Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella
besseres Leben geführt hatte, gab es nicht mehr.
Zu seinen Füßen ließ mein zwölfjähriger Bruder Ben seine Holzsoldaten erbarmungslos gegeneinander anstürmen. Ob ihm bewusst war, dass das Spiel für unsere beiden älteren Brüder blutiger Ernst war? Ma und meine Schwestern bestickten am halbdunklen Küchentisch Charlottes Aussteuer. Charlotte hob den Kopf und warf mir ein zerstreutes Lächeln zu. Mary ignorierte mich wie meistens.
»Es zieht!«, polterte Pa, rutschte mit dem Messer ab, steckte sich den Finger in den Mund und fluchte gotteslästerlich.
Schuldbewusst zog ich die Tür lauter zu als notwendig und erntete prompt einen strafenden Blick meiner Ma. Mein Herz verkrampfte sich. Wie würde sie die Nachricht aufnehmen, dass ich ein entlaufenes Sklavenkind im Stall versteckt hatte?
»Ich hab da draußen Spuren entdeckt«, murmelte ich, ohne einen von ihnen direkt anzusehen.
Charlotte hob alarmiert den Blick. »Von Wölfen?«
»Wenn die von Menschen waren, geht uns das nichts an!«
Alle Köpfe fuhren zu Ma herum, die mich anfunkelte. Demonstrativ wandte sie sich der langen Unterhose auf ihrem Schoß zu.
»Wir haben dir was vom Maisbrot übriggelassen. Melkst du bitte die Kühe gleich?«
Für sie war die Angelegenheit erledigt.
Auch die anderen drehten sich von mir weg und ich stand vergessen im Raum. Ich legte das Kaninchen neben den Küchenherd. Den Mut für einen weiteren Versuch, mit der Wahrheit herauszurücken, brachte ich nicht auf. Das konnte genauso gut bis später warten.
»Waren nur Spuren von Karnickeln und Eichhörnchen«, durchbrach ich die Stille. Dankbar für die Gelegenheit, der Enge im Haus zu entgehen, schnappte ich mir mein Brot. »Nach dem Melken seh’ ich noch nach meinen Fallen.« Bevor mir jemand widersprechen konnte, fiel die Haustür hinter mir zu.
Bebend lief ich über den Hof zurück. Wann kamen James und Andrew endlich heim, damit sie wieder ihren Teil der Arbeit übernehmen konnten? Gleich darauf schämte ich mich für den Gedanken. Meine Brüder riskierten im Krieg ihr Leben für uns. Irgendjemand musste den Nordstaaten die Stirn bieten, die sich zu einer Union zusammengeschlossen hatten, um uns ihre Gesetze aufzuzwingen!
Ich dagegen hatte nur zwei Aufgaben: Ma gehorchen und Essen auf den Tisch schaffen. In beiden Fällen scheiterte ich kläglich. Manchmal wollte ich alles einfach nur hinter mir lassen und für immer fortgehen.
Sofort fegte ich die verräterischen Gedanken aus meinem Kopf. Unsere Familie hielt zusammen! Zuneigung offen zu zeigen, entsprach einfach nicht unserer Art. Trotzdem würde ich sie nie im Stich lassen!
Zurück im Stall vergewisserte ich mich, dass der Zustand meiner Patientin sich nicht verändert hatte. Sie war noch immer ohne Bewusstsein und ihre Stirn glühte. War ihre Temperatur noch gestiegen? Ich kaute nervös auf der Unterlippe. Wenn sie nicht wach geworden war, bis ich mit dem Melken fertig war, musste ich mir etwas einfallen lassen. Hatte ich sie am Ende zu spät gefunden? Ich durfte die Kleine nicht sterben lassen! Sie hatte bestimmt nichts anderes gewollt als die Freiheit! Wenn das der Preis war, war er zu hoch.
Ich suchte mir zwei Eimer. Der eine war für die Milch gedacht, der zweite als Melkschemel. Honey und Sugar traten unruhig auf der Stelle und begrüßten mich mit lautem Muhen. Schnelle Bewegungen vermeidend, richtete ich mich an Honeys Flanke ein, ließ aus jeder Zitze die ersten Tropfen auf den gestampften Erdboden spritzen und säuberte danach das Euter mit einem nassen Lappen. Dann ließ ich abwechselnd mit jeder Hand einen dünnen weißen Strahl in den leeren Kübel schießen. Ein hohler Klang ertönte in immer gleichem Rhythmus. Bis alle Zitzen abgemolken waren, dauerte es eine halbe Ewigkeit. Ich blendete jeden Gedanken an das Mädchen aus und versank in meiner Arbeit.
Es schepperte; ich fuhr auf. Mit dem Eimer noch in der Hand stürmte ich in die Box des Mädchens. Sie blickte mir mit großen, ängstlichen Augen entgegen. Beim Versuch sich aufzurichten, hatte sie die Heugabel zu Boden gerissen.
Minutenlang starrten wir uns an. Schließlich räusperte ich mich. Meine Kehle fühlte sich an wie mit einem Lasso zugeschnürt.
»Ich bin Nick. Du hast nichts zu befürchten. Ich hab dich draußen in der Wildnis gefunden.«
Ungläubigkeit und Angst wechselten sich auf ihrem hübschen Gesicht ab, bis schließlich ein scheues Lächeln über ihre Lippen huschte.
»Du hast mich beschützt?«
Ihre treuherzige, klare Kinderstimme rührte mich. Ich konnte nur nicken.
»Du wirst Master Johnson sagen, wo ich bin?«
Überrascht zuckte ich zusammen. Ausgerechnet Freddy Johnson! Der Vorarbeiter unseres Nachbarn Mr. Goodman war schon vor Ausbruch des Bürgerkriegs kein angenehmer Zeitgenosse gewesen. Er hasste alle Siedler, die wie wir nach dem Krieg gegen Mexiko nach Texas gekommen waren. In den letzten Jahren hatten er und seine Männer fast alle unsere Bekannten zum Aufgeben gezwungen. Am Ende mussten sie dankbar sein, wenn sie von Goodman ein paar Dollar für ihr gesamtes Hab und Gut bekamen. Eine Woche nachdem sich meine Brüder den Rebellen der Südstaaten angeschlossen hatten, war Freddy Johnson auch bei uns aufgetaucht. Vater hatte ihn mit der Flinte vom Hof gejagt. Beeindruckt hatte Johnson das nicht im mindesten. Wenn wir ihn in der Stadt trafen, beobachtete er uns mit dem lauernden Ausdruck einer Katze auf Mäusefang.
Ohne James und Andrew war es schwer, allen Aufgaben auf der Ranch gerecht zu werden. Dazu kamen die kleinen Unglücksfälle. Ein Kalb, das in der Nacht spurlos verschwunden war. Ein Hirschkadaver, den ich erst im Bachlauf gefunden hatte, als mehrere Rinder wegen des verseuchten Wassers verendet waren. Unsere Cowboys hatten sich entweder ebenfalls eingeschrieben oder arbeiteten jetzt für Arnold Goodman. Nach und nach hatten wir unsere gesamte Herde Longhorns verkaufen müssen, und die meisten Reitpferde noch dazu. Wie sollte ich James all das bloß beibringen, wenn er heimkam?
Je länger sie auf meine Antwort warten musste, desto hoffnungsloser wurde der Gesichtsausdruck der Kleinen. Langsam schüttelte ich den Kopf.
»Nein«, schwor ich. »Das werde ich nicht tun.«
Erleichtert sank sie zurück auf die Decke. Es war, als ob ihr diese Frage die letzte Kraft geraubt hätte.
»Ich bin Delilah«, murmelte sie noch, dann klappten ihre Augen zu. Kurze Zeit später zeugte ihr schwerer Atem davon, dass sie eingeschlafen war.
Ich brachte es nicht übers Herz, sie jetzt zu verbinden und damit zu wecken. Stattdessen ließ ich mich neben das Mädchen ins Heu plumpsen und tauchte ein Stück Maisbrot in die frische Milch. Während ich mir meine erste Mahlzeit des Tages schmecken ließ, beobachtete ich meinen Schützling beim Schlafen. Ich würde nicht zulassen, dass sie wieder in die Hände dieses Kerls fiel. Doch ich musste bald eine neue Unterbringung für sie finden! Solange schwebten wir alle in Gefahr.
Nachdem ich meinen Teil aufgegessen hatte, legte ich die andere Hälfte des Brots neben Delilah auf mein Halstuch und rückte den Milcheimer heran. Wenn sie das nächste Mal aufwachte, würde sie sicher hungrig sein.
Mit den Schlingen war ich erfolgreicher als mit der Schleuder. Zufrieden hängte ich das Kaninchen neben die drei Eichhörnchen an meinen Gürtel, machte mich auf den Rückmarsch und führte den Schecken dabei locker am Zügel. Daisy hatte ich im Stall gelassen, damit auch unser zweites Pferd Auslauf bekam. Tief sog ich die kalte Luft ein und genoss jeden Moment in Freiheit, in dem mir niemand vorschrieb, wie ich zu sein hatte.
Ich hatte es nicht eilig zurückzukommen. Heute Nachmittag würde ich ans Haus gefesselt sein und folgsam alle Aufgaben erledigen, die mir Ma auftrug. Dabei wusste ich jetzt schon, dass ich sie wieder enttäuschen würde, egal, wie sehr ich mich anstrengte.
Je näher ich unserem Heim kam, desto langsamer wurden meine Schritte. Ich wollte noch für ein paar Minuten so tun, als wäre ich ein einsamer Fallensteller. Ich hatte gerade eine Jungfrau in Nöten aus den Händen feindlicher Indianer befreit und wir wurden jetzt über die offene Prärie verfolgt. Wenn mir die Feinde vor die Büchse liefen und dann schworen, von uns abzulassen, würde ich Gnade vor Recht ergehen lassen.
Da zerriss ein Schuss die Stille über dem Grasland.