Mythos, Pathos und Ethos. Thomas Häring
recht Lust. Das bedeutete, daß sich CDU/CSU und SPD alsbald wieder zusammensetzen würden, um über Inhalte zu sprechen und sich einander anzunähern. Zwar hatte man sich im Wahlkampf noch lautstark gegenseitig beschimpft, aber das gehörte nun mal zur Show dazu. Schließlich handelte es sich bei den Beteiligten ja um Profis, die schon wußten, welche Beleidigungen sie ernst nehmen mußten und wenn nicht, dann hatte man halt ein zwischenmenschliches Problem, es gab wahrlich wichtigere sowie schlimmere Dinge im Leben.
Zum Beispiel den Frauenaufstand in der Fraktion von "Die Linke". Dort hatten sich die älteren und jüngeren Herren gegenseitig die Posten zugeschanzt und hätten die holde Weiblichkeit am liebsten außen vor gelassen. Daß Afroträne und Fysi als Fraktionsvorsitzende gesetzt waren, war von Anfang an klar gewesen, doch auch der Platz des Bundestagsvizepräsidenten und der des Parlamentarischen Geschäftsführers sollte an die Schwanzträger gehen und das war aus der Sicht vieler Frauen in der Fraktion eine pimmelschreiende Ungerechtigkeit. Für die Drecksarbeit waren sie scheinbar gut genug, so wie die beiden Trümmerfrauen Pfau und Mötzsch, welche die Fahne der PDS in den vorangegangenen drei Jahren hochgehalten hatten, nachdem jene den Einzug in den Bundestag seinerzeit verpaßt gehabt hatte. Das Problem bestand in allererster Linie darin, daß es in der Fraktion nur so vor Alphatieren wimmelte, von denen jedes eine gewisse Vorzugsbehandlung erwartete. Die creme de la creme der deutschen Linken war ins Parlament eingezogen und wollte dementsprechend gewürdigt werden. Alles nicht so einfach, vor allem da es in einer Oppositionsfraktion nicht allzu viele tolle Posten zu verteilen gab. Da war guter Rat ganz schön teuer.
Schön an der neuen Partei war nicht nur, daß ehemalige inoffizielle Mitarbeiter der Stasi endlich mal wieder einen gut dotierten neuen Arbeitsplatz gefunden hatten, sondern auch, daß es erstmals in der bundesdeutschen Geschichte eine tatsächliche Langzeitarbeitslose in den Bundestag geschafft hatte. Es gab sie also doch noch, die kleinen Wunder und schönen Märchen der Demokratie.
Anderswo herrschte eher die Empörung. Raul Kirchdorf zum Beispiel erregte sich über den dreisten Bernhard Schräder, seinen politischen Erzfeind, welcher nicht von seinem Amt lassen wollte und letzten Endes mit verhindert hatte, daß der Professor aus Heidelberg höchstselbst als Finanzminister reüssieren hatte können. In der SPD hatten sich die Begeisterungsstürme mittlerweile etwas gelegt, der Rausch war einer gewissen Nüchternheit gewichen und schön langsam machte sich unter den Genossen doch die Erkenntnis breit, daß man als schwächere der beiden großen Parteien nun vielleicht doch nicht den Kanzler stellen würde können. Das politische Berlin als solches hatte sich inzwischen langsam beruhigt, hin und wieder meldeten sich noch ein paar schlaue Köpfe zu Wort, doch insgeheim hatte sich die Republik bereits mit der bevorstehenden Großen Koalition abgefunden, welche sie ja im Grunde auch herbei gewählt hatte, von daher war alles prima.
26.09.2005: Doch wer geglaubt hatte, die SPD würde das Schlachtfeld kampflos verlassen, sah sich wenig später ein weiteres Mal getäuscht, denn plötzlich kursierte ein neuer Vorschlag der Sozialdemokraten. Schräder und Gerkel sollten sich das Kanzleramt teilen; erst würde Schräder noch 18 Monate lang regieren, danach könnte Gerkel dann für den Rest der Legislaturperiode übernehmen, lautete die vergiftete Botschaft. Man merkte, daß die Sozen spürten, daß ihnen der Wind immer schärfer ins Gesicht blies, weshalb sie von ihrer ehemaligen Maximalforderung schon ein gutes Stück abgerückt waren. Eine besondere Ironie enthielt die Idee ohnehin: Hätte Schräder nicht höchstpersönlich Neuwahlen ausgerufen, dann wäre er ja bis September 2006 ohnehin deutscher Bundeskanzler geblieben, von daher wollte man im Grunde nur noch sechs Monate zusätzlich zu der Zeit, die er sowieso hätte haben können. Ja, irgendwie waren die Auflösungserscheinungen schon deutlich sichtbar geworden und da die Granden in der Union wußten, daß es sich bei der ganzen Sache um einen vielleicht letzten verzweifelten Versuch der SPD handelte, vom Kanzlerkuchen womöglich doch noch ein Stück abzubekommen, lehnte man sogleich dankend ab und verwies jene "Hirngespinste" schnell wieder dorthin, wo sie hergekommen waren.
Klar, als relativ neutraler und objektiver Beobachter konnte man durchaus nachvollziehen, daß die SPD nach sieben Jahren mit einem Bundeskanzler aus den eigenen Reihen nicht so einfach und schnell darauf verzichten konnte und wollte, aber irgendwie merkte man immer mehr, daß es sich dabei mittlerweile lediglich um ein taktisches Spielchen handelte, mit dessen Hilfe man bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen so viel wie möglich für die SPD herausholen wollte. Das hatte den unerwünschten Nebeneffekt zur Folge, daß sich die gesamte Union mit Andrea Gerkel solidarisierte, was ihre Kanzlerschaft umso wahrscheinlicher machte, denn die Kronprinzen mußten nun hinter ihr stehen und sie unterstützen, ganz gleich ob denen das in den Kram paßte oder nicht.
Ende September 2005: Es wäre mal wieder an der Zeit, einen Blick nach Bayern zu werfen. Inzwischen hatte sich in der CSU die Meinung durch- sowie festgesetzt, daß im Falle einer Großen Koalition Egmont Sträuber als Minister in ein Kabinett Gerkel eintreten sollte und würde. Damit waren alle Beteiligten einverstanden, so daß es fortan noch intensiver um die Frage ging, wer dem lieben Egi denn in Bayern als Ministerpräsident nachfolgen werde. Das Duell zwischen Zuber und Blackschein schien der Franke für sich entschieden zu haben, da er sowohl in der CSU-Fraktion als auch in der bayerischen Bevölkerung wesentlich besser ankam als der Reformator Zuber, der einfach nur Sträubers Befehle befolgt und sich damit den Unmut der Abgeordneten sowie der Massen zugezogen hatte. Ja, manchmal war es eben doch nicht so klug, wenn man sich zu nah an den Regenten hielt, denn sobald der weg war, stand man plötzlich fast ganz alleine da. Interessant bei der ganzen Geschichte war außerdem, daß sowohl der damalige Innenminister Sträuber als auch der aktuelle Blackschein es geschafft hatten, innerhalb der CSU-Fraktion integrierend zu wirken und sich beliebt zu machen, obwohl sie nach außen hin den "harten Hund", den "Law und Order-Politiker" gegeben hatten. Durchaus bemerkenswert, man brauchte also scheinbar doch irgendwie zwei Gesichter im politischen Leben.
Wenn man sich nicht einigen kann, dann ist es meistens am klügsten, daß man den Streitpunkt zunächst ausklammert und sich erst mit den Feldern beschäftigt, auf denen eine gemeinsame Lösung eher zu finden ist. So handhabten es auch die Union und die SPD, weshalb man bei den Sondierungsgesprächen gut vorankam und sich eine Große Koalition immer deutlicher am politischen Horizont abzeichnete. Hinzu kamen die Signale von der SPD-Spitze, die keinen Zweifel daran ließen, daß es letzten Endes um die Partei und nicht um Bernhard Schräder gehen würde, was der Betroffene so selbst auch bereits verlauten hatte lassen. Fest stand also, daß sich die Genossen in der letzten Konsequenz nicht quer stellen und entgegen aller anders lautenden Verlautbarungen Andrea Gerkel doch zur Bundeskanzlerin wählen würden, wenn es denn unbedingt sein mußte.
Derweil freute sich Egmont Sträuber schon auf die Zusammenarbeit mit Dan Mützewirsing im neuen Bundeskabinett, denn er hatte bereits ein Jahr zuvor in der Föderalismus-Kommission, in der sie Beide hervorragend zusammengearbeitet hatten, gute Erfahrungen mit dem Sauerländer gemacht gehabt. Gerkel und Schräder hatten jene Arbeit so gut es gegangen war ignoriert, wahrscheinlich hatte es ihnen auch irgendwie nicht in den Kram gepaßt gehabt, daß sich der SPD- und der CSU-Chef persönlich so gut verstanden hatten.
Fernab von all diesen Personalien sprach Friedbert Nerz von der CDU mit Lothar Schilli von der SPD bei einem gemeinsamen Frühstück im Café Einstein über die wirklich wichtigen Dinge, welche die Welt da draußen viel mehr bewegten.
"Mmh, das Croissant schmeckt aber wirklich lecker. Sie haben es gut, Herr Schilli, Ihre Rente ist wenigstens sicher", fand Nerz. "Da wäre ich mir nicht so sicher, jetzt kommt bestimmt bald die Rente mit 67", wandte jener ein. "Und wenn schon, Sie wird das alles nicht mehr betreffen. So Jungspunde wie ich haben es da schon schwerer." "Ach was, mein lieber Friedbert, Ihr von der Union findet doch immer einen Job in der Wirtschaft." "Ich glaube, Sie verwechseln uns da mit der FDP." "Eben gerade nicht. Die FDP-Politiker würden bloß jede Menge Unruhe in die Firmen bringen, die würden gegen die Gewerkschaften kämpfen und sich damit bei der Belegschaft unbeliebt machen. Ihr dagegen polarisiert nicht so und seid bei den Managern hoch angesehen." "Mal abwarten, ob das auch so bleibt. Die Gerkel wird in der Großen Koalition bestimmt keine einzige der Reformen beginnen, die sie damals in Leipzig versprochen hat." "Davon ist auszugehen, die will schließlich in vier Jahren wiedergewählt werden." "Aber Deutschland braucht unbedingt Reformen. Das, was der Schräder da fabriziert hat, das war ja ganz nett und natürlich besser als nichts, doch das darf