Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella
Andererseits: Was würde passieren, wenn sie nicht auftauchte? Wie lange würden die Flüchtlinge in ihrem Versteck warten, bevor sie sich auf eigene Faust aufmachten? Waren sie mit Lebensmitteln versorgt? Befanden sich Kinder darunter?
Den Sonntagnachmittag hatte Annie meistens zur freien Verfügung. Würde sie konzentriert im Stall lernen können, wenn sie wüsste, dass diese Menschen draußen im Schnee in Gefahr schwebten? Ein weiteres Mal aus dem Institut zu entwischen, wäre ihr jedenfalls möglich.
Frustriert ließ Annie ihren Hinterkopf gegen die Wand in ihrem Rücken fallen. Sie hasste es, ungefragt in Situationen hineingezogen zu werden, die sie nichts angingen. Schließlich stieß sie sich ab und zischte durch zusammengebissene Zähne wenig ladylike einen Fluch in den leeren Flur hinaus.
8 Nick – 17. Dezember 1863
I ch erwachte orientierungslos mit hämmernden Kopfschmerzen. Alles drehte sich in einem dunklen Strudel um mich. Er sog mich in sich hinein und ich fiel. Fiel immer schneller. Haltsuchend krallte ich die Finger in meine Unterlage. Die vertraute Textur des rauen Sackleinens und das Rascheln des Strohs beruhigten mich so, dass ich vereinzelte Gedanken formen konnte.
Ich lag auf meiner Bettstatt. War alles nur ein Traum gewesen? Bildfetzen zogen an meinem inneren Auge vorbei. Rauch aus dem Dach des Stalls. Der anklagende Gesichtsausdruck meines Vaters. Delilahs blutig verkrusteter Rücken. Daisy, der in Panik stieg. Freddy Johnson. Wehendes weißblondes Haar. Eisblaue Augen. Feuer. Ich krümmte mich vor Verzweiflung und schluchzte auf. Meine Kehle war schmerzhaft trocken. Die Lider fühlten sich aufgequollen und unendlich schwer an. Wie lange lag ich schon hier? Wer hatte mich hierher gebracht? Wie ging es Ma und meinen Geschwistern?
Unfähig, mich zu erheben oder die Augen weiter als einen Schlitz zu öffnen, lauschte ich in die Leere der Hütte hinein. Leises Gemurmel drang an mein Ohr. Durch den dunkelroten Schleier der bohrenden Schmerzen in meinem Kopf konzentrierte ich mich auf das Gesprochene. Meine Ma war in eine heftige Diskussion mit einer Männerstimme verstrickt, die nicht meinem Vater gehörte.
»… Gerechtigkeit. Mein Mann wurde ermordet und wir haben unsere Kühe sowie fast alle Vorräte verloren. Wenn Mr. Johnson nicht zur Verantwortung gezogen wird, weiß ich nicht, wie ich die Kinder über den Winter bringen soll!«
Erleichterung schob sich in mein umwölktes Bewusstsein. Alle vier hatten das Feuer überlebt, sonst hätte Ma weitere Vorwürfe erhoben.
»Und ich wiederhole noch einmal: Mr. Goodman bezeugt, dass Frederick Johnson und seine Männer am dreizehnten Dezember gemeinsam mit ihm die Kirche im Ort besucht haben und anschließend ohne Ausnahme zurückgeritten sind. An diesem Tag haben sie die Ranch nicht mehr verlassen.«
»Aber das kann nicht sein, Sheriff – zu Pferd benötigt man mehr als fünf Stunden von der Stadt bis hierher.«
»Mehrere Kirchgänger, einschließlich ich selbst, können bestätigen, dass sie da waren. Ein Termin vor Gericht wäre reine Zeit- und Geldverschwendung. – Wir werden die Strauchdiebe finden, die für den heimtückischen Überfall verantwortlich sind, Mrs. Albright. Darauf können Sie vertrauen. Mr. Goodman hat freundlicherweise angeboten, Freddy Johnson und fünf weitere Männer vom Heimatschutz mit auf die Suche zu schicken und gelegentlich bei Ihnen nach dem Rechten zu sehen.«
Ein Schauer lief meinen Rücken hinab. Vaters Mörder wurden zu unserem Schutz eingeteilt? Was für ein schlechter Witz! Ich biss die Zähne zusammen.
»Und wovon soll ich bis dahin Essen für uns kaufen?« Die Verzweiflung in der Stimme meiner Ma war nicht zu überhören.
»Vielleicht erwägen Sie unter diesen Umständen doch noch, das Land an Mr. Goodman zu veräußern? Er macht Ihnen bestimmt ein faires Angebot. Mir gegenüber hat er durchblicken lassen, dass er durchaus an Ihrem Land interessiert ist. Ohne erwachsene Männer ist es so oder so unmöglich, die Ranch weiterzuführen.«
»Meine Söhne werden bald von der Front zurückkehren und die Ranch wiederaufbauen!« Sie spuckte dem Sherriff diese Worte förmlich entgegen. Auch Ma hatte begriffen, dass er sich nicht für uns einsetzen würde.
Seine Antwort klang spöttisch. »Dieser Krieg ist noch lange nicht zu Ende. Setzen Sie nicht aus reiner Sturheit das Leben Ihrer Kinder aufs Spiel.«
Einen Moment war es totenstill im Raum. Dann explodierte Ma endgültig: »Raus hier! Sie sind in diesem Haus nicht mehr willkommen!«
Der Sherriff protestierte schwach. Doch kurz darauf krachte die Tür ins Schloss. Wahrscheinlich war Ma zusammen mit dem Besucher ins Freie getreten und dann wieder ins Haus gekommen. Wenig später drang ihr ersticktes Weinen zu mir herauf. Verzweifelte, atemlose Schluchzer, die mein Innerstes entzweirissen. Nie zuvor hatte ich Ma weinen gehört. Selbst als unser jüngster Bruder Davy mit nur acht Monaten an der Grippe gestorben war, war sie stumm an seinem Grab gestanden. Uns gegenüber zeigte sie selten Gefühle; war seit jeher die felsenfeste Stütze der Familie. Doch ich hatte sie ins Wanken gebracht. Der Schmerz in meinem Kopf färbte sich blutrot und verschluckte alles andere, bis die Ohnmacht mich endlich von der Gegenwart erlöste.
9 Annie – 20. Dezember 1863
A nnie drehte den Brief unschlüssig in ihren Händen, die zweite Post, die sie innerhalb weniger Tage erhalten hatte – diesmal stammte das Schreiben von Theresa Bennett Bailey. Die Frau ihres Vaters teilte Annie mit, dass Colonel Bailey überraschend Heimaturlaub bekommen habe, um Weihnachten bei seiner Familie zu feiern. Da in Kentucky aktuell keine Kriegshandlungen zu erwarten seien, würde sich Theresa unendlich freuen, ihre liebe Tochter für die Feiertage wieder in ihre Arme schließen zu dürfen. Annie verzog das Gesicht. Anbei lag eine Zugfahrkarte für den morgigen Montag.
Vor drei Jahren hatte sie das Gestüt mit dem bitteren Geschmack, abgeschoben zu werden, verlassen. Sie sehnte sich nach den Pferden zu Hause und hätte alles für einen Ritt durch den Wald gegeben. Und sie würde ihren Vater endlich wiedersehen! Doch auch Theresa war dort und würde die Stimmung vergiften. In den wenigen gemeinsamen Jahren hatte Theresa sie gezwungen, mit Büchern auf dem Kopf herumzulaufen. Anscheinend war Annies Haltung nicht aufrecht genug. Außerdem hatte sie im Hause Bailey den Damensattel eingeführt, nachdem sich die Nachbarn über den kleinen Derwisch zu Pferde mokiert hatten, der mit wehenden Haaren und nackten Waden über Zäune und Gräben sprang.
Doch wenn Annie nach dem Abschluss ihre Zukunftspläne verwirklichen wollte, würde ihr allerdings nichts anderes übrigbleiben, als sich mit ihrer Stiefmutter zu arrangieren. Wie ihr das gelingen sollte, war ihr jedoch schleierhaft.
Zwei Briefe, zwei Bahntickets. Annie seufzte gequält und überlegte, wie sie wenigstens einer der beiden Heimsuchungen entgehen konnte. Doch in ihrem Kopf entfaltete sich bereits ein anderer Plan.
Mrs. Hodgers zog zweifelnd die Augenbrauen hoch, als Annie ihr mitteilte, dass sie noch heute den Nachmittagszug nach Hause nehmen würde. Wie erwartet, beauftragte sie dann Mr. Curtis aber doch, Annika mit der Kutsche zur Fähre zu bringen.
Der Abschied von Loreley fiel knapp aus. Immerhin würde Annie in ein oder zwei Wochen schon wieder zurück sein. Trotzdem war ihre Reisetasche so schwer, dass Annie sie nur kurze Strecken schleppen konnte. Zwar besaß sie, bis auf das schlichte Reisekleid, das sie trug, und ihre Schuluniform, die zuunterst in der Tasche lag, kaum Kleider, aus denen sie nicht herausgewachsen war. Doch sie hatte sich nicht entscheiden können, welches Buch sie zurücklassen konnte, und kurzerhand alle eingepackt. Wenn sie genug von Theresa hatte und das Wetter zu schlecht war zum Ausreiten, konnte sie so ihre Zeit sinnvoll mit Lernen verbringen. Zum Glück wies Mrs. Hodgers den Kutscher an, Annies Tasche die Treppe hinunterzutragen. Während er das Gepäck auf der Ladefläche verstaute, kletterte Annie auf den Kutschbock.
Durch ein Schnalzen gab Mr. Curtis dem falben Kutschgaul das Signal zum Aufbruch und knallte mit der Peitsche. Die Kutsche setzte sich mit einem Ruck in Gang. Annie klammerte sich an das Sitzbrett, damit sie nicht nach hinten auf ihre Reisetasche kippte. Bevor sie um die Straßenecke bogen, drehte sich das Mädchen noch ein letztes Mal zur Schule um, die ihr so lange ein Zuhause gewesen war. Stolz thronte das weiße