Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella

Die Brücken zur Freiheit - 1864 - Christine M. Brella


Скачать книгу
Tat sich da unten was? Meine Finger tasteten nach den bereitgelegten Kieseln. Mit einem Handgriff, den ich so lange geübt hatte, bis er mir in Fleisch und Blut übergegangen war, lud ich meine Steinschleuder. Vor Jahren hatte ich mir zusammen mit meinen Geschwistern Pfeil und Bogen gebaut. Im Gegensatz zu diesem Kinderspielzeug war die Schleuder eine tödliche Waffe.

       Zwei fellige, rötlich braune Ohren tauchten hinter einem Felsbrocken auf und verschwanden sofort wieder. Die Jagd hatte begonnen. Tatsächlich wurde es unten plötzlich lebendig. Ruhig bleiben! Das Wild durfte nicht misstrauisch werden.

       Ich zählte fünf Kaninchen, die sich aus ihrem Bau gewagt hatten. In aller Ruhe nagten sie an gefrorenen Grashalmen; hoppelten dann und wann hin und her; immer auf der Suche nach einem Stück Grün. Ein Langohr hüpfte auf mich zu. Jetzt war es etwa zehn Fuß entfernt. Langsam bog ich den Arm mit der Schleuder nach hinten und visierte es an. Alarmiert richtete es sich auf. Sein Kopf schoss in alle Richtungen. Das Näschen zuckte. Ich hielt den Atem an; wagte nicht, mich zu bewegen. Nach einigen langen Sekunden senkte das Tier die Vorderläufe auf den Boden und wandte sich wieder seiner Morgenmahlzeit zu. In dem Moment ließ ich den Riemen der Schleuder nach vorne peitschen. Das Kaninchen purzelte getroffen zur Seite und blieb mit einer blutigen Wunde liegen. Ich stieß ein wildes Kriegsgeheul aus, sprang auf und eilte zu meiner Beute. Deren überlebende Geschwister huschten verschreckt in alle Winde davon.

       Ich bückte mich und hob das magere Fellbündel auf. Nicht gerade viel Fleisch, um sechs hungrige Mäuler zu stopfen.

       Hoffentlich gewannen meine Brüder bald den Bürgerkrieg gegen die arroganten Nordstaatler! Lange würden wir hier draußen nicht mehr durchhalten. Die altbekannte Angst zog mir den Magen zusammen. Es wurde immer schwerer, der Verantwortung gerecht zu werden, die mir James vor drei Jahren übertragen hatte. Dabei war das doch meine Chance, ihm endlich zu beweisen, dass er auf mich zählen konnte!

       »Nicky«, hatte er mich beschworen, »wenn wir weg sind, musst du für die Familie sorgen. Du kannst leidlich mit den Rindern umgehen, und wie man jagt, habe ich dir ja auch gezeigt. Ich will einfach nur, dass die Ranch so bleibt wie sie ist, bis wir wiederkommen.«

       Wenn es doch nur bald soweit wäre! Mir wurde zwar schlecht, wenn ich mir vorstellte, wie er auf den Hof ritt und entdeckte, wie es um uns stand. Aber das war besser, viel besser, als wenn er nicht kam. Bis er und Andrew zurückkehrten, mussten wir uns irgendwie durchkämpfen. Später würde ich noch mal losziehen und meine Schlingen kontrollieren. Hoffentlich hatte ich damit mehr Erfolg.

       Ich wandte mich zum Gehen. Da fiel mein Blick auf eine dunkle Vertiefung in einem Flecken makellos weißen Schnees. Eine Fährte, die ich nicht sofort zuordnen konnte, obwohl ich so was bei jeder Gelegenheit übte. Neugierig bückte ich mich. Eindeutig ein Abdruck von einem kleinen, nackten Menschenfuß. Rot gefärbt von Blut. Mein Herz zog sich zusammen. Unsere nächsten Nachbarn lebten einen halben Tagesritt entfernt. Kannte ich das Kind?

       Ich sah mich rasch um, konnte aber keine Gefahr ausmachen. Keine Verfolger, keine wilden Tiere. Außer dem Wind war kein Laut zu hören. Mit angespannten Sinnen setzte ich mich in Bewegung und, folgte den blutigen Abdrücken. Den Blick auf den Boden gerichtet, kämpfte ich mich durch das brusthohe, mit Reif überzogene Dornengestrüpp. Sprang über einen gefrorenen Bachlauf. Erklomm einen steilen Hügel. Rutschte aus und riss mir die Finger auf. Egal! Weiter! Kam ich noch rechtzeitig?

       Schlussendlich wäre ich um ein Haar über sie gestolpert. Sie lag reglos auf dem hartgefrorenen Boden, zusammengerollt wie das Eichhörnchenbaby, das ich im letzten Frühjahr gefunden und aufgepäppelt hatte. Beinahe wäre es ein friedliches Bild gewesen, hätte nicht überall Blut an ihr geklebt, getrocknetes an ihrem viel zu dünnen Hemd, frisches an ihren aufgerissenen Fußsohlen. Ich kniete mich zu dem Mädchen hinunter und berührte sacht ihre kohlschwarze Stirn. Es war das erste Mal, dass ich einem Sklaven so nahe war.

       Ihre Haut fühlte sich seltsamerweise nicht anders an als meine, abgesehen davon, dass sie unter meinen kühlen Fingern glühte. Erleichterung durchströmte mich. Es war noch nicht zu spät.

       »Heiliges Kanonenrohr«, murmelte ich. »Wem gehörst du denn?«

       Was sollte ich mit ihr anfangen? Meine Gedanken überschlugen sich. Sollten wir einer entlaufenen Sklavin Unterschlupf bieten? Damit machten wir uns zur Zielscheibe für ihren Besitzer. Konnte ich sie hier liegen lassen? Nein! Das war weder mutig noch ehrenhaft. Es bedeutete ihren sicheren Tod. Hier würde heute keine zweite Menschenseele mehr vorbeistolpern. Schon eher eine Wolfsmeute.

       »Mist!«

       Ich atmete tief ein und aus. Sie musste so schnell wie möglich an einen wärmeren Ort. Eigentlich kam nur unsere Ranch infrage, aber meine Eltern würden ihre Anwesenheit unter keinen Umständen dulden. Somit blieb vorerst unser Stall. Dort konnte ich sie verstecken, bis mir eine bessere Lösung einfiel.

       Ein letztes Mal zögerte ich. Durfte ich meine Familie einer so großen Gefahr aussetzen? Wieder sah ich mich nach allen Seiten um. Doch da war nichts als frostige Wildnis. Das Mädchen stöhnte und nahm mir die Entscheidung ab. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, sie hier zum Sterben zurückzulassen.

       Ich band mein Kaninchen am Gürtel fest und packte die Kleine behutsam unter den Armen. Obwohl sie bereits acht oder neun Jahre alt sein musste, wog sie nicht mehr als ein neugeborenes Kälbchen. Sie wachte nicht auf, als ich sie hochwuchtete und an mich presste. Keuchend schob ich sie ein Stück höher, sodass ihr Kopf und ihre Arme über meine rechte Schulter baumelten. Nur einmal stieß sie einen maunzenden Klagelaut aus, dann verstummte sie wieder.

       Zum Glück hatte ich meinen Hengst nicht weit entfernt angebunden. Ich musste nur einige hundert Meter überwinden, aber mir brach der Schweiß aus und meine Muskeln zitterten vor Anstrengung. Daisy wartete geduldig. Jetzt hatte ich es fast geschafft. Schon wollte ich das Kind über seinen Rücken legen, da schnaubte mein Grauschimmel und tänzelte mit verdrehten Augen ein paar Schritte zur Seite.

       »Ist schon gut. Ist schon gut«, beruhigte ich Daisy und fluchte innerlich.

       Normalerweise erfüllte es mich mit Stolz, dass er außer mir keinen Menschen in seiner Gegenwart duldete. Jetzt aber hatte ich für seine Sperenzchen keine Kraft. Doch ich hatte keine Wahl. Diesmal näherte ich mich in Zeitlupe, den linken Arm besänftigend ausgestreckt, während ich mit dem rechten das Mädchen an meine Schulter drückte. Tatsächlich wich der Hengst jetzt nicht mehr zurück und hörte auf zu beben, als wollte ich ihn an die Wölfe verfüttern. Es gab noch einen kurzen Moment der Unsicherheit, als ich beide Hände benötigte, um die Kleine vor den Sattel auf den Pferderücken zu hieven. Dann hatte ich es geschafft. Mit einem Schwung war ich ebenfalls oben. Unser gemeinsames Gewicht war keine wirkliche Herausforderung für Daisy. Mit meinen fünfzehn Jahren war ich schmal gebaut und zusammen wogen das Mädchen und ich kaum so viel wie ein erwachsener Mann.

       Im Schritt lenkte ich den Grauschimmel in Richtung unserer Ranch. Ich wollte der Kleinen auf keinen Fall weiteren Schaden zufügen. Sie wirkte so zerbrechlich. Kraftlos baumelten ihre Füße auf der einen Pferdeflanke herab und die Arme auf der anderen. Der Kopf wiegte bei jeder Bewegung hin und her und ihre sorgfältig geflochtenen Zöpfe hingen in ihr Gesichtchen, während die roten Schleifen im Wind flatterten.

       Wer zum Teufel hatte ihr das angetan? Vor wem hatte sie sich so gefürchtet, dass sie barfuß querfeldein durch die Dornen geflüchtet war?

       Bevor die Gebäude unserer Ranch in Sicht kamen, passte ich Daisys Laufrichtung an, sodass der Blick vom Wohnhaus durch eine Bodenwelle versperrt wurde. Ich hatte mir diesen Weg vor langer Zeit angewöhnt. Auf diese Weise nutzte ich jede Minute, die ich für mich allein hatte. Dass ein dichtes Gestrüpp am Kamm das Durchkommen erschwerte, war dabei von Vorteil. Zum ersten Mal heute war ich froh über das ungemütliche Wetter. So hielt sich wahrscheinlich niemand im Freien auf. Trotzdem saß ich ab und führte Daisy mit pochendem Herzen bis kurz vor den Hügelrücken.

       Tatsächlich fand ich den Hof verlassen vor. Nur eine erloschene Laterne neben der Haustür schwankte knarzend im Wind und kratzte an meinen Nerven. Jetzt galt es, schnell zu sein! Natürlich würden die anderen im Haus das Hufgeklapper hören, aber daran konnten sie ja nicht ablesen, dass heute etwas anders war als sonst. Ich schob das Stalltor so weit auf, dass ich den Grauschimmel hindurchführen konnte. Dann zog ich


Скачать книгу