Weise belohnt, doch wenn jemand seine Regeln zu boykottieren versuchte, so konnte das mitunter sehr unangenehme Folgen haben. Charlotte hatte das sehr schnell begriffen, als Gegenleistung war es ihr vergönnt, ein Leben in Luxus führen. Ein Leben in Luxus! Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Grundgütiger, nie hattest du ein eigenes Leben! Vor Jahren hast du es aus Bequemlichkeit – gegen all das hier, den Luxus – eingetauscht. Und während ihr Blick über die Rückseite der alten Villa Grafenberg schweifte, resümierte sie ihr Leben.
Weiß Gott, es gab Momente, da besaß das Vergangene eine so ungeheure Kraft, dass man glaubt, das Gegenwärtige habe keine Berechtigung und das Zukünftige keine Chance mehr.
In Fridas Zimmer wurde das große Licht gelöscht, lediglich die kleine Nachttischleuchte warf ein dämmriges Licht in den Raum. Gleich wird sie – so wie jeden Abend vor dem Einschlafen – den alten Plattenspieler betätigen und Musik hören. Und da perlten auch schon leise Klänge durch das halboffene Fenster. Vor ihrer Krankheit hatte sie die Musik ihrer Stimmungslage angepasst, doch in letzter Zeit hörte sie nur noch Chopins Regentropfen-Prélude. Vieles hatte Frida zwar vergessen, nur die Musik nicht, sie gehörte nun zu ihrem Leben wie die Sonne zum Tag. „Ach, die gute Frida“, seufzte Charlotte.
In all den Jahren war sie nicht nur mütterliche Freundin, sondern auch eine verlässliche Schwiegermutter, die, wenn sie mal wieder von Gustavs unsäglichen Affären erfahren hatte, es durchaus verstand, ihm ordentlich den Kopf zu waschen, danach hatte sie keine Mühen gescheut den Postillon d’Amour zu spielen. Warum sie diesen liederlichen Draufgänger nicht verlassen hatte, war ganz einfach zu erklären: Sie wiegte sich wohlbehütet und in sicherer Existenz.
Ja, und daran gab es nichts mehr zu beschönigen – sie hatte ihr Leben vertan! Eine Erkenntnis die sie traurig stimmte.
Die Musik verstummte, das Dämmerlicht wurde ausgeschaltet. Sie sah zu Fridas Schlafzimmerfenster und flüsterte: „Gute Nacht, Frida.“ Vielleicht sollte sie Gustavs Letzten Willen doch beherzigen. Aber könnte sie das wirklich? Könnte sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren? Jedenfalls erschauderte sie bei dem Gedanken.
„H a l l o … Frau Grafenberg … h a l l o“, unterbrach Lilo mit lauter Stimme Charlottes Zweifel, „ich geh dann mal. Ihre Frau Schwiegermama ist versorgt, ihre Pillen hat sie genommen, wenn auch nur widerwillig. Ich denke aber, dass sie gleich schlafen wird. Also bis morgen!“ Auf der Türschwelle blieb Lilo nochmals stehen, machte auf dem Absatz kehrt, fasste sich an den Kopf und sagte: „Entschuldigung, aber ich habe ganz vergessen Ihnen zu sagen, dass Ihr Schwager, Herr Grafenberg, hier war, er wollte … was wollte er noch gleich?“, nachdenklich zog Lilo die Augenbrauen zusammen, „ah ja, dass er noch etwas mit Ihnen klären müsse … Papierkram wohl. Jedenfalls soll ich Ihnen ausrichten, dass er morgen früh vorbeikommen wird. Gute Nacht, Frau Grafenberg.“
„Danke, Lilo … und gute Nacht!“ Mit einem tiefen Seufzer sah Charlotte zum Himmel. Im Westen säumte noch ein letzter roter Streifen den Horizont, wohingegen im Osten der Mond die Nacht begrüßte. Alles um sie herum war still. Es schien, als würde die Welt vor Anbruch der Dunkelheit sich noch eine letzte Atempause gönnen. Eigentlich hätte sie jetzt weinen wollen, die Situation, ihre Stimmung, alles war wie geschaffen vor Selbstmitleid zu zerfließen. Aber was würde es nützen, dachte sie. Außerdem war es nie ihre Art gewesen, warum also jetzt damit anfangen.
Während sie zurück zum Haus schlenderte, sinnierte sie weiter über ihr Leben, und ganz ohne ihr Wollen landete sie wieder bei Henning. „Henning“ kam es flüsternd über ihre Lippen. Damals wie heute hatte er es fertiggebracht sie, sowohl mit Worten, als auch