Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
Späher der Zeit.«
»Zeit«, grummelte Antilius verächtlich.
»Hast du etwa mit ihnen gesprochen?«, Gilbert schaute seinen Meister völlig perplex an.
»Oh, ja! Allerdings verstehe ich unter einer vernünftigen Unterhaltung etwas anderes. Diese Wesen behaupteten, dass Brelius an einem Ort sei, an dem es keine Zeit gibt oder so ähnlich. Sie wissen jedoch nicht genau, wo er ist. Angeblich versteckt er sich außerhalb der Zeit. Er ist wohl doch noch einmal durch das Zeittor gegangen. Vielleicht wollte er in die Vergangenheit reisen, um sich selbst daran zu hindern, den Schlüsselstein zu benutzen. Und wenn es stimmt, was die Späher gesagt haben, dann ist dieser Plan wohl gründlich schiefgelaufen, denn er ist nicht mehr zurückgekommen.«
»Ein Ort außerhalb der Zeit? Verlorenend!«, sprach Gilbert ehrfurchtsvoll. Antilius schaute ihn fragend an.
»Verlorenend. Kennst du diesen Namen denn nicht? Hier auf Truchten kennt ihn fast jedes Kind.«
Antilius schüttelte den Kopf.
»Als ich noch ein kleiner Junge war − oh wie lange ist das schon her – hat mir meine Mutter nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte, weil ein Gewitter wütete und der Regen lautstark auf das Dach unseres Heimes prasselte, ein Lied vorgesungen. Es handelt von dem König Tarador. Er war ein guter König, der von seinen Untertanen respektiert und geliebt wurde. Er hatte eine Tochter, Parima. Sie starb eines Tages, als ihre Kutsche, die sie zu Taradors Geburtstagsfeier bringen sollte, an einem Pass in die Tiefe stürzte. Ein Rad am Wagen brach, obwohl es erst gerade neu eingebaut worden war.
Der König kam nie über ihren Tod hinweg und war so verzweifelt, dass er beschloss, Kontakt mit den bösen Geistern des Landes aufzunehmen. Er bat sie um Hilfe. Er wollte, dass sie den ungerechten Tod seiner Tochter wieder rückgängig machten. Er war bereit, jeden Preis dafür zu zahlen, sogar sein eigenes Leben.
Doch die bösen Geister wollten etwas ganz anderes. Der Preis, den sie verlangten, war seine Gutmütigkeit, sein Mitgefühl und seine Menschlichkeit. Tarador willigte ein.
Seine Tochter erwachte wieder zum Leben, so als sei nie etwas geschehen. Und der König verlor alles, wofür seine Untertanen ihn geachtet hatten. Er begann, die Todesstrafe wieder einzuführen, führte einen Krieg gegen das Nachbarreich und war nicht mehr in der Lage, Gefühle wie Freude, Zufriedenheit und Liebe zu empfinden.
So geschah es dann, dass die guten Geister erschienen, um Tarador zur Strafe für seinen Pakt mit den bösen Geistern nach Verlorenend zu verbannen. Ein Ort, an dem Zeit keine Bedeutung hat und aus dem es kein Entkommen gab.
Niemals hat jemand danach wieder versucht, Kontakt mit den bösen Geistern aufzunehmen, und so gerieten sie in Vergessenheit, und niemand wurde wieder nach Verlorenend vertrieben.«
Antilius benötigte einen Augenblick, um dieses Märchen in Verbindung zu den aktuellen Ereignissen zu bringen.
»Die Botschaft dieses Liedes ist jedenfalls klar«, begann er. »Glaubst du, dass Brelius jetzt an diesem Ort ist? Diesem Verlorenend?«
Gilbert zuckte nur mit den Achseln.
»Ich bin jedenfalls noch keinen guten Geistern begegnet«, sagte Antilius.
Gilbert lief in seinem kleinen Zimmer einmal auf und ab und kratzte sich dabei an seinem Kinn.
»Und was ist mit den bösen Geistern? Bist du denen schon begegnet?«, fragte er, und seine Stimme hallte in Antilius’ Ohren wider.
Böse Geister? Koros, der ihn die Klippe hinunterstürzte? In seinen Träumen war er ein Geist, aber im realen Leben gab es ihn wirklich.
»Ich denke schon«, sagte Antilius.
Bis jetzt hatte er Gilbert noch nichts von seinem zweiten Traum erzählt. Er entschied sich, ihm nun doch davon zu erzählen. Er berichtete ihm von seinem Traum, in dem Koros ihm ein leeres Buch in die Hand gegeben hatte.
Gilbert schien zu verstehen, dass Antilius’ Schicksal offenbar unmittelbar mit dem von Koros verbunden war.
Er überlegte lange.
»Das ist ziemlich unheimlich. Koros weiß offenbar, dass du ihm gefährlich werden kannst. Es muss irgendetwas mit dem zu tun haben, an das du dich nicht mehr erinnern kannst.
Wie dem auch sei. Ich werde dir immer zur Seite stehen«, sagte Gilbert, weil ihm nichts Besseres einfiel. Aber es war genau das Richtige.
Antilius lächelte erschöpft.
»Danke. Zusammen werden wir das schon schaffen«, sagte Antilius, ohne davon im Geringsten überzeugt zu sein.
»Ja«, sagte Gilbert nachdenklich.
Einer fehlt
Antilius ging danach wieder an die Stelle zurück, an der er sich von Pais getrennt hatte und hielt dort nach ihm Ausschau.
»Pais! Haif!« Den kleinen Sortaner hatte er bis zu dieser Minute völlig vergessen.
Sein Ruf wurde jedoch nicht beantwortet.
»Gilbert, hast du gesehen, wo Pais genau hingelaufen ist?«
»Ich glaube dort entlang.«
Antilius folgte Gilberts Richtungsanzeige. Nach einer Weile fand er Pais in einer recht merkwürdigen Situation, die dem alten Mann aber das Leben gerettet hatte.
»Pais, wie ist das passiert?«
Pais Ismendahl schnaufte wütend. »Das erzähle ich dir, wenn du mich hier runterlässt.«
Antilius und Gilbert mussten sich ein Lachen verkneifen. So wie es aussah, hatte Pais, der auch von einem Piktin durch den Wald gehetzt worden war, Glück im Unglück gehabt. Bei seiner Flucht war dieser nämlich versehentlich in die Schlinge einer Baumfalle getreten, die sich prompt zugezogen hatte und ihn nun seit einer geraumen Zeit vier Meter über dem Boden kopfüber an einem Baum baumeln ließ.
»Wie soll ich dich runterlassen, ohne dir wehzutun?«
»O, bitte, lass dir irgendetwas einfallen! Wenn es sein muss, schneide dieses verflixte Seil durch, nur hol mich endlich hier runter! Ich halte das keine Minute mehr aus. Mein Kopf explodiert gleich.«
Antilius legte den Spiegel beiseite und untersuchte den Mechanismus, dem Pais zum Opfer gefallen war. Auf der anderen Seite des Baumes war ein abgesägter Holzstamm auf dem Boden, an dem das Seil festgebunden war. Er musste sich eingestehen, dass er es wohl nicht schaffen würde, ihn vorsichtig wieder herabzulassen, indem er das Seil einfach durchschnitt und festhielt, weil Pais einfach viel schwerer war als er selbst. Trotzdem musste er es versuchen.
»Ich probiere, dich langsam herunterzulassen«, sagte er.
Antilius schnitt das Seil mit der einen Hand durch, und mit der anderen umklammerte er das andere Ende des Seils. Als er es durchtrennt hatte, glitt Pais auf den Waldboden zu, wobei Antilius in die Höhe gezogen wurde. Doch das hielt der eher schlanke Ast, um den das Seil geschlungen war, nicht aus. Schließlich war die Falle nicht für zwei ausgewachsene Menschen aufgestellt worden. Der Zweig brach. Pais klatschte auf den Boden, genauso wie sein Retter, der panisch das Seil losgelassen hatte, als er merkte, dass er in die Höhe gezogen wurde. Pais hatte vor dem Aufprall eine halbe Drehung gemacht und landete auf dem Rücken. Antilius schlug mit dem lädierten Fuß auf dem Boden auf.
»Wenn das so weiter geht, werde ich mir noch alle Gliedmaßen brechen«, klagte Pais und fasste sich ans Steißbein.
Jetzt meldete sich der rechte Fußknöchel von Antilius, den er sich in der Nacht gestaucht hatte. Ein lähmender, alles erstickender Schmerz bohrte sich wie in Zeitlupe von seinem Knöchel bis in seine Stirn und ließ ihn eine Gänsehaut bekommen.
Antilius schrie auf vor Schmerz.
Wie Fische auf dem Trockenen, die langsam und qualvoll erstickten, wanden sich die beiden Gestürzten auf dem Boden vor Schmerzen.
Gilbert lachte dieses Mal nicht. Den Anblick, den