Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella

Die Brücken zur Freiheit - 1864 - Christine M. Brella


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Blick folgte, erkannte auch er die gefährliche Lage, in der sich der Veteran befand. Die anderen Passanten nahmen dessen Not nicht wahr und hasteten an ihm vorbei. Jetzt rempelte ihn eines der Orgelpfeifen-Kinder an und stürmte einfach weiter, während der Kriegsversehrte sekundenlang um sein Gleichgewicht kämpfte. Fluchend sprang Mr. Curtis auf den Boden. Annie beobachtete, wie er die Treppe hinaufeilte. Gerade noch rechtzeitig gelangte er nach oben, denn der Fremde kippte just in dem Moment vornüber, als sich der Kutscher vor ihm aufbaute.

       Doppelte Erleichterung durchströmte Annie. Jetzt lag es an ihr. Zwar hatte sie zuletzt zu Hause eine Kutsche gelenkt und damals war es nur ein leichter Einspänner gewesen; sie traute sich das Kunststück aber durchaus zu. Noch ein schneller Blick über die Schulter, dann nahm sie die Zügel in die Hand, löste die Bremse und schnalzte mit den Riemen.

       Tatsächlich setzte sich der brave Kutschgaul in Bewegung und Annie atmete aus. In der Eile hatte Mr. Curtis sein Gefährt mitten auf der Straße stehen lassen. Das kam ihr jetzt zugute.

       Das Mädchen hatte bereits mehrere Fuß zurückgelegt, als hinter ihr ein Schrei erklang: »Bleib hier! Wo willst du hin, Kleine?!«

       Ein weiteres Mal wandte sich Annie um und sah Mr. Curtis mit dem alten Soldaten im Arm auf der obersten Stufe balancieren. Noch war er in Rufweite.

       »Holen Sie die Kutsche morgen beim Schmied ab!« Sie war sich sicher, dass ihr Freund sie nicht verraten würde. Aber sie wollte auch nicht, dass er Ärger bekam.

       Kurzerhand stellte Mr. Curtis seine Last ab, sprang die Treppen hinunter und nahm die Verfolgung auf. Kampflos würde er seinen Wagen wohl nicht aufgeben. Annie konzentrierte sich auf das Pferd und den Verkehr vor ihr. Sie setzte dazu an, die wartenden Kutschen zu überholen. Ein Grüppchen Frauen wich mit ihren Einkäufen auf den hölzernen Fußweg zurück. Der Weg war offen. Doch da scherte vor ihr ein anderes Gespann aus der Schlange und blockierte die Bahn. Mit klopfendem Herzen brachte Annie den Kutschgaul zum Halten. Mr. Curtis’ Geschrei in ihrem Rücken kam näher. Wenn die Straße nicht bald frei wurde, hatte er sie in wenigen Augenblicken eingeholt. Zu Fuß kam er im Gewimmel viel schneller voran als die ausladenden Kutschen.

       Die allgemeine Aufregung übertrug sich auf den Falben. Er tänzelte nach rechts und links, schnaubte, warf seine Mähne zurück. Immer wieder zog Annie am Zügel, damit sie nicht auf das Gefährt vor ihr auffuhr. Sie biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf das Geschehen vor ihr. Wo entstand die Lücke, durch die sie schlüpfen konnte?

       »Bleib stehen, Mädchen!«, keuchte die Stimme von Mr. Curtis direkt hinter ihr.

       Annies Kopf schoss herum. Der Alte hatte ihre Kutsche eingeholt und klammerte sich mit glühend rotem Gesicht an den Brettern der Pritsche fest. Es durchfuhr sie wie ein Blitz: Sie hatte versagt! Ihr Herz pochte schmerzhaft. Blut rauschte in ihren Ohren. Sie würde von der Schule verwiesen werden! Sie würde mit ihrer Stiefmutter leben müssen! Was würde mit den entflohenen Sklaven im Wald geschehen? Sie durfte jetzt nicht aufgeben!

       Annie verkrampfte ihre schweißnassen Finger um die Zügel und starrte wieder auf die Straße vor sich. Gab es nicht doch noch einen Ausweg?

       Plötzlich peitschten Schüsse durch den Tumult. Annie zuckte zusammen und sah sich um. Drei Burschen in Uniform schwankten lachend von der Fähre; feuerten übermütig ihre Revolver ab. Auch Mr. Curtis blickte nach oben. In dem Moment erspähte Annie eine Lücke zwischen dem störenden Gefährt und dem Fußweg. Sie ließ die Zügel fahren und knallte mit der Peitsche. Für den mächtigen Kaltblüter war das endgültig zu viel. Er sprang vorwärts, floh in Panik vor den unheimlichen Geräuschen. Mr. Curtis’ Finger lösten sich. Annie klammerte sich an den Kutschbock. Wenn sie herunterfiel, brach sie sich das Genick! Lenken oder gar bremsen konnte sie das Pferd nicht mehr. In mörderischem Tempo pflügte Annies Kutsche an dem anderen Gespann vorbei. Jeden Moment würde sie zwischen diesem und dem Holzsteg zerquetscht werden, da war Annie sich sicher!

       Doch dann waren sie hindurchgeschlüpft. Häuser rasten vorbei. Passanten sprangen in letzter Sekunde zur Seite. Annies Herz hämmerte. Als sich die Straße gabelte, hatte sie mit ihrem Leben abgeschlossen.

      10 Nick – 20. Dezember 1863

      N icky, wach auf! Die Beerdigung fängt an.«

       Ein Schütteln an der Schulter holte mich aus dem Schlaf. Ich schlug die Lider auf und blickte in Charlottes mitleidiges Gesicht. Meine Kopfschmerzen waren verschwunden, und das erste Mal seit Tagen fühlte ich mich stark genug, das Lager zu verlassen. Heute musste ich Ma beichten, was geschehen war, sonst würde ich ihr nicht mehr in die Augen sehen können. Mein Magen verkrampfte sich. Würde sie schreien? Weinen? Mich mit dem Gürtel verprügeln? Mich von der Ranch jagen? All das hätte ich verdient.

       So oder so. Morgen würde ich mich auf die Suche nach Freddy Johnson machen und Vater rächen.

       Ich lächelte meine Schwester schief an. »Ich zieh mir besser was über.«

       »Solltest du. Nicht, dass du dir auch noch eine Lungenentzündung einfängst. Ich würd’ gern mal wieder was anderes machen als an deinem Bett sitzen und Verbände wechseln.«

       »Danke«, rief ich Charlotte hinterher, während sie bereits die Leiter hinunterkletterte.

       Ich legte mir mein Gewand zurecht und entdeckte, dass sie für mich Wasser in der Waschschüssel gelassen hatte. Mein Blick fiel auf die Spiegelscherbe an der Wand und ich erstarrte. Langsam hob ich die Hand und fuhr über meine Haare, oder besser gesagt: die Überreste davon. Ein Schatten schwarzer Stoppel, durch den meine Kopfhaut zu sehen war. Ich erinnerte mich bruchstückhaft daran, wie Charlotte meinen Kopf geschoren hatte, und an meine verkohlten Locken neben mir auf der Matratze. Es fühlte sich richtig an, dass die Zerstörung in meinem Inneren auch äußerlich sichtbar war. Mein linker Arm war bis zum Hals mit muffigen Leinentüchern umwickelt, genauso mein Brustkorb. Bestimmt hatte Charlotte mich verbunden. Selbst wenn der Doktor in der Stadt nicht so weit entfernt gewesen wäre, hätten wir uns die Behandlungskosten nicht leisten können. Meine Verbrennungen unter den Verbänden spürte ich an manchen Stellen kaum, doch die Wundränder bissen höllisch. Die gerechte Strafe für meinen Fehler. Ich befreite mich notdürftig vom klebrigen Schweiß, zog meine Kleidung über und schaffte es die Leiter hinunter. Blinzelnd trat ich hinaus in den grauen Dezembernachmittag.

       Vater wurde hinter dem abgebrannten Stall neben meinem kleinen Bruder Davy beigesetzt. Zögerlich schlich ich näher. Ich brachte es nicht über mich, die Holzkiste anzusehen. Um das frisch ausgehobene Loch hatten sich neben Ma und meinen Geschwistern nur noch der Reverend und zwei halbwüchsige Jungen eingefunden. Ich kannte die beiden Letzteren vom Sehen aus der Kirche. Seit sich der Schreiner verpflichtet hatte, begleiteten sie den Reverend auf seinen Besuchen. Nervös sah ich zu Ma, wurde aber ignoriert.

       Der Reverend musterte mich ungeduldig. Dann schlug er seine Bibel auf und las mit dem Finger auf der Zeile: »Denn ich bin arm und elend. Der Herr aber sorgt für mich. Du bist mein Helfer und Erretter. Mein Gott, säume doch nicht! Psalm 40, Vers 18.«

       Mit großen Augen starrte ich ihn an. Es war das erste Mal, dass uns jemand als arm und elend bezeichnete. Mich traf es wie ein Schlag in die Magengrube. Er hatte recht damit! Trotzdem war es brutal, diese Tatsache an Vaters Grab auszusprechen. Wer sich wohl als unser Helfer und Erretter entpuppen würde? Viel Zeit durfte dieser Jemand sich damit nicht mehr lassen. Aber es musste irgendeinen Ausweg aus der dunklen Grube geben, in der wir saßen! Ich konnte mir bloß beim besten Willen nicht vorstellen, welchen.

       Ich zwang mich dazu, endlich den Sarg anzusehen – auch wenn es sich anfühlte, als würde ich mir ein Messer ins eigene Fleisch drücken. Dass er hier lag, machte alles so endgültig. Delilah, der Überfall, Vaters Tod, meine Schuld. Der Schmerz in meiner Brust war so stechend, dass ich mich am liebsten zusammengerollt und geheult hätte. Doch ich durfte mir keine Schwäche erlauben. Meine Familie brauchte mich! Zum Glück war die Holzkiste schon zugenagelt und ich musste die klaffende Wunde an Vaters Hals nicht noch einmal sehen. Die Sargbretter zeigten schwarze Rußspuren. Wahrscheinlich hatten die Jungen Überreste vom Stall dafür hergenommen. Für Vater war das Feuer ein günstiger Umstand. Sonst hätte er bestimmt keine Ruhestatt aus Holz bekommen. Was wohl mit Honey und Sugar geschehen


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