Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella

Die Brücken zur Freiheit - 1864 - Christine M. Brella


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setzte eine Sekunde lang aus. Dann ließ ich die Zügel des Schecken los und begann zu rennen.

      3 Annie – 13. Dezember 1863

      E in Knall durchbrach die eisige Ruhe des Dezembernachmittags. Die Gestalt, die eben auf Zehenspitzen durch den Dienstboteneingang der Schule für höhere Töchter ins Freie geschlüpft war, zuckte zusammen, blickte sich hastig um und zog die Kapuze ihres Mantels tiefer ins Gesicht. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. So erreichte die Vermummte unbehelligt das schwere Eisentor zur Straße, glitt durch den Spalt und verschwand aus der Sichtweite des Herrenhauses. Nur die Spuren im frisch gefallenen Schnee zeugten davon, dass sie da gewesen war.

      Annika Bailey atmete erleichtert aus, als sie zwischen den Häusern in die Gassen Cincinnatis eintauchte, und schob eine kohlschwarze Locke, die sich frech aus ihrem Knoten gelöst hatte, zurück unter die Kapuze. Wieder einmal war sie den strengen Augen von Mrs. Hodgers entkommen, die über die vierzig Schülerinnen wachte, wenn kein Unterricht stattfand. Jetzt musste sie nur noch vor dem Abendessen zurück sein und in der Stadt niemandem begegnen, der sie kannte.

       Es waren deutlich weniger Menschen als normalerweise auf der Straße, die ohne Ausnahme dick eingehüllt ihrem Ziel entgegenhasteten. Keiner achtete auf die junge Frau, die mit einem Korb bewaffnet das Militärlager der Unionisten am Stadtrand ansteuerte. Viel hatte sie in dieser Woche nicht vom Tisch abzweigen können. Unter ihrem Tuch befanden sich zwei Äpfel, frisch gebackenes Weißbrot, ein Stück Hartkäse und ein Wurstzipfel, den sie der Köchin hatte abschwatzen können. Annie hoffte, mit den Köstlichkeiten die Zungen der Soldaten etwas zu lockern. Vielleicht erhielt sie so endlich Neuigkeiten von der Front!

       Belustigt beobachtete die Fünfzehnjährige einen Mann mit schwarzem Spitzbart, dessen Besorgungen so hoch auf seinen Armen gestapelt waren, dass sie seine fliehende Stirn gut zwei Fuß überragten. Entfernt kam ihr sein Gesicht bekannt vor, doch sie konnte sich nicht entsinnen, woher. Der Mann schaffte es kaum, um seine Ladung herumzuspähen. So kollidierte er mehrmals mit anderen Passanten und entschuldigte sich jedes Mal wortreich. Gerade steuerte er auf eine junge Mutter zu, die auf dem einen Arm einen Säugling balancierte und mit dem anderen einen heulenden Buben hinter sich herzog. Im letzten Moment verhinderte sie den Zusammenstoß mit einem Sprung zur Seite und schimpfte dem Mann hinterher. Vor Schreck hatte ihr Sohn aufgehört zu weinen. Doch kaum war die Gefahr vorüber, fing er mit doppelter Lautstärke erneut an.

       Anders als alle anderen hatte es Annie nicht eilig. Die strenge Temperatur störte sie nicht, hatte sie doch, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, gerne Zeit im Freien verbracht. Sie hob den Kopf und inhalierte den Nachmittag in Freiheit.

       Obwohl sie die ständige Bevormundung schwer zu ertragen fand, liebte Annie die Schule in der Stadt. Sie genoss ein seltenes Privileg, indem sie eine umfangreiche Ausbildung in Geschichte, Latein, Rhetorik, Algebra, Logik und Naturphilosophie erhielt. Eines Tages würde sie eine der wenigen Frauen sein, die über ihr eigenes Leben bestimmen konnten. Sie grinste.

       Ihre feine Stiefmutter ging wie selbstverständlich davon aus, dass Annie eine normale Mädchenschule besuchte und ausschließlich in Etikette, Literatur und Französisch unterrichtet wurde. Geschah ihr ganz recht! Immerhin hatte Theresa sie vor drei Jahren eigenhändig in das Internat im hundert Meilen entfernten Cincinnati abgeschoben. Natürlich war es ihr primär darum gegangen, Annie aus dem Weg zu schaffen. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, dem Institut selbst einen Besuch abzustatten.

       Warum nur hatte Annies Vater ein zweites Mal heiraten müssen? Und dann auch noch eine so überzüchtete Schönheit aus den Südstaaten? Eine, die lediglich neun Jahre älter war als seine Tochter! Wenn Annie auch nur an die wippenden blonden Korkenzieherlocken ihrer Stiefmutter dachte, überkam sie das Bedürfnis, Kletten zu sammeln und jemandem in die Haare zu hängen. So, wie sie das früher bei Theresa immer gemacht hatte.

       Vielleicht hoffte ihre Stiefmutter auch, dass man Annie an der Schule Manieren beibrachte und man sie zu einer ebenso stocksteifen Lady erzog, wie sie selbst eine war. Wer wusste das schon so genau? Seit drei Jahren hatte Annie ihre Heimat nicht mehr gesehen, da kurz nach ihrer Ankunft in Cincinnati der Krieg zwischen den Staaten ausgebrochen war. Kentucky lag im Grenzgebiet zwischen den Kontrahenten und Annies Vater hatte bestimmt, dass es für sie sicherer war, weiter nördlich zu bleiben.

       Annie war froh darüber! Viel lieber war sie an ihrer geliebten Schule, statt täglich Gefechte mit Theresa auszutragen. Welch glückliche Fügung, dass sie in Cincinnati ausgerechnet an das Institut gekommen war, das die Revolutionärin Miss Catherine Beecher gegründet hatte! Diese beschritt neue Wege in der Erziehung junger Frauen und kämpfte für eine angemessene Bildung für die künftigen Mütter der Nation. Nur Politik wurde als männliche Domäne betrachtet und stand nicht auf dem Stundenplan. Annie zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. Politik ging jeden an. Natürlich fochten nur Männer im Krieg – aber auch Frauen waren unmittelbar davon betroffen. Warum sollten sie nicht die Hintergründe der Gewalt kennen, die ihr Leben zerstören konnte?

       Jeden Tag hoffte Annie, dass die bornierten Südstaatler einsahen, dass eine Demokratie aus Kompromissen bestand – und sorgte sich um ihren Vater. Seit Kriegsbeginn hatte sie ihn nur einmal gesehen, nämlich als sein Regiment bei Cincinnati gelagert hatte. Aber jetzt musste er lediglich noch ein paar Monate durchhalten! Wie die meisten hatte er sich für drei Jahre verpflichtet und diese liefen im April aus. Dann würde er endlich nicht mehr in Lebensgefahr schweben und sie wieder ruhig schlafen können.

       Colonel Bartholomew Bailey war in die Heimat Kentucky abkommandiert. Seit Wochen hatte Annie keine Nachricht über ihn oder seine Einheit bekommen können. Sie beruhigte sich damit, dass Kentucky zurzeit nicht im Fokus der Kämpfe stand. Aber das konnte sich im Nu ändern.

       Selbst Cincinnati war nicht sicher. Vor fünf Monaten war der gegnerische General Morgan mit zweitausendfünfhundert Mann in den Norden bis hier vorgestoßen und hatte die Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Die Zeitung nannte ihn zu Recht ›den Donnerkeil‹. Annies Vater und seine Einheit hatten die Gefahr gebannt und Morgan mit einem Teil seiner Männer gefangen genommen!

       An einer Straßenecke kramte das Mädchen ein paar Münzen aus ihrem Beutel und kaufte einem Zeitungsjungen mit übergroßer Schiebermütze die Sonntagsausgabe ab. Sie warf einen Blick darauf und schob sie dann in den Korb. Daheim würde sie ihren Schatz in ihrem Versteck herausholen und genüsslich die Nachrichten aus der echten Welt verschlingen, die sonst nur tröpfchenweise und gefiltert zu den behüteten Schülerinnen durchdrangen.

      Annie näherte sich dem Stadtrand. Die Häuser wurden niedriger und waren häufiger aus Holz statt aus Stein gebaut. Aus allen Schornsteinen stieg dichter Rauch. Dessen würziger Geruch legte sich auf die Stadt und die bleiche Wintersonne drang wie durch einen Schleier in die düstere Gasse.

       Plötzlich registrierte Annie Tumult am Ende der Straße. Beim Näherkommen richteten sich ihre feinen Härchen im Nacken auf. Eine Gruppe aus fünf oder sechs Burschen hatte einen Kreis gebildet. Sie malträtierten johlend irgendeine Kreatur in ihrer Mitte. Immer wieder löste sich einer aus der Runde und vollführte im Zentrum einen schwankenden Tanz, während die anderen die Lücke sofort schlossen. Sie boten ihrem Opfer keine Möglichkeit zur Flucht. Hatte eine bedauernswerte Ratte das Pech gehabt, der Bande in die Hände zu fallen?

       Die Halbstarken mochten knapp jünger sein als Annie, und der guten Kleidung nach zu urteilen waren es allesamt Sprösslinge von bessergestellten Handwerkern. Sie hatten bestimmt nur Flausen im Kopf und fühlten sich in der Gruppe unbesiegbar.

       Während die spärlichen anderen Passanten in großem Abstand die Straßenseite wechselten und demonstrativ auf den Boden oder in die Luft starrten anstatt auf die Jugendlichen, näherte sich Annie rebellisch dem Geschehen. Sie sah gar nicht ein, einen Umweg in Kauf zu nehmen und im Straßenmatsch aus Staub, Schnee und Pferdeäpfeln ihre Schuhe zu beschmutzen.

       Da setzte ein unheimliches Heulen ein und ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Hatten diese Wüstlinge einen streunenden Hund in der Mangel? Annie beschleunigte ihre Schritte, und obwohl die langen Röcke sie ausbremsten, erreichte sie die Gruppe in wenigen Augenblicken. Über die Schultern der lachenden und grölenden Jungen warf sie einen Blick auf deren Opfer.

      


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