Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella

Die Brücken zur Freiheit - 1864 - Christine M. Brella


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der die Anderson-Fähre mit der Stadt verband. Ein ungewohntes Gefühl der Freiheit durchströmte das Mädchen. Während der letzten Jahre hatte sie die Sehnsucht nach Ausritten durch Wälder und über Wiesen in sich verschlossen. Endlich konnte sie wieder frei atmen! Zum ersten Mal, seit sie den Brief von Theresa in den Händen gehalten hatte, freute Annie sich auf ihre Heimkehr.

       Die Kutsche holperte über den Weg, der zwischen der Uferböschung auf der linken Seite und einem Gehölz rechter Hand hindurchführte. Am gegenüberliegenden Ufer erkannte Annie sanfte Hügel, die ebenfalls dicht bewaldet waren. Dort drüben lag ihre Heimat Kentucky. Das Beste aber war der Fluss selbst. Nebel bildete sich über dem Wasser, und in der tief stehenden Nachmittagssonne wirbelte die Strömung Eisschollen, Äste und halbe Baumstämme herum. Annie hätte das Schauspiel stundenlang beobachten können und musste aufpassen, Unebenheiten in der Straße nicht zu übersehen. Wenn sie hier ein Rad verlor, steckte sie in der Klemme!

       Ein sich rasch näherndes Rumpeln schreckte sie auf. Aufgeregtes Gänsegeschnatter folgte. War ihr anzusehen, dass sie in geheimer Mission unterwegs war? Wurde nach den entlaufenen Sklaven gesucht?

       Die Fremden hatten Annie ebenfalls ausgemacht und führten ihr Fuhrwerk auf die Seite, damit sie passieren konnte. Freundlich verzog die Farmersfrau ihre Runzeln zu einem Lächeln, während ihr Mann das Zugpferd an der Trense hielt. Er musste seine Hand dafür weit nach oben strecken, da sein Rücken fast waagrecht gekrümmt war. Vermutlich hatten sie den Fluss mit der Anderson-Fähre überquert und wollten die Gänse zu Weihnachten am Markt in Cincinnati verkaufen. Von diesen beiden ging wohl keine Gefahr aus. Trotzdem war Annie froh, als sie hinter einer Biegung verschwanden.

       Allmählich erreichte sie die Gegend, in der sie die gesuchte Hütte vermutete. Annie sah sich aufmerksam um, konnte aber nichts zwischen den Bäumen entdecken. Jede Minute brachte sie näher zur Fähre. Damit stieg das Risiko, dass sie jemandem auffiel.

       Tatsächlich hörte sie jetzt das Klappern von Hufen in ihrem Rücken. Annie wagte es nicht, sich umzublicken, und bremste die Kutsche, damit sie schneller überholt wurde. Aber ihr Plan ging nicht auf. Der vorderste der drei Reiter schob sich zwischen den Kutschbock und den Fluss, zügelte sein Pferd und grinste zu ihr herüber. Die anderen beiden nahmen sie von rechts in die Zange. Männer vom Heimatschutz. Ausgerechnet.

       »Wo willst du denn hin, Süße? So ganz allein?«

       Annie hatte sich auf die Frage vorbereitet und antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: »Nach Hause, nach Kentucky zu meinen Eltern.« Das war noch nicht einmal gelogen.

       Misstrauisch warf der Anführer einen Blick auf ihre Ladefläche. Da auf dieser nur ihr Gepäck lag, verlor er schnell das Interesse.

       »Du bist nicht zufällig ein paar dreckigen Sklaven begegnet?«, fragte er. »Genauer gesagt, suchen wir sogar zwei Gruppen. Sie sind letzte Woche ihren rechtmäßigen Besitzern in Kentucky weggelaufen.«

       Mit starrem Gesicht schüttelte Annie den Kopf.

       »Sie sind gefährlich! Wenn sie ein einzelnes Mädchen hier draußen erwischen, dann Gnade ihr Gott.«

       Annie gefiel sein wölfisches Grinsen nicht. Obwohl er sie bestimmt nur erschrecken wollte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Im Grunde wusste sie nichts über ihre Schutzbefohlenen. Nur, dass sie ihnen gegenüber in der Unterzahl sein würde. Waren es nur Frauen und Kinder oder befanden sich auch Männer darunter?

       Dem Kerl war nicht entgangen, dass Annie blass geworden war. Er grinste zufrieden. »Keine Sorge, Süße, wir patrouillieren bis in die Nacht hinein am Fluss. Wenn du in Schwierigkeiten gerätst, sind wir zur Stelle.« Anzüglich fügte er hinzu: »Als Belohnung holen wir uns einen Kuss ab.«

       »Die Belohnung kannst du dir bei meinem Ehemann holen«, rief Annie den Burschen hinterher.

       Diese lachten nur, gaben ihren Pferden die Sporen und galoppierten davon. Annie rezitierte stumm die Ballade vom roten Haar, bevor sie den Kutschgaul wieder antraben ließ. Was die drei wohl mit ihr angestellt hätten, wenn sie geflüchtete Sklaven auf ihrer Ladefläche entdeckt hätten? Der Zeitungsartikel über Charley Sloo und Overton fiel ihr wieder ein und ihr wurde übel. Vergraben in Gedanken, übersah Annie beinahe den Schuppen, der sich hinter der vordersten Baumreihe in den Wald schmiegte. Sie war etwas zu spät dran. Die fünf Flüchtlinge würden bereits auf sie warten. Jetzt hieß es, so schnell wie möglich zurück nach Cincinnati zu kommen, bevor die Heimatschützer umdrehten und sie einholten!

       Annie lenkte die Kutsche zur Hütte; kletterte über die Tritte nach unten; wappnete sich für die Begegnung. Dann zog sie das windschiefe Tor auf und starrte ins Innere. Bis auf kniehohes Gras war der Raum gähnend leer. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Ihr würde nichts anderes übrigbleiben, als zu warten, zumindest bis zur Abenddämmerung. Kurzerhand führte sie das Pferd hinein. Als es die hintere Wand erreichte, stand die Kutsche noch halb im Freien. So schirrte Annie den Falben aus und schob das Gefährt über die Schwelle. Der Raum war bis auf den letzten Inch ausgefüllt. Der Gaul senkte den Kopf und begann mit Hingabe zu grasen. Unentschlossen machte Annie das Tor von innen zu und kletterte wieder auf den Kutschbock. Obwohl sie sich in eine Decke wickelte, die sie in der Kiste unter dem Sitzbrett fand, zog ihr die Kälte bald bis in die Knochen. Sie nahm ein Buch aus ihrer Tasche, konnte sich aber nicht auf die Worte konzentrieren und legte es wieder weg. Mit allen Sinnen versuchte sie, die Bretterwand zu durchdringen und zu erraten, was draußen vor sich ging. Kein Laut drang ins Innere. Schließlich sprang sie wieder auf. Sie musste wissen, was sich vor dem Schuppen abspielte, und sich beschäftigen!

       Annie stapfte in den Wald und sammelte trockene Zweige und Äste auf. Später konnte sie damit ihre heikle Fracht auf der Ladefläche bedecken und hätte gleichzeitig gegenüber Passanten den Vorwand, Feuerholz für die immer hungrigen Kamine in die Stadt zu liefern. Stetig wuchs der Stapel neben dem Tor. Wenigstens wurde ihr durch die Arbeit wieder wärmer. Den unzähligen Kratzern, die sich mittlerweile kreuz und quer über ihre Handrücken zogen, schenkte sie keine Beachtung.

       Die Schatten wurden länger. Erst als Annie zum wiederholten Mal stolperte, weil sie Wurzeln und Zweige auf dem Waldboden nicht mehr ausmachen konnte, gestand sie sich ein, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Hatte sie irgendetwas falsch verstanden? Wollte sie der Alte nur auf die Probe stellen? War etwas passiert?

       Sie beschloss, am Fluss Ausschau zu halten und dann zu entscheiden. Gerade trat sie aus dem Schutz der Bäume, da preschten die Heimatschützer in vollem Galopp heran. Annie drückte sich an den Baumstamm hinter ihr. Ihr Herz pochte. Wie sollte sie erklären, dass sie hier gerastet hatte? Was würden die Kerle mit den Flüchtlingen anstellen, wenn diese jetzt auftauchten?

       Aber die Männer ritten an ihr vorbei Richtung Stadt. Nur weil sie es so eilig hatten, hatten sie Annie nicht entdeckt. Das Mädchen atmete auf. Wenigstens musste sie die Unholde nicht mehr in ihrem Rücken fürchten. Sofern ihr die Heimatschützer nicht am Straßenrand auflauerten, war die Gefahr vorerst gebannt.

       Der Dunst über dem Wasser war mittlerweile undurchdringlich. Waren zuvor nur einzelne Nebelfahnen aufgestiegen, türmte sich das Grau jetzt mannshoch über dem schäumenden Nass. Von Menschen gab es weit und breit keine Spur. Annie lief am Ufer auf und ab, den Blick wie unter Zwang auf den Fluss gerichtet. Die Minuten verstrichen unendlich langsam und allmählich verwandelte sich der Abend in eine Vollmondnacht. In Annie wuchs der Verdacht, dass sie vergeblich wartete. Doch sie hatte schon zu viel riskiert. Aufgeben kam nicht infrage, solange noch der Hauch einer Chance bestand, dass die Flüchtigen es schaffen würden!

       Während der Mond über den Himmel wanderte, schob Annie den Moment ihrer Rückkehr immer wieder auf; weigerte sich einzugestehen, dass sie gescheitert war. Wind rüttelte an den Büschen. Irgendwo aus dem Wald rief ein Käuzchen.

       Zunächst nahm Annie das rhythmische Plätschern nur am Rande wahr. Zu oft schon war sie bei einem ungewohnten Laut aufgeschreckt, um dann festzustellen, dass zwei Eisschollen gegeneinander gekracht waren oder sich treibende Äste am Ufer verfangen hatten. Aber das Geräusch näherte sich. Annie verharrte, lauschte angespannt und starrte aufs dunkle Wasser hinaus.

       Nach und nach löste sich aus dem Nebel ein Umriss, der, getragen von der Strömung, nur ein paar Schritte flussabwärts von ihrer Position das Ufer erreichen würde. Jetzt konnte Annie


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