Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella
anschwillt. Gerade noch lebendig genug, um kriechen zu können, darf sich der Sklave von seinen Wunden erholen, wenn er kann, oder seine Leiden durch den Tod beenden.
Charley Sloo und Overton, zwei Hilfsarbeiter, wurden beide durch diese grausame Folter ermordet. Sloo wurde zu Tode gepeitscht und starb an den Folgen kurz nach der Bestrafung. Overton wurde nackt auf sein Gesicht gelegt …«
Tränen bannten in Annies Augen und sie konnte nicht weiterlesen. Ungläubig starrte sie auf die Zeilen. Warum wurde etwas so Grausames gedruckt? Menschen wurden hier schlechter behandelt als jedes Tier! Wie konnte es sein, dass ein Sklavenbesitzer derartige Willkür walten lassen durfte und dabei durch das Gesetz geschützt war? Immerhin befand sie sich in Amerika, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts! Wie konnten die Südstaatler stolz auf ihre Freiheit sein und gleichzeitig ihre Wirtschaft auf einem System der Sklaverei begründen?
Zu Hause in Kentucky waren Sklaven ein fester Bestandteil der Gesellschaft, den sie nie hinterfragt hatte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass hier im Staat Ohio das Alltagsleben auch ohne Sklaven wunderbar funktionierte. Natürlich gab es auch hier Schwarze, doch die lebten in ihren Vierteln mit eigenen Kirchen, Schulen und Läden, die kaum je ein Weißer betrat. Heute hatte sie das erste Mal mit einem von ihnen gesprochen. Wie es dem Kleinen wohl ging?
Bis jetzt hatte Annie diese Abolitionisten, wie sich die Leute nannten, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten, belächelt. Sollten sie doch singend und Banner schwingend durch die Straßen ziehen. Meinten sie wirklich, sie konnten damit auch nur einen Sklavenhalter zum Umdenken bewegen?
Doch nach dem Vorfall heute verlieh es ihr ein beruhigendes Gefühl, dass Menschen wie der kauzige Alte existierten, die sich um entlaufene Sklaven kümmerten. Im Grund konnte sie sich vorstellen, sich irgendwann für Flüchtlinge zu engagieren. Aber gerade jetzt hatte sie keine Zeit. Sie musste sich dringend auf ihre Prüfungen konzentrieren und Geschenke für Weihnachten besorgen.
Entschlossen wischte sich Annie die Tränen ab, steckte den Zeitungsbericht hinten in ihr Schulbuch, schlug ›Die Fibel der Ökonomie‹ an der eingemerkten Stelle auf und vertiefte sich in die Abwicklung von Kaufverträgen.
6 Nick – 13. Dezember 1863
E ndlich erwachte ich aus meiner Erstarrung; sprang auf; rannte den Hügel hinunter. Meine Tränen ließen den Hang vor mir verschwimmen. Ich strauchelte; fing mich im letzten Moment; rieb mir unwirsch über die Augen; hastete weiter. Als ich den Stall erreicht hatte, leckten Flammen aus dem Dach; der schwarze Rauch türmte sich darüber. Die erstickten Hilfeschreie meiner Schwester waren in Husten und Keuchen übergegangen. Aber sie lebte! Wie stand es um Ma und Ben?
Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich mit zitternden Fingern den Riegel zurückgeschoben hatte. Gerade noch konnte ich zur Seite springen, als eine Kuh nach draußen stürmte, die Augen in Panik verdreht. Das Feuer war im vorderen Teil gelegt worden, in den Boxen mit Heu und Werkzeugen. Die Luft war zum Schneiden dick. Ich zog mein Hemd nach oben über Mund und Nase und trat in das Flammenmeer.
Sofort spürte ich die sengende Hitze auf der Haut. Meine Augen brannten und tränten. Ich musste den Drang, sie fest zuzukneifen, mit Gewalt unterdrücken und stolperte halb blind vorwärts. Meine Lippen wurden trocken und rissig und ich hustete unkontrolliert. Trotzdem drang ich weiter vor.
»Wo seid ihr?«, rief ich erstickt und musste erneut husten.
Zum Glück waren die Pferde nicht im Stall! Ich schüttelte mechanisch die Funken von meinem Hemdsärmel; ignorierte den brennenden Schmerz. Einer Eingebung folgend, stieß ich die Tür zu Delilahs Krankenlager auf. Tatsächlich stand der Eimer mit Milch noch fast voll mitten im Raum. Ich packte ihn und kehrte auf dem Absatz um. In einem Funkenregen krachte ein Balken vom Dachstuhl neben mir zu Boden, verfehlte mich nur knapp. Nur weiter. Weiter. Ein beißender Geruch nach verbrannten Haaren und angesengter Haut ließ mich keuchen. Langsam sickerte ein Gedanke in mein Bewusstsein: An einem einzigen Tag hatte ich meine halbe Familie getötet. Hoffnungslos schluchzte ich auf. Aber es kamen keine Tränen mehr. Meine Augen waren ausgetrocknet.
Nach endlosen Minuten hörte ich wieder Husten. Mindestens einer von ihnen lebte noch! Was war mit den anderen? Ein neuer Schluchzer entrang sich meiner schmerzenden Kehle. Mit wackligen Beinen hastete ich weiter. Es kam von der Kutsche, die in der letzten Ecke des Stalls noch nicht von den Flammen erfasst worden war. Sie wurde fast verhüllt von schwarzem Qualm. Nur noch wenige Minuten, dann würde auch sie ein Opfer des Feuers werden. Meine Haut brannte und spannte unerträglich. Ich taumelte auf die Kutsche zu; erklomm über ein Wagenrad die Ladefläche; zerrte den Eimer hinter mir her.
»Nicky?« Ma starrte mir mit rußgeschwärztem Gesicht entgegen.
Sie waren alle drei da. Die beiden Frauen hatten Ben in ihre Mitte genommen. Mit einer Decke schützten sie sich vor herabregnenden Funken, wagten es aber nicht, ihre Zuflucht zu verlassen. Warum auch? Sie wussten, dass das Tor von außen verrammelt war. Es gab keinen Weg nach draußen.
»Wir …« Meine Stimme versagte. Vermutlich hätten sie mich im Getöse und Poltern eh nicht gehört. So tauchte ich wortlos die Decke in den Milcheimer und wickelte sie fest um Ben.
Der kleine Junge hielt still, erstarrt angesichts der Hölle, in die er geraten war. Danach tränkte ich die Schultertücher der beiden Frauen. Sie verstanden, was ich vorhatte, und schlangen sich jede ihr Tuch über Kopf und Schultern. Am Ende blieb gerade genug Flüssigkeit übrig, um mein Hemd vorne anzufeuchten. Hoffentlich konnte ich so wenigstens besser atmen. Wir durften keine Zeit verlieren! An den Vorderrädern züngelten Flammen empor. Wir mussten hier raus! Bevor die Tücher getrocknet waren und die Dachkonstruktion so angenagt war, dass sie in sich zusammenfiel.
Wir halfen uns gegenseitig beim Hinunterklettern und stürzten uns in den Glutofen. Charlotte setzte sich an die Spitze. Sie hielt sich einen Arm vor das Gesicht; suchte uns einen Weg über qualmende Balken in Richtung Tor. Ma folgte mit Ben an der Hand. Ich bildete die Nachhut.
›Wir müssen es schaffen. Wir müssen es schaffen.‹ Mein Kopf fühlte sich seltsam leicht an. Das Inferno um mich herum wie ein Traum. Ein Funke setzte sich auf meinen Handrücken; fraß ein Loch hinein. Ich brauchte unendlich lang, bis ich ihn fortwischte. Warum legte ich mich nicht einfach hin und ruhte mich aus? Nur für einen Moment.
Ein ohrenbetäubendes Quietschen und Knacken ertönte. Der Stall stürzte ein! Entsetzen packte mich und ich schob Ma weiter. Nur noch ein paar Schritte bis zum Ausgang. Charlotte erreichte das Tor und schlüpfte nach draußen. ›Wir müssen es schaffen!‹ Mit letzter Kraft packte ich Ma am Arm und zog sie und Ben ins Freie.
Als ich mich umsah, war der Stall verschwunden. Stattdessen schickte ein riesiger Scheiterhaufen seine Flammen in den grauen Nachmittagshimmel. Es hatte wieder begonnen zu schneien. Erschöpft ließ ich mich zu Boden fallen und schloss die Augen. Was habe ich getan, war mein letzter Gedanke, bevor ich das Bewusstsein verlor.
7 Annie – 17. Dezember 1863
V oller Tatendrang erwachte Annie vor allen anderen Schülerinnen im Schlafsaal. Bibbernd sprang sie aus dem warmen Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und warf sich einen Mantel über das Nachthemd. Der Lokus draußen hinter dem Haus war noch ein Schatten in der beginnenden Morgendämmerung. Trotz der schneidenden Kälte und der Feuchtigkeit, die durch die Schuhe an ihre Zehen drang, zog das Mädchen diesen Ort der Bettpfanne vor. Sie verabscheute den entwürdigenden Moment, wenn man am Morgen die stinkende Brühe aus Kot und Urin schwappend die Treppe hinunterbefördern musste. Der Deckel schützte zwar vor dem Anblick, bildete aber keine wirkungsvolle Barriere gegen den beißenden Gestank.
Auf dem Rückweg füllte Annie mit klammen Fingern ihren Eimer am Brunnen und schleppte ihn die Stufen hinauf in den Waschraum. Mittlerweile waren auch die anderen Mädchen auf den Beinen und es herrschte ein munteres Durcheinander.
»Annika, könntest du mir bitte kurz helfen?« Hilfesuchend blickte Loreley ihrer Freundin über die Schulter entgegen.
Sofort stellte Annie den Eimer ab und zog Loreley die Bänder ihres Mieders straff im Rücken zusammen. Sie musste nicht