Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella
Fast hatte es das Ufer erreicht. Da schoss ein Baum samt Ästen und Wurzeln an Annie vorbei, auf das Gefährt zu. Noch während sie einen warnenden Ruf ausstieß, krachte der Stamm gegen die schutzlose Seite der Nussschale. Ein unheimliches Heulen hallte durch die Nacht. Dann kippte das Boot.
Die Flüchtlinge! Ohne zu zögern, warf Annie den Mantel ab und watete ins Wasser. Augenblicklich bohrte sich das eisige Wasser wie ein Dolch in ihre Glieder und betäubte sie. Nur eine Armlänge trennte sie von der nächsten zappelnden Gestalt. Um diese zu erreichen, musste Annie ihren sicheren Standpunkt aufgeben, sich noch weiter in die zerrenden Fluten wagen. Sie machte einen Schritt nach vorne und streckte den Arm aus, verlor den Boden unter den Füßen. Verzweifelt strampelte sie mit den Beinen. Annie konnte schwimmen, doch das Gewicht ihrer vollgesogenen Röcke zog sie wie eine Eisenkette nach unten. Ihre Hand stieß an einen treibenden Körper, packte ihn, ließ ihn nicht mehr los. Die zusätzliche Last riss an ihr, aber Annie lockerte ihren Griff nicht. Eine Welle schwappte über ihren Kopf. Sie schluckte modriges Wasser, schnappte nach Luft, hustete. Ihre Augen und Lungen brannten. Um sie war alles schwarz. Wo war das Ufer? Büsche! Dort vorne! Annie ruderte mit dem freien Arm darauf zu, während sie Stück für Stück abgetrieben wurde. Endlich spürte sie Grund. Mit letzter Kraft kämpfte sie sich die Böschung hinauf; zog das menschliche Gewicht hinter sich her; blieb liegen; rang nach Atem.
Erst nach einer Weile ließ das Zittern nach und Annie kroch zu der Geretteten. Die dunkelhäutige junge Frau atmete flach. Aber sie atmete immerhin. Annie kam auf die Füße und suchte die Umgebung ab. Hatten noch mehr Bootsinsassen das Unglück überlebt?
»Ist jemand hier?«, rief sie in die Dämmerung.
Außer dem Rauschen und Gurgeln vom Fluss hörte sie keinen Ton.
»Hallo?«, versuchte sie es erneut.
»Hier!«, erhielt sie endlich ein Echo.
Erleichterung durchflutete Annie und sie hastete auf die Stimme zu. Hinter einem Busch kauerten drei halb ertrunkene Gestalten. Eine grauhaarige Frau hielt ein Kleinkind und einen jungen Mann in fester Umarmung. Mit dunklen Augen blickten sie zu Annie auf. Babygeschrei wehte über das Wasser. Alle vier fuhren zusammen. Es kam von einer Stelle unweit des Ufers, an der sich Treibholz gestaut hatte. Der fünfte Passagier. Noch bevor einer von ihnen reagieren konnte, stürzte ein Schatten an ihnen vorbei und warf sich erneut in die Fluten. Die junge Frau, die Annie gerettet hatte, musste die Mutter des Babys sein.
Annie und der Bursche rannten ihr hinterher, während sich die Frau in den Wogen am schaukelnden Holz nach vorne hangelte. Jetzt erreichte sie das schreiende Bündel. Gleichzeitig sprangen Annie und der junge Mann ins Wasser. Sie suchten und fanden den Augenkontakt, dann fassten sie sich an den Händen. Annie sicherte ihn und er tastete sich weiter in den Strudel hinein. Fast kamen Mutter und Kind in die Reichweite seines ausgestreckten Arms. Da löste sich das Treibholz mit einem Ruck. Mit letzter Kraft schob die Frau ihr Baby noch ein Stück nach vorne und der Bursche bekam es zu packen. Ein dicker Ast wirbelte vorbei und donnerte gegen die Stirn der jungen Frau. Ohne einen Laut von sich zu geben, versank sie in den Fluten. Fassungslos starrte Annie auf das tosende Wasser, aber die Frau tauchte nicht mehr auf.
Wieder an Land, folgte der junge Mann dem Ufer flussabwärts. Schon bald kehrte er zurück, schüttelte traurig den Kopf und drückte das Baby an seine Brust.
»Es ist zu spät.« Seine Stimme klang tief und melodisch.
Die Grauhaarige schluchzte auf. Er trat auf sie zu und nahm sie und das Kind in den Arm.
Annie blinzelte ihre Tränen weg. Wie groß musste das Elend dieser Menschen auf der anderen Seite gewesen sein, wenn sie die Flucht in jener Nussschale als bessere Alternative betrachtet hatten? Und noch hatten sie es nicht einmal bis nach Cincinnati geschafft!
12 Nick – 21. Dezember 1863
N och vor dem Morgengrauen flüchtete ich aus dem Haus. Auf keinen Fall wollte ich dem Reverend, der in Andrews Bett vor sich hin schnarchte, beim Frühstück begegnen. Nach den Erlebnissen der letzten Woche musste ich allein sein.
Ich hasste jeden Tag, an dem ich in unseren vier Wänden eingesperrt war. Es war Zeit, endlich etwas zu unternehmen! Hoffnung flatterte in meiner Brust wie ein Vogelküken, das gerade flügge wird. Ben hatte Daisy gesehen! Wenn ich es schaffen würde, meinen Hengst einzufangen, konnte ich mich um Freddy Johnson kümmern und vielleicht auch den kläglichen Rest der Ranch erhalten.
Im Hinausgehen schob ich mir einen Kanten Brot und ein gekochtes Ei in meinen Beutel. Ich plante, nicht vor der Abenddämmerung zurück zu sein. Draußen war es kalt und ich zog Vaters Mantel fester um mich. Der Schecke war behelfsmäßig im verwaisten Hühnerhaus untergebracht. Schnell sattelte ich ihn und stieg auf. Sobald die Ranch hinter einer Bodenwelle verschwand, ging die Ruhe des Tieres auf mich über. Wie sehr hatte ich es vermisst, auf dem Pferderücken über das Land zu streifen!
Ich begann meine Suche in der unmittelbaren Umgebung. Mein Plan war, die Ranch einmal zu umkreisen und mich dann spiralförmig nach außen zu arbeiten. Wenn Daisy tatsächlich mehrmals in Sichtweite aufgetaucht war, entdeckte ich vielleicht seine Spuren. Dann musste ich diesen nur noch folgen und hoffen, dass sich mein Hengst nicht zu weit entfernt hatte. Daisy war mein einziger Freund. Wenn auch nur der Krümel einer Möglichkeit bestand, ihn wiederzufinden, konnte ich ihn nicht aufgeben.
Vor knapp vier Jahren hatte ich Daisy verletzt und von seiner Herde zurückgelassen auf der Prärie gefunden. Damals war er schon kein Jungtier mehr gewesen. Eine Wolfsmeute hatte seine Seite aufgerissen und er war zu schwach gewesen, um auf die Beine zu kommen. Lange Wochen hatte ich ihn gepflegt, bis seine Wunden geheilt waren. Nach und nach hatte ich sein Vertrauen erlangt. Seitdem war er mir ein treuer Begleiter.
Als die Sonne ihre ersten Strahlen über die Ebene warf, startete ich meine Suche auf der Erhebung, von der aus ich den Überfall beobachtet hatte. Meinen Blick auf den Boden gerichtet, ließ ich den Schecken zügig einen weiten Kreis traben, in der Hoffnung, sehr bald auf die gesuchten Hufspuren zu stoßen. Nach einer halben Stunde langte ich wieder am Hügelkamm an, ohne fündig geworden zu sein. Selbst die Abdrücke, die Daisy auf seiner Flucht hinterlassen hatte, konnte ich auf dem felsigen Untergrund nicht mehr ausmachen, und auch keinen Hinweis, dass fremde Männer hier gewesen waren. Die einzigen Anzeichen von Menschen oder Pferden stammten von der Kutsche des Reverends.
Für die nächste Runde entfernte ich mich aus der Sichtweite der Ranch und ließ mir mehr Zeit. Zunächst kam ich gut voran, während ich mit der Sonne im Rücken nach Westen ritt. Dann tauchte das Dornengestrüpp vor uns auf, in dem sich unsere Rinder früher vor den Cowboys versteckt hatten. Sich durchzukämpfen, hatte keinen Sinn – auch Daisy würde die Stacheln meiden – und so folgte ich den Ausläufern bis auf die andere Seite.
Jetzt schien mir die Sonne ins Gesicht. Vor meinen Augen tanzten schwarze Punkte. Im gleißenden Licht gingen alle Formen ineinander über, sodass ich nicht sicher sagen konnte, ob da wirklich Abdrücke im Gras waren oder mir meine Fantasie nur etwas vorgaukelte. Ich zog am Zügel und blinzelte mehrmals, aber auch dann verschwand die Fährte nicht. Mit klopfendem Herzen stieg ich ab, kniete mich auf die Erde und untersuchte die Eindrücke, die kaum sichtbar vor den Hufen des Schecken unseren Weg kreuzten. Sie stammten sicher nicht von Hufeisen, sondern viel eher von einem einsamen Hirsch. Danach entdeckte ich noch mehrmals Spuren von Großwild und Kaninchen, jedoch keine Hufabdrücke von Pferden.
Die vor Reif glitzernden Wiesen lagen verlassen da und ich war das einzige Lebewesen weit und breit, wenn ich den braven Schecken nicht mitzählte. Während ich von einer Bodenwelle in die nächste Senke ritt, holte ich meine Tonpfeife aus dem Beutel und steckte sie mir in den Mundwinkel. Statt echtem Tabak hatte ich nur Schilfgras, um sie zu stopfen, aber das war ich seit langem gewöhnt. Genussvoll inhalierte ich den beißenden Rauch und entspannte mich. Die Vorstellung, wie Mary die Augen verdrehen würde, wenn sie mich so sähe, ließ mich schmunzeln.
Plötzlich brach der Schecke durch das dünne Eis, das den Grund bedeckte und versank bis zum Bauch im Matsch. Um ein Haar wäre ich aus dem Sattel gerutscht. Meine Pfeife ging aus und ich fluchte verhalten. Steifbeinig stieg ich ab und kämpfte mich zu Fuß durch den Morast. Zwar hatte es das Pferd ohne Reiter leichter,