Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella

Die Brücken zur Freiheit - 1864 - Christine M. Brella


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angespannt und hob ebenfalls die Hand. Dann versperrten Häuser ihr die Sicht.

       Langsam ließ das Mädchen den Arm sinken. Diesmal war sie blind für das bunte Treiben auf der Straße. Sie musste eine Entscheidung treffen. Sollte sie Mr. Curtis in ihren Plan einweihen? Würde er sie unterstützen? Andernfalls musste sie ihn so zügig wie möglich loswerden. Sie konnte nicht einfach mit fünf entlaufenen Sklaven durch Cincinnati marschieren. Wenn die Flüchtlinge erkannt wurden, waren sie schneller aufgeknüpft oder ihrem Eigentümer zurückgebracht, als Annie ›Abolitionismus‹ sagen konnte. Zwar wurden Flüchtige nicht mehr an den Süden ausgeliefert, wie das noch zu Kriegsbeginn üblich gewesen war, doch der Fugitive Slave Act von 1850 war nach wie vor offiziell in Kraft und bestimmte, dass flüchtige Sklaven wieder in die Hände ihrer Besitzer gegeben werden mussten, egal, in welchem Staat sie aufgegriffen wurden. Und Kentucky hatte sich zwar dem Norden angeschlossen, aber Sklavenhaltung war dort, anders als in den Staaten nördlich des Ohio River, nicht verboten. Es barg eine gewisse Ironie, dass Präsident Lincoln nach der Schlacht bei Gettysburg im letzten Jahr zwar allen Schwarzen der verfeindeten Südstaaten die Freiheit geschenkt hatte, nicht aber denen im Norden. Floh ein Sklave aus Kentucky, hatte sein Besitzer das Recht, ihn zu verfolgen. Besser, Annie transportierte ihre Fracht auf der Ladefläche einer Kutsche versteckt.

       Dazu kam die Entfernung. Annie kannte sich in der Gegend nicht aus, da sie während ihrer ganzen Zeit in Cincinnati die Stadt nie verlassen hatte. Der präzisen Beschreibung aus dem Brief zufolge befand sich der Schuppen jedoch sieben Meilen flussabwärts. Das bedeutete einen dreistündigen Fußmarsch. Weder konnte sie ihr Gepäck eine so weite Strecke tragen noch es irgendwo zurücklassen. Wahrscheinlich würde sie es dann nie wiedersehen. Nein! Sie benötigte die Kutsche mit oder ohne den Kutscher!

       »Mr. Curtis, da gibt es etwas, das ich Sie fragen muss …«

       Der Alte brummte als Antwort und starrte weiter auf die Straße. Zwar war die Reaktion nicht besonders ermutigend, aber so schnell ließ Annie sich nicht abwimmeln.

       »Der Krieg, Sir, finden Sie, der ist gerechtfertigt?«

       Jetzt sah er doch zu ihr herüber und durchbohrte sie mit seinem schwarzen Blick. Er hatte eine Narbe an der rechten Braue und das Lid darunter hing zur Hälfte über das Auge. Annie wusste jedoch, wie sanft er mit Tieren umging, und hatte schon oft miterlebt, wie der alte Kauz seine knurrige Art bewusst ausspielte. Damit hielt er lästige Lehrerinnen und Schülerinnen gleichermaßen auf Abstand. Nur bei Annie machte er eine Ausnahme, seit er sie kurz nach ihrer Ankunft vor so langer Zeit im Stall entdeckt hatte. An den Hals des Kutschgauls hatte sie sich geklammert und geschluchzt – aus Heimweh nach der Ranch und ihrer Stute Midnight Maiden und aus Einsamkeit, weil ihr Vater zugelassen hatte, dass ihre neue Stiefmutter sie von seiner Seite verdrängte. Mr. Curtis hatte ihr ruhig zugehört und geduldet, dass sie immer wieder zu ihm in den Stall schlüpfte und in der vertrauten Umgebung Trost fand. Gegen alle Konventionen waren sie stille Freunde geworden.

       »Wie meinen Sie das, Miss?«, fragte er jetzt schleppend.

       Annies Gedanken rasten. Wie konnte sie seine Einstellung in diesem Punkt herausfinden, ohne zu viel zu verraten?

       »Ich spreche von der Sklaverei. Letzten Endes wird dieser Krieg doch für deren Abschaffung ausgetragen?«

       Er lachte rau auf. »Kleine, glaubst du im Ernst, jemand würde für Sklaven einen Krieg führen? Wie immer im Leben dreht sich alles ums Geld. Merk dir das! Die im Süden nutzen die armen Teufel aus für die knochenharte Arbeit auf den Plantagen. Gleichzeitig hätten sie gerne niedrige Ausfuhrzölle, damit sie Tabak, Baumwolle und Reis günstig nach Europa exportieren können. Wir im Norden brauchen aber hohe Einfuhrzölle, damit unsere junge Industrie gegen Großbritannien, Frankreich und den Deutschen Bund konkurrieren kann. Beides geht nun mal nicht. Da spielt die Alte Welt auf Dauer nicht mit.«

       Das Mädchen starrte den Alten an. Dieser steckte seelenruhig seine Pfeife an und schob sie sich in den Mundwinkel. Annie hätte ihm weder eine so lange Rede zugetraut noch eine derart unkonventionelle Analyse der Hintergründe dieses verfahrenen Bruderkrieges. Wichtiger noch: Er bewies Mitleid mit den schwarzen Feldarbeitern.

       »Mr. Curtis, was ich Sie eigentlich fragen wollte …«

       Er zog an den Zügeln und brachte das Pferd zu einem abrupten Halt. Verwirrt sah Annie auf. Ein breitschultriger Schwarzer hinkte von der Straße. Um ein Haar wäre er unter die Räder gekommen. Sein Blick war gehetzt, seine Kleidung so fadenscheinig, dass an manchen Stellen die Haut sichtbar war. Der derbe Fluch des Kutschers ließ Annie erröten.

       »Ich wünschte, die im Süden würden ihre Sklaven anständig behandeln! Dann würde das schwarze Gesindel daheimbleiben und uns hier nicht die Arbeitsplätze wegnehmen! So viele Bettler hat es in der Stadt noch nie gegeben. Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich sie nicht mehr ohne männlichen Schutz auf die Straße lassen!«

       Annie klappte den Mund zu. Deutlicher hätte Mr. Curtis seinen Standpunkt nicht vertreten können. Sie musste ihm die Kutsche abnehmen, und sie wusste auch schon wie.

      Der Bahnhof der Kentucky Central Railroad befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Ohio River in Covington. An Cincinnati war er durch eine Fähre angebunden. Auf dem Fluss wogten Eisschollen, doch die Ufer waren eisfrei. Unzählige Boote und Raddampfer hatten im Hafen geankert, um Passagiere und Waren anzuliefern und aufzunehmen.

       Trotz der regen Geschäftigkeit ging es jetzt ruhiger zu als im Sommer, wenn hier Schiff an Schiff lag und ein lautstarkes Chaos herrschte. Dann schrien Menschen einander zu, stolperten über Gepäck und gelöschte Schiffsladungen und handelten Geschäfte aus. Mrs. Hodgers hätte einen Herzinfarkt erlitten, wenn ihr bekanntgeworden wäre, dass ihr Schützling es liebte, sich in diesem bunten Strudel treiben zu lassen, Familien, Seeleute, Hafenarbeiter und Soldaten aller Hautfarben zu beobachten und sich dabei ihre Geschichten auszumalen. Eines Tages würde sie selbst an Bord eines Ozeanseglers gehen und Asien, Europa oder Afrika bereisen. Davon träumte Annie, seit ihr ihre Mutter als kleines Mädchen von all diesen exotischen Orten vorgelesen hatte.

       Zwischen den zivilen Schiffen waren Kanonenboote vertäut, jederzeit bereit, den Feind an der Überquerung des Ohios zu hindern oder Nachschubtruppen flussaufwärts oder flussabwärts zu schaffen. Wie wohl die Flüchtlinge gedachten, den breiten Strom zu überqueren? Für die Brücke hinüber nach Kentucky war aus Geldnot ein Baustopp verhängt worden, und die Entflohenen konnten auch schlecht an einer Fährstation um Überfahrt bitten. Mrs. Hodgers hatte im Unterricht geschildert, wie einigen Sklaven zu Fuß die Flucht über das Eis des Ohio gelungen war, als der Fluss 1856 von einem Ufer bis zum anderen zugefroren war. Daran war in diesem Winter nicht zu denken. Schwimmen zog Annie erst gar nicht in Betracht, da kein Mensch lange genug im Eiswasser überleben würde.

       Im Grunde konnte es ihr einerlei sein, wie die Überquerung vonstattenging. Ihre Aufgabe bestand nur in der Lieferung der ›Gepäckstücke‹ vom Fluss in die Stadt. Morgen würde Annie Cincinnati verlassen und der ganzen Aufregung den Rücken kehren.

       Inzwischen war die Kutsche in die Straße zur Fähre eingebogen. Der Verkehr war hier dichter und sie kamen nur noch langsam voran. Mehrere Wagen warteten, am Ableger aufgereiht, auf Fahrgäste. Die Fahrspur war durch Reiter, Fußgänger und Pferdegespanne blockiert. Weinende Mütter schlossen junge, zerlumpte Soldaten in die Arme, die wohl ebenfalls Weihnachten zu Hause verbringen durften und auch weinten oder sich verlegen umblickten. Ein elegantes Ehepaar, dessen vier Kinder den Eltern wie Orgelpfeifen folgten, wollte vielleicht Weihnachten bei Verwandten feiern, denn hinter ihnen schleppten Diener unzählige Taschen und Koffer durch das Gewimmel zum Pier. Annies Blick blieb an einem grauhaarigen Veteranen oben am Steg hängen, der sich zwei hölzerne Krücken unter die Achseln geklemmt hatte. Sein rechtes Hosenbein war leer und nach oben gerollt. Zweifelnd blickte er auf die wenigen Tritte hinunter zur Straße, die ein schier unüberwindliches Hindernis darstellten. Nach einiger Zeit setzte er einen Stock auf die erste Stufe, zitterte dabei aber so stark, dass Annie nicht länger zusehen konnte.

       »Mr. Curtis, seien Sie bitte so gut und helfen Sie dem armen Mann dort oben.« Sie hoffte, dass der Kutscher die Anspannung in ihrer Stimme nicht bemerkte. Ihr Plan hing zum großen Teil davon ab, dass Mr. Curtis vor ihr von der Kutsche stieg. Je weiter er sich entfernte, desto besser standen ihre Aussichten.

      


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