Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix


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griff nach seiner Brusttasche, um mit Gilbert im Spiegel zu sprechen, doch da war keine Tasche mehr. Sie war ihm wahrscheinlich bei seinem Sturz weggerissen worden. Und mit ihr der Spiegel. Und mit dem Spiegel Gilbert.

      Antilius war allein.

      Antilius suchte nach einem Knauf oder einer Klinke an der Innenseite der Tür, die sich wie von Geisterhand genau im richtigen Moment geöffnet und ihm somit das Leben gerettet hatte. Er suchte jedoch vergeblich. Er probierte, die Tür irgendwie aufzuziehen, fand aber keinen Halt. Anschließend drückte und schob er, so stark er konnte. Die Tür bewegte sich aber keinen Zentimeter. Er streckte seine Hand noch mal nach der Türkante im Spalt zum Rahmen aus, umklammerte sie so fest er konnte und zerrte, bis er mit seinen Fingern abrutschte und rückwärts stolperte. Sein Hinterteil knallte auf den nasskalten Steinboden und seine Rückenwirbel stauchten sich. Er stöhnte auf vor Schmerz.

      Er war eingesperrt. Warum? War er jetzt gefangen oder wurde er beschützt, weil die Piktins immer noch draußen auf ihn warteten? Was war das für ein merkwürdiger Ort?

      Antilius bemühte sich, ruhig zu bleiben. Aufgekratzt suchte er noch mal in seinen Taschen, in der Hoffnung, den Spiegel in der Hektik woanders eingesteckt zu haben, aber Gilbert blieb verschwunden. Er musste ihn irgendwo draußen im Wald verloren haben, als er von den Raubtieren gejagt wurde.

      Er seufzte und rieb sich seinen schmerzenden Knöchel.

      Dann schaute er sich um. Es gab keine Fenster. Nur nackten Stein. Die außergewöhnlich hohe Luftfeuchtigkeit und die erhöhte Temperatur, die in diesem gewaltigen zylindrischen Hohlkörper herrschten, erschwerten ihm das Atmen. Das grüne Leuchten der Wände machte ihn nervös.

      Erneut versuchte er, sich zu beruhigen, indem er mehrmals tief ein und ausatmete, was in seiner Situation eher das Gegenteil bewirkte. Eigentlich müsste es hier drin stockfinster sein. Woher dieses diffuse Licht an den Wänden kam, war nicht auszumachen. Sein Blick fiel nach oben. Eine Wendeltreppe aus Stein, die an der Wand entlang führte, gaffte ihn an. Er hatte sie vorher gar nicht bemerkt, weil sie und die Außenwand eine Einheit bildeten. Die Treppe endete irgendwo ganz oben.

      Hier unten gab es anscheinend nichts, was er tun konnte, um sich zu befreien. Mit einem mulmigen Gefühl wurde ihm klar, dass er die Treppe nach oben steigen musste, um herauszufinden, was sich dort verbarg.

      Er nahm die erste mit einem dünnen Wasserfilm bedeckte Stufe, und kaum hatte er seinen Fuß daraufgesetzt, ertönte plötzlich ein heller Widerhall. Nicht von seinem Fuß verursacht. Es war nicht sonderlich laut, und es kam auch nicht von oben, wie Antilius zuerst vermutete. Das Geräusch ähnelte dem Klingen von kleinen Glocken, und es spielte eine kurze Melodie, die sich rasch in seinen Kopf einprägte, aber nicht beängstigend oder gar störend wirkte. Antilius wartete eine Weile, um zu hören, ob sich die Melodie vielleicht veränderte. Aber das tat sie nicht. Dann stieg er leicht hinkend die Treppe weiter nach oben. Es ging immer weiter spiralförmig hinauf, wobei die Wendeltreppe nach oben hin spitz zulief. Wer oder was dort oben auch immer sein mochte, es hatte jedenfalls nicht viel Platz, dachte sich Antilius.

      Mit gleichbleibendem Tempo stieg er immer weiter die Treppe empor. Das Glöckchenspiel begleitete ihn dabei fortwährend. Einmal wäre er wegen der aalglatten Nässe fast ausgerutscht und nach unten gestürzt.

      Schwer atmend erreichte er das Ende mit zunehmender Kraftlosigkeit. Der Steinturm, in dem er eingesperrt war, war wirklich riesig groß. Antilius stieg durch eine Öffnung im Boden eines kleinen viereckigen Raumes. Er war mindestens neun Meter hoch und hatte ein flaches Dach. In der Mitte dieses Raumes trugen vier Säulen die steinerne Bedachung. In den Kapitellen der Säulen ragten je zwei Figuren heraus. Sie stellten Männer- und Frauengesichter dar, die sich schützend ihre Hände vor die Augen hielten, so als ob sie von etwas geblendet wurden.

      In der Mitte der vier Säulen war ein kleiner Sockel. So plötzlich wie das Glockenspiel begonnen hatte, als Antilius die Treppe hinaufstiegen war, so plötzlich endete es, als er im Säulenraum stand.

      Er wartete ab. Nichts geschah. Sein Blick fiel erneut auf den kleinen Sockel. Er war sich zwar nicht sicher, aber er hatte eine Ahnung. So lief er in das Zentrum des Raumes und stellte sich auf den Sockel. Kurz darauf erschien direkt über ihm ein violett leuchtender Punkt. Ganz unscheinbar und geräuschlos. Zunächst veränderte er sich nicht, doch dann wurde er schnell größer, und seine Leuchtkraft nahm stetig zu. Schon bald konnte Antilius nicht mehr den Punkt ansehen. Die Blendung war zu stark. Er bekam es mit der Angst zu tun und wollte sich in Sicherheit bringen, doch bevor er zur Flucht ansetzten konnte, explodierte die Leuchtkugel geräuschlos. Ohne den leisesten Ton zerstreute sie sich in Hunderte von kleinen violettfarbenen Sphären, die im Raum schwebten. Antilius konnte bei diesen vielen Lichtpunkten nicht mehr den Ausgang erkennen.

      Er drehte sich mehrmals und verlor dann völlig die Orientierung.

      »Was soll das?«, rief er.

      »Was suchst du?«, fragte eine Stimme. Die verzerrte Stimme, von der Antilius nicht sagen konnte, ob sie die eines Mannes oder die einer Frau war, hallte laut durch den Raum.

      »Sprich! Wer bist du? Was suchst du?«

      Das kam ihm nur allzu bekannt vor. Er erinnerte sich wieder an seinen ersten Traum.

      »Ich will erst wissen, mit wem ich es zu tun habe«, erwiderte er.

      »Wir sind die Späher. Du bist der Suchende.«

      »Späher? Was erspäht ihr?«

      Darauf bekam er keine Antwort. Vermutlich stellte er die falsche Frage. »Wer seid ihr? Was macht ihr hier?«

      Keine Antwort. Also versuchte er es anders: »Was ist eure Aufgabe?«

      »Was ist eine Aufgabe?«, fragte die Stimme zurück.

      »Was ist der Zweck eures Seins?«, fragte Antilius unsicher. Er bemerkte erst jetzt, dass er es geschafft hatte, die anfängliche Rollenverteilung umzudrehen. Er stellte jetzt die Fragen.

      »Sein? Wir wachen über die Zeit, wir verstehen ihre Sprache.«

      »Die Zeit? Warum?«

      »Weil wir ein Teil von ihr sind, aber nicht immer waren.«

      Antilius’ Augen gewöhnten sich allmählich an die Helligkeit der vielen im Raum umhertreibenden Lichtpunkte.

      »Zufälligerweise suche ich etwas, das mit der Zeit zu tun hat.«

      Zufällig?, fragte er sich, gleich nachdem er diese Frage gestellt hatte.

      »Ich suche jemanden, der durch die Zeit gereist ist. Er heißt Brelius Vandanten.«

      »Wir wissen, wen du meinst. Er hat versucht, die Zeit zu stören. Das haben wir ihm nicht erlaubt. Wir dulden keine Eingriffe in die Zeit«, sagte die Stimme prompt.

      »Ihr wisst also von ihm. Was bedeutet das? Wo ist er?«

      Die hellen Lichtpunkte pulsierten kontinuierlich weiter.

      »Er ist nicht mehr in der Zeit.«

      »Das verstehe ich nicht. Was habt ihr mit ihm gemacht? Lebt er noch?«

      »Er ist vor uns geflohen. Er hat sich in den verschiedenen Zeiten und Realitäten jenseits des Zeittores vor uns versteckt. Wir konnten ihn nicht finden und haben seine Spur verloren. Jetzt ist er fort.«

      »Fort? Heißt das, er ist tot?«

      »Nein, aber er lebt nicht mehr in der Zeit.«

      Antilius kratzte sich am Kopf. Er verstand einfach nicht, was die Stimme mit ihren hallenden Worten versuchte, ihm zu erklären. Er betrachtete fasziniert die vielen leuchtenden Punkte, die ihn umringten. Er war sich sicher, dass jeder von ihnen eine Art Auge oder gar ein einzelner Späher sein musste.

      »Er hat die Zeit gestört, sagtet ihr. Was bedeutet das?«

      »Er benutzte das verbotene Tor. Das Tor war nicht für ihn bestimmt.«

      »Wisst


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