Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella
stand er aufrecht inmitten der Eindringlinge, an seinem bloßen Hals eine Messerklinge. Der Besitzer des Messers überragte meinen Vater um mehr als eine Hauptlänge. Im Gegensatz zu seinen Kumpanen trug er keinen Hut. Immer wieder hob er seine Hand und strich sich die langen, weißblonden Haare aus dem bartlosen Gesicht, die der Wind sofort erneut nach vorne wehte. Den Blick hielt er starr auf den Stall gerichtet. Kalte hellblaue Augen, wie ich von unseren früheren Begegnungen wusste. Freddy Johnson.
Fast überhörte ich seine sanfte Stimme. Bei seinen Worten wurde mir eiskalt: »Ich frage jetzt ein letztes Mal: Wo. Hast. Du. Die. Sklavin. Versteckt?«
Die Männer waren auf der Suche nach Delilah. Ich musste aufstehen und meinem Pa helfen! Die Schuld auf mich nehmen! Aber würden sie mir überhaupt zuhören? Was konnte ich gegen so eine Übermacht ausrichten? Verspielte ich meinen Vorteil, wenn ich mich jetzt zeigte? Zitternd drückte ich mich auf den Boden. Unfähig, die Augen von der Szene abzuwenden.
Vater wirkte keineswegs verängstigt oder betrunken. »Und ich bleib dabei: Es gibt auf dieser Ranch keine Sklaven.«
Seine Antwort war fest. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er im Recht war.
Der Blonde verzog sein Gesicht zu einem freudlosen Lachen. »Wir wissen, dass sie hier ist. Wir haben ihre Spur bis hierher verfolgt. Ich möchte nur hören, wo ihr sie versteckt habt.«
Vater würdigte ihn keiner Antwort mehr. Sekunden verstrichen in angespanntem Schweigen.
Als klar war, dass keiner von beiden nachgeben würde, wandte sich Freddy Johnson mit kalter Stimme an seine Männer: »Durchsucht alles und bringt mir dieses elende Miststück!«
Darauf hatten die anderen nur gewartet. Hilflos sah ich mit an, wie zwei, in denen ich mittlerweile Cowboys von Mr. Goodman erkannt hatte, das Ranchhaus stürmten.
Drei andere schoben das Stalltor auf. Sie mussten Mitglieder des Heimatschutzes sein, schloss ich anhand ihrer fleckigen grauen Hosen und militärisch geschnittenen Mäntel. Einer von ihnen trug seinen rechten Ärmel verknotet. Vermutlich war er wegen seiner Verstümmlung aus der Armee ausgeschieden.
Aus dem Haus schrillten Schreie. Charlotte, Ben, Ma und Mary waren da drin! Was taten diese Schufte ihnen an? Ich spannte alle Glieder an, aber in diesem Moment tauchten auch die anderen drei aus dem Stall wieder auf und zerrten Delilah hinter sich her. Das Mädchen sandte hilfesuchende Blicke in alle Richtungen und stemmte sich mit ihrem ganzen Körper gegen die Hände, die sie gepackt hielten, wurde aber Fuß um Fuß weitergeschleift.
Warum war ich so nachlässig gewesen? Noch vor wenigen Stunden hatte ich Delilah versprochen, sie zu beschützen. Ich hätte sie besser verstecken müssen! Zumindest hätte ich darauf achten müssen, unsere Spuren zu verwischen! Was konnte ich jetzt noch für sie tun? Ich biss mir in den Handrücken, damit ich nicht in Tränen ausbrach. Mit verschleierten Augen sah ich, wie ein Lächeln Freddys Lippen kräuselte.
»Du hättest mich nicht anlügen sollen«, sagte er sanft.
Ohne meinen Vater noch eines Blickes zu würdigen, zog er ihm das Messer die Kehle entlang. Pa brach gurgelnd zusammen.
Nein! Nicht Pa! Eiswasser pumpte durch meine Adern. Meine Gedanken wurden zäh. Nie würde ich Vaters ungläubigen Gesichtsausdruck vergessen! War ihm in seinem letzten Moment klar geworden, dass einer von uns die Familie verraten hatte?
Die Tür zum Haupthaus flog auf und Ma und Charlotte traten aneinander gedrückt ins Freie. Ihnen folgten die beiden Cowboys mit den Revolvern im Anschlag und stießen sie vorwärts. Der größere hielt Ben mit der linken Hand am Hemdkragen gepackt und riss ihn hinter sich her. Mein kleiner Bruder zappelte stumm wie ein Fisch an der Angel konnte aber nichts ausrichten. Von Mary fehlte jede Spur.
Verzweifelt blinzelte ich. Grub meine Fingernägel in die Erde; spürte kaum, wie sich Steinsplitter in meine Fingerspitzen bohrten. Ich wollte aufspringen! Meiner Familie helfen! Was hatten die Männer mit ihnen vor? Allein hatte ich gegen so viele Gegner keine Chance. Erstarrt blieb ich liegen.
Meine Mutter und Charlotte stützten sich gegenseitig, als sie grob zum Stall geschoben wurden. Ma drückte ihren Rücken durch. Mit blitzenden Augen drehte sie sich zur Meute um – und sah Vater mit dem Gesicht nach unten im Dreck liegen. Abrupt blieb sie stehen und starrte auf ihren Ehemann. Ihr Bewacher lief auf sie auf, fluchte und folgte ihrem Blick. Kurz zögerte er, dann gab er Ma einen Schubs nach vorne. Ein Schrei verließ ihre Kehle, der mir mitten ins Herz fuhr.
Tränen schossen mir in die Augen. Der Schrei hallte in meinem Körper wider; vervielfachte sich. Ich wollte in das Wehklagen einfallen. Heulen wie ein Wolf. Mich auf die Angreifer stürzen.
Daisy riss sich mit einem letzten Aufbäumen los und verschwand in donnerndem Galopp über die Prärie. Leben kam in die Männer. Sie brüllten Verwünschungen, schrien ihre Geiseln an und stießen sie durch das Stalltor aus meiner Sicht. Das Geheul meiner Ma brach plötzlich ab und eine unheimliche Ruhe legte sich über den Hof.
Der blonde Teufel pfiff und schwang sich auf sein Pferd. Die anderen Heimatschützer folgten seinem Beispiel. Einer von ihnen hielt Delilah vor sich im Sattel, die sich stumm in ihr Schicksal ergeben hatte. Jetzt rannten die letzten beiden aus dem Stall; nahmen sich die Zeit, von außen den Riegel vorzuschieben. Dann galoppierte die Truppe davon und ließ nur eine Staubwolke zurück.
Da erst bemerkte ich den dunklen Rauch, der über dem Stall aufstieg.
5 Annie – 13. Dezember 1863
A nnika Bailey, bist du hier irgendwo?«
Die schneidende Stimme von Mrs. Hodgers drang in jeden Winkel des kleinen Stalls. Annie zuckte zusammen, versteckte eilig die Zeitung, über der sie die Zeit vergessen hatte, und duckte sich im Verschlag des alten Kutschgauls noch tiefer in das Stroh. Sie hielt den Atem an. Sekunden verstrichen, in denen sie nur das Schnauben des Pferdes und das gelegentliche Stampfen und Rascheln von Hufen vernahm.
»Suchen Sie irgendwas?«, dröhnte der Bass des Kutschers durch die Stille.
»Haben Sie Miss Bailey gesehen?«
»Was sollte sie denn im Stall verloren haben? Kommen Sie mit nach draußen, dann helfe ich Ihnen, sie zu finden.«
Für einen Moment erschien das Gesicht ihres Freundes Mr. Curtis über der Wand der Box. Verschwörerisch blinzelte der alte Mann Annie zu. Dann fiel die Tür hinter den beiden ins Schloss.
Sofort entspannte sich Annie. Sie musste noch besser aufpassen, wenn sie hierherkam! Keine andere Schülerin hätte Mrs. Hodgers ausgerechnet im Stall gesucht. Für Annie jedoch waren Pferde gleichbedeutend mit Freiheit. Der Stall bot ihr ein Versteck vor dem Trubel im Internat, wo sie nie allein war. Nicht im Schlafsaal, nicht im Unterricht, nicht im Speisesaal.
Annie schloss die Augen und sog den würzigen Duft nach Pferd ein. In der Zeit vor dem Krieg hatte sie auf dem Rücken ihrer Stute für ein paar Stunden dem Tadel ihrer Stiefmutter und den standesgemäßen Konventionen entfliehen können. All ihre glücklichen Kindheitserinnerungen waren mit Pferden verknüpft. Sie konnte immer noch die starken Arme ihres Vaters um sich spüren, wie er sie als kleines Mädchen vor sich im Sattel gehalten hatte. Das glockenhelle Lachen ihrer echten Mutter war ein fester Bestandteil dieser Erinnerung. Wenn Annie sich konzentrierte, konnte sie deren Silhouette im Gegenlicht ausmachen. So vertraut. Doch nie gelang es ihr, dem Umriss ein Gesicht zu geben.
Traurig streichelte das Mädchen dem Falben über die Nüstern und genoss das Gefühl von weichem, beweglichem Fell unter ihren Fingern. Sanft stupste der Hengst gegen ihre geöffnete Handfläche und sein warmer Atem strich darüber. Seit einem gefühlten Jahrhundert war sie auf keinem Pferd mehr gesessen. Sie vermisste den Wind in ihren offenen Haaren, die gleitende Bewegung unter sich, wenn sie mit ihrem Pferd zu einer Einheit verschmolz und über die Weide am Waldrand stob. Sehnte sich nach der Aufregung, wenn sie einen riskanten Sprung über einen gestürzten Baum wagte, und die Unabhängigkeit, wenn sie allein schnelle Entscheidungen treffen musste. Nur sie gab dann die Richtung vor!
Annies geheimes Ziel war es, nach ihrem Schulabschluss die heimatliche Pferdezucht mit ihrem Vater zusammen zu leiten. Natürlich war das für eine